Vor nunmehr 50 Jahren wandte sich eine Gruppe von Jugendlichen mit einem Flugblatt an die Bewohner_innen eines Berliner Stadtteils Kreuzberg. Sie baten darin ihre Mitbürger_innen um deren Unterschrift als Unterstützung für ihren Kampf für das Georg-von-Rauch-Haus, das sie besetzt hatten und gegen die Einflussnahme von Stadt und Senat verteidigen wollten.

Unterzeichnet war das Flugblatt (vollständiger Texts. Infobox) mit „Für Eure Unterschrift danken Euch: Die Trebegänger des Georg von Rauch Hauses.“ Trebegänger des Georg von Rauch Hauses. „Trebegänger“, so wurden damals die Jugendlichen genannt, die aus Heimen oder Familien geflohen waren und auf der Straße lebten. Sie hatten sich am 8. Dezember 1971 an der Besetzung des leerstehenden Schwesternwohnheims eines ehemaligen Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg beteiligt. Hier hatten sie zusammen mit anderen Arbeiterjugendlichen, die endlich gemeinsam und selbstbestimmt leben wollten, ein neues Zuhause gefunden.

FormalPara Infobox Kompletter Wortlaut des Flugblatts

Liebe Mitbürger!

Durch Eure Unterschrift könnt Ihr gewährleisten, daß das Haus, das uns nach langen Jahren der Hilflosigkeit und Obdachlosigkeit endlich zur Verfügung steht und uns das Gefühl gibt, eine Heimat zu besitzen, erhalten bleibt.

Wenn Ihr durch Eure Unterschrift mithelft, daß uns dieses Haus erhalten bleibt, haben wir gemeinsam ein Beispiel dafür gegeben, daß man mit einem Minimum an finanziellen Mitteln ein Maximum an Nutzen für einen der sozial bedürftigsten Bevölkerungsteile Kreuzbergs erzielen kann.

Diesen Erfolg haben wir aus eigener Kraft errungen und sind unter keinen Umständen bereit, diese unsere Sache wieder aus der Hand zu geben. Drohungen von Seiten des Senats sind für uns nur ein Zeichen der Hilflosigkeit gegenüber unseren Problemen und unserer Entschlossenheit und Fähigkeit, unsere Lage selber zu meistern.

Wir sind sicher, daß jeder einzelne von Euch dieses Problem erkannt hat und weiß, wie wichtig es ist, dass wir weiterhin in diesem Haus wohnen und arbeiten können.

Da Euch durch die Nachkriegswirkungen sicherlich aus eigener Erfahrung bekannt ist, was es bedeutet, kein Zuhause zu haben, werdet Ihr uns nachfühlen können, was es für uns bedeutet, sagen zu können: HIER BIN ICH ZUHAUSE !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Für Eure Unterschrift danken Euch: Die Trebegänger des Georg von Rauch Hauses.

In den umliegenden Wohnblocks wurden über 1500 Unterschriften gesammelt. Nicht alle Bewohner_innen des Stadtteils waren von der Hausbesetzung angetan, aber viele andere begleiteten sie mit Sympathie und halfen mit allen möglichen lebensnotwendigen Dingen, damit die Jugendlichen in dem besetzten Haus bleiben und nach eigenen Vorstellungen leben konnten. Für viele Menschen des Stadtteils war es eine Provokation, dass dieses gut erhaltene ehemalige Krankenhaus seit zwei Jahren leer stand, während ihre eigenen Wohnverhältnisse miserabel waren.

Die jungen Leute benannten ihr neues Zuhause nach Georg von Rauch, einem Jugendlichen, der kurz zuvor als vermeintlicher Terrorist auf offener Straße von der Polizei erschossen worden war (siehe Böll et al. 1976). Die Geschichte des Georg‑v.-Rauch-Hauses, das bis heute als Wohnkollektiv junger Erwachsener existiert, ist eng mit der Frage verknüpft, wie aus Sozialer Arbeit solidarisches Handeln entstehen kann.

Wir nehmen dieses Jubiläum zum Anlass, um über die Frage nachzudenken, was sich aus den im Rauch-Haus gemachten Erfahrungen mit Selbstorganisation für die heutige Jugendhilfe lernen lässt. Wir konzentrieren uns dabei auf die Erfahrungen in den ersten Jahren nach der Besetzung und die Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und der staatlichen Sozialbürokratie. Dabei kommen auch unterschiedliche Vorstellungen zum Vorschein, wie Sozialarbeit mit Jugendlichen zu verstehen und zu praktizieren ist und vor allem wie mit den bestehenden Machtverhältnissen zwischen den staatlichen Institutionen und den „Adressat_innen“ der Jugendhilfe umzugehen ist.

Zur politischen Bedeutung des Rauch-Hauses

Die ersten Bewohner_innen des Georg‑v.-Rauch-Hauses waren vor allem junge Arbeiter_innen, Lehrlinge und Jugendliche, die aus beengten Wohnungen, engstirnigen Elternhäusern und sogenannten Fürsorgeheimen geflohen waren. Sie wollten ein anderes Leben und protestierten mit der Besetzung gegen eine autoritäre und ungerechte Gesellschaft, die Jugendlichen eigene Lebensräume und eine lebenswerte Zukunft verweigerte, große Teile der Stadt kaputtsanierte und zahlreiche Menschen aus ihren Wohnungen vertrieb. Die Besetzung war Teil einer breiten sozialen Protestbewegung und für tausende Jugendliche im damaligen West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland ein Signal, sich gegen soziale Ungerechtigkeit zu empören und autonome Jugendzentren und Lebensformen zu erkämpfen. Sie taten dies, obwohl sie dafür von Politiker_innen und Medien beschimpft, als Terroristen verdächtigt und kriminalisiert wurden.

Die Entstehung des Georg‑v.-Rauch-Hauses hat damals die Diskussion um alternative Ansätze in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik stark beeinflusst. Sie wurde vor allem als radikale Kritik an der im westlichen Nachkriegsdeutschland praktizierten repressiven Heimerziehung verstanden und hat viele Sozialarbeiter_innen beflügelt, nach Alternativen zur Fürsorgeerziehung für marginalisierte Jugendliche zu suchen. Es entstanden selbstverwaltete Jugendwohnkollektive bzw. Jugendwohngemeinschaften, die zum Stachel einer permanenten Kritik institutionalisierter Heimerziehung wurden (vgl. Ahlheim et al. 1971; Kappeler 2020). Auch die Offene Jugendarbeit erhielt neue Impulse und entwickelte sich in Richtung einer sozialraum- und stadtteilbezogenen Sozialpädagogik mit gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Zielsetzungen (vgl. Bienewald et al. 1978; Kappeler 2012; Liebel 2020).

Die im Rauch-Haus lebenden Jugendlichen verstanden ihr Haus allerdings nicht als pädagogisches Projekt. Sie lehnten das Ansinnen der damaligen Berliner Jugendbehörden ab, in ihrem Haus Sozialarbeiter_innen als eine Art Zwangsbetreuung zu installieren. Vor allem wehrten sie sich vehement dagegen, ihr Haus als eine Institution der Heimerziehung zu begreifen und es der „Heimaufsicht“ zu unterstellen. Sie akzeptierten die beratende Mitarbeit einiger Sozialarbeiter_innen, die sie schon bei der Besetzung und der nachfolgenden Legalisierung unterstützt hatten, bestanden aber darauf, alle anstehenden Entscheidungen selbst zu treffen. Der Ort dafür war (und ist bis heute) ein wöchentlich stattfindendes „Plenum“ aller Hausbewohner_innen, zu dem in der Regel auch nicht selbst im Haus wohnende Vertrauenspersonen als „Mitarbeiter“Footnote 1 eingeladen wurden. Nach langen, teils heftigen Auseinandersetzungen mit den Jugendbehörden des Berliner Senats und des Bezirksamtes Kreuzberg wurde ein Nutzungsvertrag erstritten, der den Jugendlichen ohne größere Auflagen das Recht auf Selbstverwaltung attestierte und ihnen ein selbstbestimmtes und gemeinsam organisiertes Leben ermöglichte. Dieser Vertrag gilt mit einigen Modifikationen bis heute.

Seit der Besetzung haben viele Generationen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Rauch-Haus gelebt und es gegen immer wieder aufflammende Verdächtigungen und Angriffe verteidigt. Die heutigen Bewohner_innen identifizieren sich mit der Geschichte des Hauses und sind wohl auch stolz darauf. Sie haben andere Lebensgeschichten und verstehen das Rauch-Haus nicht mehr wie in den 70er-Jahren als kollektives politisches Projekt. Aber ihre Grundhaltung entspricht weiterhin dem Motto eines Gedichts von Georg Büchner, das bis heute über dem Eingang des Rauch-Hauses zu sehen ist: „Friede den Hütten – Krieg den Palästen“.

Auseinandersetzungen mit der Sozialbürokratie

In den ersten Jahren mussten sich die Bewohner_innen des Rauch-Hauses immer wieder mit Anfeindungen durch die Medien (vor allem der Springer-Presse), die dominierenden politischen Parteien (CDU, SPD) und den Berliner Senat auseinandersetzen, die zeitweise in willkürliche Polizeirazzien ausarteten. Der Berliner Senat hatte zwar auf eine gewaltsame Räumung des Hauses verzichtet, weil dies angesichts der großen Solidarität, die die Besetzung in Kreuzberg und bei Tausenden von Jugendlichen und Student_innen erfuhr (s. a. Abb. 1), zu unabsehbaren Konflikten geführt hätte, aber er hat immer wieder versucht, die Bewohner_innen des Hauses unter seine Kontrolle zu bringen und für seine eigenen politischen Ziele einzuspannen.

Abb. 1
figure 1

Mai-Demo 1972 zum Erhalt des Georg-von-Rauch-Hauses

Die Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und der Sozialbürokratie in den ersten Jahren nach der Besetzung sind ein Lehrstück, wie in der Jugendhilfe verschiedene Interessen und Vorstellungen aufeinandertreffen und wie sich die Machtverhältnisse zwischen den Jugendbehörden und ihren „Klienten“ (die in den 1990er-Jahren euphemistisch zu „Kunden“ erklärt wurden) zumindest zeitweise verschieben können. In den Verhandlungen über einen Nutzungsvertrag für das besetzte Gebäude, der die Basis der Legalisierung bildete, gelang es den Jugendlichen Stück für Stück, die Kontrolle der staatlichen Behörden über ihren Lebensraum zurückzudrängen und ihre eigenen Vorstellungen eines autonom gestalteten Zusammenlebens durchzusetzen. Um dies deutlich zu machen, dokumentieren wir einige Stationen dieser Verhandlungen.

Unmittelbar nach der Besetzung hatten die für das Rauch-Haus zuständigen Sozialbehörden den Jugendlichen ein Angebot gemacht, das diese als „lächerlich“ zurückwiesen. Die Behörden deklarierten das Rauch-Haus zum „Modellversuch“ und wollten zunächst acht bis zehn Jugendlichen erlauben, „für einige Monate“ zusammenzuleben, „mit der Aussicht, bei positivem Verlauf weitere Räume bis zu einer Etage, für den gewünschten Zweck zur Verfügung zu stellen“ (zit. n. Georg‑v.-Rauch-Haus 1972, S. 42). Die Jugendlichen kommentierten dieses Angebot mit folgenden Worten: „Wir besetzten […] kein Haus, um dann an ein paar Jugendlichen herumexperimentieren zu lassen. Wir besetzten das Haus nicht, um uns von Parlamentariern, die die beschissene Wohnsituation zu verantworten haben, sagen zu lassen, was gut oder schlecht ist“ (ebd.). Nach zwei Wochen heftiger Auseinandersetzungen wurde ihnen das ganze Haus zugestanden.

Ein Verhandlungspunkt war die finanzielle Unterstützung. Der Berliner Senat hatte angeboten, Lebensmittelgutscheine zur Verfügung zu stellen. Die Jugendlichen nahmen dieses Angebot zunächst an, merkten aber bald, dass sie dadurch ihre Unabhängigkeit aufs Spiel setzten. Sie entschieden deshalb, für ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu sorgen und für diejenigen, die noch zur Schule gingen, die zustehende Sozialhilfe bzw. Ausbildungsförderung einzufordern. Sie entwickelten eine differenzierte Position, wofür sie Geld vom Staat haben wollten und wofür nicht:

  • „Geld für Erzieher und Sozialarbeiter? Nein – wenn wir unser Leben selber organisieren, brauchen wir keine Erzieher. Höchstens Geld für Mitarbeiter, die in den Arbeitsgruppen bestimmte Tätigkeiten übernehmen, medizinische Hilfe, Rechtsberatung usw. Für Sozialarbeiter solange, bis die LegalisierungenFootnote 2 abgeschlossen sind.

  • Geld für Haushaltsgeräte und andere Grundanschaffungen? Ja – große Kühlschränke, Waschmaschinen, Geschirrspülmaschinen usw., sowie Renovierungskosten für das Haus erfordern Geld, das wir nicht haben.

  • Geld für Arbeitsgruppen? Ja – wir brauchen Materialien wie Tonbandgeräte, Druckmaschinen usw., um z. B. unsere Arbeit zu dokumentieren, Lernmaterialien zu erstellen usw. Unser selbstverdientes Geld reicht dazu nicht aus“ (a. a. O., S. 52 f.).

Die Verhandlungen wurden auf ungewöhnliche Weise geführt. Um nicht über den Tisch gezogen zu werden, ließen sich die Jugendlichen nicht mehr (wie noch in den ersten Tagen nach der Besetzung) darauf ein, mit einer kleinen Delegation in den Räumen des Senats oder Bezirksamts zu erscheinen, sondern bestanden darauf, dass die Vertreter_innen der Sozialbehörden (Jugendamt, Jugendwohlfahrtsausschuss u. a.) zu ihnen ins Haus kamen. In einem Bericht schreiben sie: „Wir drehten die Sache einfach um. Die Typen mussten zu uns kommen, ihre Namen vorher nennen und sich in unseren Räumen einer genauen Ausweiskontrolle unterziehen. Wir wiesen die 15 Kommissionsmitglieder in den Plenumsraum und machten Erinnerungsfotos. Wir zeigten genug Phantasie, um ihnen ihre gewohnte Selbstherrlichkeit zu nehmen. Wir haben die Machtverhältnisse für den Verlauf der Verhandlungen auf den Kopf gestellt. Im Plenumsraum konfrontierten wir die 15 Vertreter von CDU, SPD, Senat und Landesjugendwohlfahrtsausschuss mit uns ca. 60 Jugendlichen und älteren Genossen, die uns bei der Arbeit unterstützten“ (a. a. O., S. 49).

Im Nutzungsvertrag waren „Kooperationsrunden“ zwischen der staatlichen Seite und den Jugendlichen vereinbart worden. Sie sollten folgenden Zwecken dienen, „a) der inhaltlichen Auseinandersetzung über die Entwicklung des ‚Projekts‘ und der Konfliktregelung im Einzelfall; b) der Auswertung und Nutzung der Erfahrungen aus dem Projekt für den Bereich der Jugendhilfe“ (Auszug aus dem ersten Nutzungsvertrag). Der Vertrag war in einer Sprache verfasst, die den Jugendlichen fremd war und von ihnen als „Bürokratenblabla“ wahrgenommen wurde. In einer späteren Dokumentation sahen sie sich veranlasst, mit ironischem Unterton zu erläutern: „Kooperieren heißt wörtlich übersetzt: ‚zusammenarbeiten‘“ (Rauch-Haus Kollektiv 1977, S. 149). In der Auswertung der in diesen Runden gemachten Erfahrungen unterstreichen die Jugendlichen, sie hätten „immer eins beachtet: um uns nicht von den Berufsquasslern vom Senat und vom Bezirksamt unterbuttern zu lassen – wie es tausenden von Leuten auf den Ämtern ergeht –, treten wir immer geschlossen als Kollektiv in Kooperationsrunden auf“ (ebd.; kursiv im Orig.).

In derselben Dokumentation schreiben die Jugendlichen, warum sie trotz der schlechten Erfahrungen, „die auch viele andere auf den Ämtern machen“, an den Kooperationsrunden teilnehmen: „Zum einen sind wir dazu gezwungen, solche Verhandlungen zu führen, weil wir als eine kleine Minderheit in dieser Gesellschaft in gewissen technischen Punkten (Erhaltung von Schüler- und Renovierungsgeldern, sanitäre Fragen usw.) auf die Zusage vom Senat angewiesen sind. Natürlich werden wir uns, wenn es z. B. um die Erhaltung unseres Hauses geht, nicht auf das Ergebnis irgendwelcher Verhandlungen verlassen, sondern mit unserer eigenen Kraft und der Hilfe unserer Freunde dafür kämpfen. Zum anderen haben die Kooperationsrunden großen Wert für uns, denn wir lernen nicht nur die altbekannten Sprüche der Amtstypen kennen, sondern sehen auch, dass wir als Kollektiv bedeutend stärker gegenüber ihnen auftreten können“ (a. a. O., S. 150).

Zwar lud meistens die Staatsseite zu den Kooperationsrunden ein, doch die Jugendlichen setzten fast immer durch, dass sie im Rauch-Haus stattfanden und nach der von ihnen selbst bestimmten Tagesordnung abliefen. Gleichwohl bemängelten sie, dass bei den Runden viel von Amtsseite versprochen, aber wenig eingehalten wurde. Als z. B. das Bezirksamt sein Versprechen, weitere Müllcontainer vor dem Haus aufzustellen, monatelange verschleppte, „packten wir kurzentschlossen sämtlichen auf dem Weg liegenden Müll in Plastiktüten zusammen, gingen zum Bezirksamt und schmissen die Mülltüten auf den Tisch des Verantwortlichen. Nachdem wir dies einige Male wiederholten, stand eines Tages ein Container mehr vor unserem Haus“ (a. a. O., S. 154).

Die im Nutzungsvertrag festgelegte Pflicht, jährlich Berichte über die Entwicklung im Haus vorzulegen, wurde von den Jugendlichen auf listige Weise meist so „erfüllt“, dass sie die Öffentlichkeit über ihr Haus informierten, einmal auch in Form eines Films.Footnote 3 Die Jugendbehörden mussten sich gleichsam nebenbei mit den Informationen begnügen, die die Jugendlichen öffentlich gemacht hatten. In der Dokumentation von 1977 begründeten die Jugendlichen diese Praxis mit dem Satz: „Wir haben das Haus besetzt, weil wir es brauchten, und nicht, um dem Senat die Jugendarbeit abzunehmen“ (a. a. O., S. 160).

Staatliche Jugendhilfe im Konflikt verschiedener Interessen

Die Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und den Vertreter_innen der staatlichen Jugendbehörden demonstrieren, dass grundverschiedene Interessen auf dem Spiel standen. Die von den Jugendlichen gewählte rüde Sprache (etwa „Amtstypen“, „Berufsquassler“, „Bürokratenblabla“) spiegelt die negativen Erfahrungen wider, die die Arbeiterjugendlichen im Laufe ihres Lebens und nach der Hausbesetzung mit den staatlichen Repräsentant_innen gemacht hatten (verstärkt durch die willkürlichen Polizeirazzien im Rauch-Haus). Sie zeigt auch, dass sich die im damaligen proletarischen Milieu und bei linksorientierten Jugendlichen üblichen Kommunikationsformen himmelweit von denen unterschieden, die im Bereich der institutionalisierten Jugendhilfe gang und gäbe waren und teilweise bis heute sind. Dies gilt vor allem, wenn sie in rechtliche Formen gegossen wurden, wie bei den Nutzungsverträgen.

Die behördliche Jugendhilfe, mit der die Jugendlichen konfrontiert waren, war in den 1970er-Jahren selbst von Widersprüchen geprägt. Die bisherige Jugendpolitik hatte sich als untauglich erwiesen. Die Heimerziehung stand aufgrund der dort praktizierten Misshandlungen unter heftiger Kritik und viele Jugendliche flüchteten aus den Heimen (vgl. Kappeler 2020). Die Maßnahmen und Einrichtungen der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit waren so stark von rigiden Regeln und autoritären Umgangsweisen geprägt, dass sie gerade für sozial benachteiligte Jugendliche unattraktiv waren und von ihnen abgelehnt wurden. Für die Wohnungsnot, in der sich viele Jugendliche befanden, hatten die Jugendbehörden keine Antwort. Zudem waren viele Jugendliche arbeitslos oder mussten sich in der Schule oder an den Lehrstellen und Arbeitsplätzen einem autoritären Regime unterwerfen, das ihnen sinnlos und menschenunwürdig erschien.

In dieser Situation geriet die behördliche Jugendhilfe unter starken Reformdruck. Die in West-Berlin damals von linken Sozialdemokrat_innen geleiteten Jugendbehörden waren auf der Suche nach sozialpädagogischen Alternativen, die weniger autoritär und reglementierend waren und den Jugendlichen mehr Raum für ihre eigenen Vorstellungen und Initiativen bieten sollten. Als Alternativen zur Heimerziehung waren z. B. Jugendwohngemeinschaften in der Diskussion, die von Sozialarbeiter_innen betreut werden sollten (vgl. Liebel et al. 1972). Oder Jugendfreizeitheime, an deren Verwaltung Jugendliche „beteiligt werden“ sollten (vgl. Claus et al. 1974). Wenn Jugendliche, wie im Falle des Rauch-Hauses eigene Initiativen ergriffen, wurden sie deshalb nicht von vornherein abgelehnt, sondern teilweise sogar aufgegriffen und mit Finanzierungsangeboten verbunden.

Doch all diese neue Flexibilität und Offenheit fand ihre Grenzen an der von den Jugendlichen beanspruchten Autonomie der eigenen Lebensführung. Zu keinem Moment wollten die Jugendbehörden die Kontrolle über diese neuen Freiräume aus der Hand geben. Dieses Kontrollbedürfnis war nicht nur tief in der Mentalität der „Verantwortlichen“ verankert (und ist es bis heute), sondern ergab sich auch aus der mit dem Kinder- und Jugendschutz begründeten rechtlichen Verpflichtung, die Aufsicht über „Minderjährige“ nicht aus der Hand zu geben. Dies wurde vor allem gegenüber den Kindern und Jugendlichen, die auf der Flucht waren, als unabdingbar hervorgehoben (vgl. Barasch et al. 3,4,a, b). Am deutlichsten manifestiert sich diese Kontrolle in der sog. Heimaufsicht, die auch im Fall des Rauch-Hauses zur Anwendung kommen sollte (zur Kritik vgl. Wagner 1973), aber von den Jugendlichen massiv zurückgewiesen wurde. Auch Sozialarbeiter_innen, die im Auftrag des Jugendamtes agieren, sind solchen Verpflichtungen unterworfen und werden diszipliniert, wenn sie sich ihnen zu entziehen versuchen (wie es bei den drei Sozialarbeiter_innen der Fall war, die die Jugendlichen des Rauch-Hauses unterstützen wollten; s. den Beitrag von Renate Drews in diesem „Einblick“). Dieses Zwangsverhältnis wird noch dadurch verschärft, dass bis heute den Sozialarbeiter_innen das Zeugnisverweigerungsrecht verweigert wird (vgl. Schruth 2018).

Eine Sozialarbeit und Jugendhilfe, die von den Jugendlichen als Solidarität erlebt werden kann, ist nur möglich, wenn die Sozialarbeiter_innen nicht länger an die rigiden Vorschriften und Anweisungen ihrer Vorgesetzten gebunden sind. Die Debatten um eine solche Sozialarbeit wurden schon in den 1970er-Jahren geführt (vgl. Steinacker 2013) und werden heute in den „Arbeitskreisen Kritische Sozialarbeit“ und anderen Netzwerken wiederbelebt. Dabei gewinnt die Frage der Selbstorganisation in ihrer politischen Bedeutung wieder mehr Gewicht.Footnote 4