Interview

03. Febr. 2022

„Es geht um die Grundprinzipien internationaler Politik“

Wie steht es um den Ukraine-Konflikt? Was hat Wladimir Putin vor, wie sollte der Westen reagieren? Welche kurz- und langfristigen Folgen sind zu erwarten? Und kann Deutschland einen sinnvollen Beitrag zur Lösung des Konflikts leisten? Darüber sprach die IP Anfang Februar mit dem Sicherheitsexperten Carlo Masala.

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Bild: Porträt von Prof. Carlo Masala
Prof. Dr. Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München und einer der Hosts des sicherheitspolitischen Podcasts „Sicherheitshalber“.
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Internationale Politik: Herr Masala, Sie begleiten und analysieren Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik schon eine ganze Weile. Welches Bild bietet sich Ihnen da zurzeit?

Carlo Masala: Wenn man auf die Außenpolitik der Ampelregierung schaut, dann lautet der Befund ähnlich wie seit 20 Jahren: Deutschland sucht noch immer seine Rolle und seinen Platz in diesem sich wandelnden internationalen System. Zugespitzt könnte man sogar hinzufügen: Wir beobachten da zuweilen noch einen Reflex aus der alten Bonner Republik, wo man schön im Geleitzug fahren konnte und vielleicht ab und zu mal ausgeschert ist. Denn letztlich wurden die großen Entscheidungen ohnehin nicht in Bonn getroffen.

 

Sind es nur die längeren Linien, die diese Regierung daran hindern, eine klare, nachvollziehbare Außenpolitik zu betreiben, oder könnte man auch sagen, dass die Ukraine-Krise für die Ampelkoalition einfach zu früh kam, weil sie noch nicht ausreichend sortiert war?

Dialektisch gesprochen ist es beides. Da kommen drei Parteien im Dezember 2021 mit kaum Regierungserfahrung nach Berlin und haben es gleichzeitig mit der Corona-Pandemie und einer der größten sicherheitspolitischen Krisen der vergangenen 40 bis 50 Jahre zu tun. In einer solchen Situation wäre wohl jede Regierung überfordert. Ich glaube aber, die Antwort würde nicht anders aussehen, wenn die Ukraine-Krise ein Jahr später passiert wäre und man sich schon ein wenig eingespielt hätte. Die Antwort wäre nur professioneller kommuniziert und gespielt.

 

Nun haben sich ja in den vergangenen Tagen einige Vertreter der SPD zur Ukraine-Frage geäußert. Von Bundeskanzler Olaf Scholz dagegen hört man vergleichsweise wenig. Wie erklären Sie sich das? Ist das einfach Olaf Scholz, der Olaf-Scholz-Dinge tut?

Ja, ich glaube, er tut Olaf-Scholz-Dinge und spielt massiv hinter den Kulissen. In der Tat hatten wir vor zwei, drei Wochen eine Kaskade von SPD-Politikern, die sich, sagen wir mal: missverständlich zum Thema Ukraine geäußert haben. Aber spätestens seit der Bundestagsdebatte Ende Januar waren die meisten führenden Köpfe der SPD auf Linie oder haben sich gar nicht mehr geäußert. Ich glaube, Olaf Scholz ist jemand wie Helmut Kohl. Einer, der zum Telefonhörer greift und die Linie vorgibt. Vorher hat er die Linie mit ein, zwei Interviews abgesteckt: Natürlich will jeder eine diplomatische Lösung, aber alle Optionen liegen auf dem Tisch, und Russland wird eine harte Antwort bekommen, wenn es in die Ukraine einmarschiert. Letztlich ist das eine Stilfrage.

 

Woran liegt es denn, dass Berlin sich mit einer notwendigerweise robusteren Außenpolitik so schwertut?

Deutschland ist eine europäische Großmacht, aber global gesehen nur eine Mittelmacht. Das Land hat die Erfahrung gemacht – und eine Art Ideologie daraus entwickelt –, dass es seine Interessen am besten über etablierte multilaterale Institutionen vertreten kann. Dabei verweigern wir uns der Einsicht, dass die meisten dieser multilateralen Institutionen erheblich geschwächt sind und dass sie für die Staaten, die sie früher getragen haben, eine weitaus geringere Rolle spielen. Innenpolitisch hat das viel mit der Vorstellung zu tun, dass die Mehrheit der Deutschen und damit der Wählerinnen und Wähler gar nicht bereit ist, international mehr Verantwortung zu übernehmen. Und mit Blick auf die großen Institutionen wie NATO und EU haben wir immer noch keine Antworten auf die Veränderungen der vergangenen 15 Jahre.

 

Welche wären das?

Beide Institutionen sind durch ihre Erweiterung erheblich in ihrer Fähigkeit geschwächt worden, inhaltlich voranzukommen. Gerade in Bezug auf die EU haben wir Deutschen uns einer Integrationslogik verschrieben, die darauf abzielt, bei sämtlichen Fortschrittsbemühungen alle mitzunehmen. Aber in einer EU der 27, in der die Interessen so auseinandergehen, in der selbst grundsätzliche Wertefragen mit Ländern wie Polen oder Ungarn ungeklärt sind, da macht es dieser Ansatz unmöglich, sich substanziell weiterzuentwickeln. Es gäbe ja durchaus die Möglichkeit, mit einer kleineren Gruppe von Staaten in bestimmten Bereichen voranzugehen. Doch gerade in Deutschland ist man ausgesprochen zurückhaltend, diese Option zu ergreifen.

 

Auch wenn man all das in Rechnung stellt: Gibt es nicht gerade in der Russland-Politik einen traditionellen Anspruch Deutschlands, den Ton anzugeben und Moskaus Ansprechpartner Nummer eins in Europa zu sein? Diese Führungsrolle scheint man derzeit aus der Hand zu geben und Richtung Frankreich weiterzureichen.

Da würde ich jetzt mal mit dem ehemaligen chinesischen Premier Zhou Enlai antworten: „It‘s too early to tell“. Natürlich, Emmanuel Macron hat die Initiative übernommen und Ukrainer und Russen wieder ins Gespräch gebracht – wohlgemerkt nicht, ohne die Deutschen mit einzubeziehen. Und wenn man sich daran erinnert, wie das Normandie-Format zustande gekommen ist: Da sind auch die Franzosen vorneweg marschiert und die Deutschen saßen quasi auf dem Beifahrersitz. Ich glaube aber, derzeit kann kein europäischer Staat in dieser Frage irgendeinen Führungsanspruch erheben.

 

Auch nicht Frankreich?

Macron boxt da ein bisschen oberhalb seiner Gewichtsklasse. Für Russland geht es um Augenhöhe mit den USA. Europa spielt keine Rolle. Das, was Putin will – Sicherheitsgarantien, Reduzierung der Militärmanöver und anderes –, das kann er nur mit den USA verhandeln, weil nur die ihm zusichern können, dass das etwas passiert, was die Russen möglicherweise zufriedenstellt. Sollte die Ukraine-Krise friedlich beendet werden, kommt Europa wieder ins Spiel. Da muss man dann sehen, wer die Initiative ergreift und wer privilegierter Ansprechpartner ist, Berlin oder Paris. Momentan ist es Washington.  

 

Auch wenn Berlin nicht Verhandlungspartner Nummer eins ist – es hat mit Nord Stream 2 ein Faustpfand in der Hinterhand. Wird es die Gaspipeline am Ende aufgeben müssen?

Das ist natürlich die entscheidende Frage: Welchen Preis ist die Bundesregierung bereit zu bezahlen, um den internationalen Druck auf Russland aufrechtzuerhalten? Was für einen Preis mutet man der Gesellschaft zu, wenn plötzlich Gaslieferungen ausfallen? Wenn man Russland vom internationalen Zahlungssystem SWIFT abschneidet, kann man keine Rechnungen mehr bezahlen, und dann könnte die deutsche Wirtschaft ein unzuverlässiger Partner für Russland werden. Sanktionen haben eben im Zweifel auch einen Preis für diejenigen, die sie verhängen. In Deutschland sehe ich im Moment keine große Bereitschaft, einen nennenswerten Preis zu zahlen.

 

Sie haben in einem Interview mit der Tageszeitung „Merkur“ deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine gefordert. Gilt das immer noch?

Ja, ich bin weiterhin der Meinung, dass die Deutschen Waffen liefern sollten. Aber die entscheidende Frage ist: Was für Waffen braucht die Ukraine, damit dadurch die russische Kosten-Nutzen-Kalkulation beeinflusst werden kann? Da hat Deutschland, ehrlich gesagt, nicht viel beizutragen. Jetzt nur altes Gerät irgendwo in Kiew abzuladen, hilft den Ukrainern nicht weiter. Wir könnten uns auf die Frage der Marine konzentrieren. Da sind die USA schon stark involviert, aber das ist etwas, zu dem Deutschland durchaus etwas beitragen könnte.

 

Was ist denn mit Blick auf die kommenden Wochen das für Sie wahrscheinlichste Szenario? Muss man das Wetter als Faktor mit einbeziehen? Und was wäre die jeweils bestmögliche Reaktion des Westens?

Ich halte das Wetter für nicht so entscheidend, wie es viele darstellen. Die russischen Verbände haben mittlerweile Kettenfahrzeuge, die sich im Matsch genauso bewegen wie auf einer asphaltierten Straße oder auf vereistem Gelände. Die Russen stehen nicht unter Zwang, jetzt bis zum März angreifen zu müssen. Die wahrscheinlichste Option mit Blick auf die Ukraine ist aus meiner Sicht eine Art Finnlandisierung. Einen Krieg will niemand. Man wird die Frage einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auf Eis legen, das wird nichts Offizielles sein. Da geht es darum, eine Formulierung zu finden, die den Russen signalisiert, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, die aber gleichzeitig die „Open Door“-Politik der NATO nicht komplett konterkariert. Auch, um eine Botschaft an die Staaten der Welt zu vermeiden, die in etwa lautet: „Ihr seid nicht mehr souverän, wenn eine Großmacht es nicht mehr will.“

 

Was wäre, wenn der Westen hart bliebe? Und sagte: Wir können vielleicht über ein, zwei Militärmanöver reden, aber nicht über die Ukraine?

Dann wäre Putin gezwungen, irgendetwas zu tun. Er stünde ja gegenüber dem Westen und in Russland als Versager da, wenn er wochenlang die Propagandatrommel rührte und dann ohne Ergebnisse nach Hause käme. Ich rede jetzt nicht davon, dass Russland die komplette Ukraine besetzen würde – das ist völlig illusorisch. Es ginge um den Donbass, es ginge um die Krim, möglicherweise um eine Landverbindung zwischen Krim und Donbass. Dann hätten wir die Situation, die wir alle befürchten: einen militärischen Konflikt im Donbass mit russischen Truppen.

 

Und wenn der Westen ganz einknickte?

Das würde den Prozess beschleunigen, den wir seit Jahren beobachten – den relativen Abstieg der USA als global gestaltende Macht und den relativen Aufstieg Chinas und seiner Verbündeten, wozu auch Russland gehört. Denn natürlich steht die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten ganz grundsätzlich auf dem Spiel. Zwar ist die Ukraine nicht mit Taiwan zu vergleichen – weil es für Taiwan eine Sicherheitsgarantie gibt. Aber wie werden die Taiwanesen auf diese Sicherheitsgarantie schauen, wenn die USA schon vor 100.000 Soldaten aus Russland den Kniefall machen, der im Vergleich zu China wesentlich kleineren revisionistischen Macht? Was bedeutet das für Amerikas mögliche Reaktionen auf weitere und deutlich umfangreichere militärische Provokationen Chinas gegenüber Taiwan? Dann wären wir wieder im 18. oder im 19. Jahrhundert angekommen: Großmächte, die ihre legitimen Einflusssphären oder Hinterhöfe haben und auf der globalen Ebene die Spielregeln der internationalen Politik neu verhandeln.  

 

Wie konnte Russland eigentlich in die Position gelangen, dass es den Westen so vorführen kann?

Ich glaube, wir haben alle unterschätzt, dass es bei historisch gewachsenen Mächten wie Russland so etwas wie „reckless leaders“ geben kann – Staatschefs, die bereit sind, rücksichtslos, mit hohem Risiko und sehr aggressiv zu handeln. Die bereit sind, ein strategisches Vakuum sofort zu füllen, um Vorteile daraus zu ziehen, ob in Mali oder in Syrien. Und zum anderen hat man der russischen Führung nicht so recht geglaubt. Was Putin jetzt macht, hat er ja seit Langem angekündigt. Seinen Unmut über die Art und Weise, wie er sich vom Westen oder von den USA behandelt fühlt, hat er ständig zum Ausdruck gebracht und immer mit Konsequenzen gedroht. Diese Konsequenzen sehen wir seit ein paar Jahren, getragen von Russlands militärischer Modernisierung – das Militär ist das einzige Instrument, das das Land derzeit hat.

 

Auch das sah vor 15 Jahren noch anders aus …

Ja. Der Georgien-Krieg von 2008 hat der russischen Führung vor Augen geführt, dass ihre Streitkräfte nicht auf der Höhe der Zeit waren. Man hat letzten Endes gewonnen, indem man eine alte sowjetische Strategie aus dem Zweiten Weltkrieg aufgelegt hat: Angriff mit hohen Truppenzahlen, in verschiedenen Wellen. Das kleine Georgien hatte zwar eine moderne Armee, ist aber irgendwann eingeknickt. Anschließend begannen die Diskussionen unter russischen Militärtheoretikern und Praktikern. Die waren schnell der Auffassung: So gewinnen wir keine Kriege mehr – noch so gerade eben gegen Georgien, aber das ist ja nicht unser eigentlicher Gegner. Aus russischer Perspektive sind das die aggressiven USA, die versuchen, Russland niederzuhalten; gegen die man so keine Chance hätte. Also hat man sich daran gemacht, das Militär zu modernisieren, und diese Modernisierung ist jetzt fast abgeschlossen. So hat man nun dieses moderne Instrument zur Hand, das nutzt man jetzt. Und zwar ohne Rücksicht. Das haben wir alle unterschätzt. Wir wissen alle nicht, was Putin eigentlich vorhat. Aber er baut Druck auf. Er macht das nach allen Regeln der Kunst. Und wir knicken ein! Wir sind sofort bereit zu sagen: Wir müssen eine diplomatische Lösung finden, wir wollen diesen Krieg abwenden. In den harten Fällen von Sicherheitspolitik hat der Skrupellose die besseren Karten.

 

Wie sollte man denn darauf antworten – mit Zugeständnissen, wie manche fordern, um „aus der Eskalationsspirale“ zu kommen, oder indem man dagegenhält?

Ich plädiere für ein hartes Dagegenhalten, und zwar aus zwei Gründen. Erstens geht es gar nicht mehr nur um die Ukraine, es geht um die Grundprinzipien internationaler Politik des 21. Jahrhunderts. Wenn man hier nachgibt, dann verändert man die Grundprinzipien: Die Idee, dass Staaten souverän sind, dass Staaten ihren außenpolitischen Weg selbst bestimmen können, das ist dann weg. Vor allen Dingen wird das dann nicht mehr für diejenigen Staaten gelten, die sich in der Nähe einer Großmacht befinden. Ich finde, man muss den Russen Kooperationsangebote machen, aber nicht auf ihre Forderungen eingehen. Oder aber, was ich noch charmanter fände und was bislang nicht gemacht wurde, unsere Gegenforderungen stellen: russischer Truppenabzug aus Syrien, Truppenabzug aus Transnistrien und so weiter. Dies ist ja jetzt auch ein Teil der NATO-Antwort auf die russischen Forderungen. Und dann gehen wir mal in die Verhandlungen und gucken, wo wir uns einigen können. Wir sollten hart bleiben. Nicht um der Härte willen, sondern weil es bei diesem „Ukraine-Konflikt“ um mehr geht als nur um die Ukraine.

 

Derzeit sieht es so aus, als habe Putin sich verrechnet. Der Druck scheint die westlichen Partner geeint zu haben: Die USA sind zurück als europäische Macht. Finnland und Schweden interessieren sich auf einmal noch viel stärker für eine NATO-Mitgliedschaft. Warum glauben Sie dennoch, dass es auf eine Finnlandisierung der Ukraine hinausläuft?

Um es klar zu sagen: Ich bin kein Befürworter einer Finnlandisierung; das wäre ein ziemlich katastrophales Ergebnis. Aber ich glaube, die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, ist relativ hoch. Putin betreibt das, was im Prinzip Josef Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben hat. Er ist der Geburtshelfer für eine wiedererstarkte NATO. Dafür, dass er keine amerikanischen Truppen in Osteuropa oder keine NATO-Truppen in Osteuropa haben will, hat er sie jetzt bald überall. Ich glaube, das einzige Land, das sich jetzt verweigert, ist Ungarn. Ansonsten werden wir demnächst, wenn das so weitergeht, an der gesamten NATO-Ostflanke noch mal massiv Truppen verstärken. Von Polen bis ins Baltikum. Und damit hat er genau den gegenteiligen Effekt erreicht.

 

Putin hat sich verzockt?

Ja. Aber wenn man sich fragt, warum er jetzt gehandelt und nicht noch zum Beispiel gewartet hat, bis vielleicht wieder Donald Trump im Weißen Haus sitzt: Es gab wohl ernstzunehmende Hinweise, dass es eine amerikanisch-ukrainische Sicherheitspartnerschaft geben sollte. Und sobald die Amerikaner offiziell irgendwie als ukrainische Schutzmacht auftreten, ist das Spiel für die Russen vorbei, weil die Russen genauso wenig in einen Krieg gegen die USA eintreten wollen wie die USA gegen die Russen. Weiter in die Zukunft geschaut, steht nun fest, dass Russland eine territoriale Bedrohung nicht nur für die Ukraine, sondern seine ganze unmittelbare Nachbarschaft ist. Wobei ich nicht glaube, dass Russland vorhätte, Gotland zu annektieren oder gegen Finnland militärisch vorzugehen, aber das geht jetzt nach dem Motto: „Keep them busy on all flanks“. Letzten Endes hat Putin zur Stärkung der NATO mehr beigetragen als jeder andere zuvor.

 

Putin macht dagegen seinerseits Sicherheitsbedenken geltend und erklärt, er fühle sich bedroht – ist das nicht in Teilen auch gerechtfertigt?

Wo Putin einen Punkt hat, und da gehen wir historisch etwas weiter zurück, ist die Ausbreitung der USA in Zentralasien, im Zuge des Afghanistan-Konflikts. Es war Putin, der dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush dabei geholfen hat, dort Militärbasen aufzubauen, um die Operation gegen die Taliban und Al-Kaida durchzuführen. Das Versprechen lautete damals: Wir brauchen die zwölf Monate lang und dann sind wir wieder weg. Die Amerikaner sind jetzt seit 21 Jahren in der Region und sind zwar aus Afghanistan abgezogen, machen aber keine Anstalten, sich insgesamt zurückzuziehen.

 

Und mit Blick auf die NATO?

Ich glaube nicht, dass Putin da berechtigte Kritik anbringt. Die ganze Geschichte der NATO-Osterweiterung war immer mit Angeboten an Russland verbunden: zur Kooperation, zur engeren Zusammenarbeit im technischen Bereich, militärisch, politisch. Das haben die Russen teilweise angenommen, teilweise abgelehnt. Und was den Vorwurf der Einkreisung angeht, muss man sagen: gegenwärtig nicht. Wenn man aber in langen Linien denkt und an einen NATO-Beitritt der Ukraine – deswegen hat Putin ja auch den Donbass destabilisiert, als beste Garantie gegen einen Beitritt – in, sagen wir mal: zehn Jahren, dann wartet da als Nächstes Georgien als NATO-Aspirant an der russischen Grenze. Die NATO kann noch zehnmal erklären, sie sei keine Bedrohung für die Russen: Wenn man so ein Militärbündnis direkt an der Grenze hat, dann wird man es als Bedrohung empfinden. Kurz: Viele der russischen Sicherheitsbedenken sind fabriziert, einige sind nachvollziehbar, wenn man stärker nach vorn denkt. Es waren ja wir Deutsche, die 1993 den Vorstoß machten, die NATO zu erweitern – um Polen, Tschechien und Ungarn. Die deutsche Überlegung war: Wenn wir es schaffen, die Polen in die NATO aufzunehmen, dann verteidigen wir die deutsche Sicherheit an der polnisch-weißrussischen Grenze. Das heißt, wir gewinnen etwa 600 Kilometer strategische Tiefe. Natürlich muss man ein solches Argument Russland genauso zugestehen.

 

Wie sähe also in dieser Lage eine kluge deutsche Politik aus?

Klug wäre, sich endlich von den deutschen Dogmen und Illusionen in der Außenpolitik zu lösen, wonach die Welt eine potenziell friedliche ist, in der wir mit Diplomatie alles erreichen können, aber das Militär kein Instrument der Diplomatie ist. Das aber ist es: Und man muss mit dessen Einsatz drohen können, um diplomatische Lösungen zu erzielen. Wir sollten anerkennen, dass das Völkerrecht zwar wichtig ist, aber zuweilen auch gebrochen wird. Und dass man gegebenenfalls manchmal selbst Völkerrecht brechen muss, um Schlimmeres zu verhindern. Solange es keine neue Balance in der internationalen Politik gibt, laufen in der Welt jede Menge „Fleischfresser“ herum, die kein Problem damit haben, ihre Beute zu reißen, wenn das in ihrem Interesse ist. Und dem kann man nicht immer nur mit dem traditionellen Instrumentenkasten deutscher Diplomatie begegnen …

 

Konferenzen einberufen, Verhandlungen führen, Hilfspakete schnüren …

So ähnlich. Da muss man sich eingestehen, dass man auch militärische Mittel braucht. Und wenn man selbst nicht militärisch handeln will, sollte man es nicht verhindern, wenn andere in unserem Interesse handeln wollen: Manchmal ist die brutale Sprache der Macht effektiver als die eher verklausulierte Sprache des Multilateralismus und des gemeinsamen Interesses à la: „Wir leben ja alle nur in einer Welt.“ Diese ganzen Floskeln, die man aus Deutschland ständig hört – und damit meine ich jetzt nicht speziell Außenministerin Annalena Baerbock, sondern sie und alle ihre Vorgänger quer durch die Bank –: Da bedarf es einer Bestandsaufnahme. Vielleicht bringt es uns weiter, eine Nationale Sicherheitsstrategie zu formulieren, wie es die Ampelkoalition vorhat. Da muss dann drinstehen: Was wollen wir? Was können wir? Was sind wir bereit zu tun? Und wenn wir bestimmte Sachen nicht bereit sind zu tun, aber andere Staaten schon, dann tut es der deutschen Außenpolitik auch mal gut zu sagen: Okay, wir reihen uns ein und halten den Mund. Andere übernehmen jetzt die Verantwortung, die wir aus innenpolitischen oder historischen Gründen nicht übernehmen wollen oder können – meistens aber doch eher nicht wollen. Dann halten wir einfach die Klappe und konterkarieren das nicht, sondern fahren mit im Geleitzug und unterstützen das.

 

Das Gespräch führten Martin Bialecki, Henning Hoff, Robert Schirmer und Joachim Staron.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online exclusive,03. Februar 2022

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