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Fotos und Wirklichkeit Landser vor Flußlandschaft

Was zeigen Fotos wirklich? In seinem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Essay "Der Schatten des Fotografen" geht der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen der Realität hinter den Bildern auf den Grund - eine Einladung zum Mitdenken.
Von Oskar Piegsa
Eine russische Frau, die von deutschen Landsern gezwungen wird, auf Minensuche durch den Fluss zu waten: Die Wahrheit liegt nicht im Augenschein.

Eine russische Frau, die von deutschen Landsern gezwungen wird, auf Minensuche durch den Fluss zu waten: Die Wahrheit liegt nicht im Augenschein.

Foto: Archiv Reiner Moneth

Ein käsefarbener Balken aus hartem Plastik, in den fünf unförmige Mulden gedrückt worden sind: So sieht die Skulptur aus, die der junge Künstler Bruce Nauman 1966 ausstellt.  Interessant wird sie durch ihren Titel: "Wax Impressions of the Knees of Five Famous Artists". Wessen Knieabdrücke zu sehen sind, bleibt offen. Den mittleren habe angeblich der berühmte Bildhauer Henry Moore gemacht, heißt es. Später taucht auf einer Planungsskizze der Name des Malers Willem de Kooning auf - ein noch größerer Star der amerikanischen Kunstszene. Wer vor Naumans Skulptur steht, kann sich diesen Giganten ganz nah fühlen und intime Spuren von Körperteilen sehen, die sonst unter Hosenbeinen verborgen bleiben.

Oder man erkennt den Bluff. Denn nichts an "Five Knees" beweist, dass Berühmtheiten an der Herstellung der Skulptur beteiligt waren. Es ist nicht mal sicher, dass die fünf Mulden tatsächlich von Knien stammen. Der Titel der Skulptur bleibt eine leere Behauptung. Bruce Nauman trifft damit den Zeitgeist: Ein Jahr später macht der Philosoph Richard Rorty den Begriff der "linguistischen Wende" bekannt. Fortan gilt in den Geisteswissenschaften und in der Kulturkritik: Den Zeichen ist zu misstrauen - und zwar grundsätzlich. Kein Sprechakt, kein Abdruck, kein Foto ist besser als die falschen Knie von Bruce Nauman.

Als Nauman die Verbindlichkeit der Zeichen in Frage stellte, lebte der gleichaltrige Helmut Lethen in einem "Paralleluniversum", in dem er "Bilder, Parolen und Texte als Wegweiser und Evidenzbeschaffer behandelte". So beschreibt es Lethen selbst, in seinem Buch "Der Schatten des Fotografen", das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. In den Sechzigern war er Redakteur einer linken Kulturzeitschrift, später wurde er Mitglied einer maoistischen Partei. Heute ist er Kulturwissenschaftler - und als solcher skeptischer gegenüber dem vermeintlich Evidenten. "Der Schatten des Fotografen" handelt von seinem Umdenken, das aber kein vollständiges war. Es ist ein Essay über die Suche nach dem Realen in der Fotografie. Sein Text folgt dabei einer weitgehend autobiografischen Linie.

Vermintes Gewässer

Wer gelernt hat, den Zeichen zu misstrauen, dem bleiben zwei Optionen, schreibt Lethen: "Entweder legt man es darauf an, unter dem Schein der Oberfläche die eigentlichen ökonomischen, politischen oder sexuellen Triebkräfte zu enthüllen, oder man versucht, in der Wirklichkeit einem 'letztlich undurchdringlichen, nicht reproduzierbaren Realen' zu begegnen, das sich dann aber nur poetisch beschreiben lässt." Zur ersten Option zählt die Psychoanalyse, die Lethen bis heute skeptisch sieht, sowie die marxistische Ideologiekritik, an die er irgendwann den Glauben verlor. Er wandte sich der zweiten Lesart zu, bestärkt durch seine Lektüre des Philosophen Roland Barthes. Dessen fototheoretische Abhandlung "Die helle Kammer" wurde in den Achtzigern zu seinem "Leib- und Magenbuch", schreibt Lethen.

In seinem Buch bricht Barthes mit der Medien- und Zeichenskepsis der sechziger und siebziger Jahre. Ein Foto ist demnach ein Abdruck der vom "Objekt zurückgeworfenen Lichtstrahlen" im (analogen) Film. Es ist nicht bloß eine leere Behauptung, sondern enthält Spuren von etwas, "das tatsächlich einmal da war". Barthes entwickelt den Begriff des "punctum" dafür, wenn von einem Foto ein "Stich" ausgeht, "der vom Wissen rührt, dass ein realer Körper vor der Kamera stand, von dem zwar Lichtpartikel ausstrahlten und chemisch gespeichert wurden, der aber selbst für immer abwesend bleiben wird", so Lethen. Anders als bei Bruce Nauman wird der Abdruck bei Barthes wieder verbindlich.

"Leib- und Magenbuch" hin oder her: In "Der Schatten des Fotografen" mag Helmut Lethen der Theorie Roland Barthes nicht mehr vorbehaltlos folgen. Dass es den "Stich" des Realen gibt, daran zweifelt er aber nicht - und schildert das an Beispielen, die ihn persönlich besonders getroffen haben, etwa Alain Resnais Film "Nacht und Nebel" und die Fotos der Wehrmachtsausstellungen. Höhepunkt seines Buches sind die ausführlicheren Besprechungen mehrerer dokumentarischer Fotos. Eines davon ist auf dem Titel seines Buches zu sehen: Eine Flusslandschaft an einem sonnigen Tag. Eine Frau watet durch einen flachen Übergang. "Eine bukolische Situation, ein Malersujet", schreibt Lethen, um dann hinzuzufügen: Das Bild stammt aus dem Jahr 1942, deutsche Landser haben es aufgenommen. Sie haben die Frau, eine Gefangene, durch den Fluss geschickt, weil sie darin Minen vermuten.

Die Wahrheit dieses Bildes liegt nicht im Augenschein. Foto und Kommentar ergänzen einander. Während Bruce Nauman den Titel und die Begleittexte seiner Skulptur nutzte, um die Betrachter in die Irre zu führen, und Roland Barthes daran glaubte, das Fotos ganz ohne Kontext "stechen" könnten, beschreibt Helmut Lethen Bilder, deren Wirkung ohne die zusätzlichen, schriftlichen Angabe nicht vollständig ist. Im Verhältnis von Abdruck und Realem haben demnach weder die ironischen Zeichenskeptiker recht, noch jene, die auf eine besondere Verbindlichkeit der Fotografie an sich pochten.

Das ist eine Erkenntnis, die bei Helmut Lethen auf seinem Weg durch die theoretischen Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über mehrere Jahrzehnte des Sehens, Erlebens und Denkens reifte, so legt es sein Buch nahe. Zumindest einen Teil dieses Prozesses lässt Helmut Lethen seine Leser nachvollziehen: "Der Schatten des Fotografen" kommt ohne starke Eingangsthese und strenge Argumentation aus, es ist kein Versuch zu überzeugen, sondern eine Einladung zum Mitdenken. Oft anregend, aber nicht immer unanstrengend ist dieser theoriegesättigte und autobiografische Haken schlagende Text.