Im Jahre 2009 erregte ein Buch der beiden Epidemiologen Richard G. Wilkinson und Kate Pickett beträchtliches Aufsehen. Der Titel: „The Spirit Level. Why Equality Is Better for Everyone“, dt.: „Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“Footnote 1. Die Grundthese: Soziale Ungleichheit hat für alle Bereiche der Gesellschaft und für alle Mitglieder fatale Folgekosten, insbesondere im Bereich Gesundheit. Die Autorin und der Autor belegen ihre These mit einer Vielzahl an empirischen Untersuchungen, u. a. der Weltgesundheitsorganisation, der Weltbank und des US Census. Sie vergleichen dabei Länder, bei denen ein besonders hoher Grad an ökonomischer Ungleichheit herrscht, mit Ländern, die ein geringeres Maß an Differenz zwischen Reich und Arm aufweisen, wie etwa skandinavische Länder.

Das Fazit: Gesellschaftliche Ungleichheit geht damit einher, dass Menschen kränker und unglücklicher sind; sie wirkt sich aus in höheren Raten an Gewalt und Kriminalität, Drogenkonsum und Gesundheitsproblemen wie Herzerkrankungen und Übergewicht. Unter den reichen Ländern der Welt haben diejenigen, in denen ein hohes Maß an Ungleichheit zu verzeichnen ist, höhere Raten u. a. an psychischen Erkrankungen, Kindersterblichkeit, Schulabbrechern und Suizid. Umgekehrt lässt sich belegen, dass Gesellschaften mit einem geringeren Maß an sozialer Ungleichheit zwischen Arm und Reich im Durchschnitt kohäsiver, gesünder sind und ein geringeres Maß an sozialen Problemlagen aufweisen.

Das Buch wirft die Frage auf: Warum ist Ungleichheit so problematisch und folgenreich? Die beiden Autoren kommen zu dem Schluss: Ungleichheit und ungerechte Lebensverhältnisse sind zutiefst ungesund für den Einzelnen und die Gesellschaft. Sie untergraben den Gemeinsinn und das Vertrauen ins Leben. Ungerecht behandelt zu werden, erleben Menschen als etwas zutiefst Kränkendes. Wer am unteren Ende einer sozialen Hierarchie steht, verliert oft sein Selbstwertgefühl und den Respekt vor sich und anderen.

Gerechtigkeit hat zu tun mit Recht und Gleichbehandlung. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Menschen, aber das Ausmaß an Egalität bzw. Ungleichheit ist von entscheidender Bedeutung für das Wohlergehen sowohl des Einzelnen als auch der Gesellschaft.

Was die Verteilung von Lebenschancen angeht, ist das Geschlecht eine zentrale Schlüsselkategorie. Ein beträchtlicher Teil der Frauen- und Geschlechterforschung in den letzten Jahrzehnten bestand und besteht darin, die durch „doing gender“ immer wieder erzeugten Ungleichheiten aufzuzeigen. Ebenso gibt es aber auch ein beträchtliches Bemühen durch alle sog. Gendermainstreaming-Maßnahmen, die Geschlechterverhältnisse zu verändern. Mit diesem Thema befasst sich der Thementeil dieses Heftes aus verschiedenen Perspektiven.

Die Beiträge sind im Kontext der Tagung „GeschlechECHTerGERECHTigkeit?! Paradoxien – Widerstände – Visionen“ entstanden, die im vergangenen Jahr an der Fachhochschule Köln stattgefunden hat.

Wie haben sich die gesellschaftlichen Teilhabe-Chancen von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen entwickelt? Dieser Frage geht Hildegard Macha nach. Sie analysiert empirische Daten auf Widersprüche zur gesellschaftlichen Rhetorik der Gleichheit und bezieht sich dabei auch auf eigene Studien zu Familienbiographien und Geschlechterrollen. Anhand von vier Forschungsfeldern – Familiensozialisation, Schulsozialisation, Sozialisation für und durch den Arbeitsmarkt in Hinblick auf Karriere und Führung sowie Einkommensverhältnisse – arbeitet sie die gesellschaftlichen Folgen für beide Geschlechter heraus und belegt die immer noch wirksamen Blockaden im emanzipatorischen Transformationsprozess.

Deutlich wird unter anderem die Diskrepanz zwischen höheren Bildungsabschlüssen von Mädchen und Frauen und ihrer Marginalisierung durch mangelnde Förderung ihrer Begabungen sowie mangelnde Präsenz in akademischen Spitzenpositionen und Führungspositionen in der Wirtschaft.

Das Fazit der Autorin: Die Barrieren haben sich vom Bildungs- in den Beschäftigungsbereich verlagert. Um Inklusion zu fördern plädiert sie für strukturelle Veränderungen zum Beispiel durch Diversity Management und Gender Mainstreaming aber auch für Quotierung, Unterstützung von Familien bei der Wahrnehmung von Erziehungs- und Bildungsaufgaben sowie für Empowerment von benachteiligen Gruppen.

Brigitte Dorst thematisiert in ihrem Beitrag – ihrer Abschiedsvorlesung als Professorin in der Sozialen Arbeit – die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit aus philosophischer Perspektive. Sie kontrastiert den globaler Trend der Verschiebung hin zum Weiblichen mit der weltweit immer noch vorherrschenden Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen und zeigt auf, wie bedeutsam die Kategorie Gender als Analyseinstrument für Lebenskontexte und Geschlechterverhältnisse ist. Im Einsatz für eine globale Geschlechtergerechtigkeit bezieht sie sich auf die amerikanische Aristotelikerin und Philosophin Martha Nussbaum, die durch Reflexion über die Gemeinsamkeiten der menschlichen Lebensform bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Unterschiedlichkeiten die Konzeption eines guten menschlichen Lebens entwirft.

Als Beitrag der Psychologie zu einem solchen guten Leben identifiziert Dorst die Unterstützung bei der psychischen Arbeit der Identitätsgewinnung und –erhaltung, die in unserer Gesellschaft besonders an Beruf, Arbeit und Leistung geknüpft sind. Hier bezieht sich die Autorin vor allem auf das Individuationskonzept von C. G. Jung. Zum Schluss ihres Beitrags legt sie die Voraussetzungen für eine neue Beziehungskultur im Geschlechterverhältnis dar.

Ebenfalls aus philosophischem Blickwinkel setzt sich Notker Schneider mit Geschlechtergerechtigkeit auseinander. Ausgehend von der Erkenntnis, dass es keine klare Definition von Gerechtigkeit gibt, wohl aber Strukturmerkmale, die den Begriff vor einer Beliebigkeit in der Anwendung schützen, nutzt er Gerechtigkeitsmodelle, um eben diese Strukturmerkmale zu erfassen.

In Rückbezug auf Aristoteles beschreibt er die Verteilungsgerechtigkeit, deren Kriterien nicht analytisch bestimmt, sondern politisch ausgehandelt werden müssen. Dabei bezeichnet der Autor es als Paradoxie des Geschlechtergerechtigkeitsdiskurses, dass eine Politik der Egalität Ungleichheit sogar verstärken kann, während die Berücksichtigung von Differenz die Chance eröffnet, Gleichheit zu fördern. Einer Verteilungsgerechtigkeit können wir uns auch annähern – er bezieht sich hier auf Rawls –, wenn Entscheidungen ohne Ansehen der Person unter einem „Schleier des Nichtwissens“ getroffen werden.

Bei der Einschätzung der Relevanz von Differenzen greift der Autor auf die Ursachen systematischer geschlechtsspezifischer Verzerrungseffekte von Eichler zurück (gender bias). Exemplarisch analysiert er schließlich differierende Erwerbsbiographien und geschlechtsbedingte Einkommensunterschiede in Hinblick darauf, was als gerecht bewertet werden kann. Er kommt zu dem Schluss, dass die Berücksichtigung von Differenzen wirksamer als einfache Gleichheitsvorstellungen zur Beseitigung von Diskriminierungen beiträgt.

Diana Auth, Simone Leiber und Sigrid Leitner zeigen auf, welche Auswirkungen die deutsche Sozialpolitik auf das Geschlechterverhältnis hat, obwohl sie formal geschlechtsneutral angelegt ist. Die impliziten Vorannahmen einer kontinuierlichen Vollzeiterwerbskarriere und einer Arbeitsteilung nach dem Ernährer-Hausfrauen-Modell haben aber zur Folge, dass Männer stärker vom sozialen Sicherungssystem profitieren als Frauen.

Neuere sozialpolitische Maßnahmen wie das Elterngeld oder die Pflegezeit werden von den Autorinnen daraufhin überprüft, ob sie zu einer größeren Geschlechtergerechtigkeit beitragen. Indikatoren dafür wären eine zunehmend partnerschaftliche Teilung der Sorgearbeit, größtmögliche finanzielle Unabhängigkeit von Erziehenden und Pflegenden, sowie die Vereinbarkeit von Sorge- und Berufsarbeit. Indem die neueren Regelungen die unbezahlte Betreuungs- und Pflegearbeit in der Familie berücksichtigen, erfahren diese traditionellen Frauenarbeitsbereiche tatsächlich eine Aufwertung. Die Analyse zeigt aber auch, dass eine größere Geschlechtergerechtigkeit nur teilweise erreicht wird. Die Autorinnen entwickeln auf Basis ihrer Analyse konkrete Reformperspektiven.

Hella Gephart geht der Frage nach, warum es Paaren, die Eltern geworden sind, so schwer fällt, familiale Belastungen ausgewogen zu verteilen. Im Gegenteil: nach der Geburt eines Kindes nimmt der Anteil berufstätiger Frauen ab und die Haushaltsaufgaben verschieben sich zulasten der Mütter. Diese Retraditionalisierung lässt sich unabhängig von Millieu und Lebensmodell beobachten und ist begleitet von einer Diskrepanz zwischen eher egalitären Einstellungen und Wünschen und dem tatsächlichen Verhalten. Die Autorin erklärt diese Diskrepanz anhand verschiedener Faktoren, die dazu beitragen, dass sich das männliche Alleinernährer-Modell in der Bundesrepublik Deutschland in Familien mit Kindern zunächst nur in ein Ernährer-Zuverdienermodell verschoben hat.

Zwar werden männlich und weiblich konnotierte Aufgabenbereiche auch aktiv gewählt – z. B. als Bewältigung der Verunsicherung in der Umbruchsituation der Familiengründung, gleichsam als ein sich Vergewissern der eigenen Geschlechtszugehörigkeit. Doch egalitäre Aushandlungsprozessen werden vor allem durch historisch-ökonomische Einflüsse sowie durch politische und unternehmensbezogene Rahmenbedingungen begrenzt. Vor allem fehlen Unterstützung, Kreativität und Vorbilder für Verständigung darüber, wie eine gemeinsame Verantwortungsübernahme gestaltet werden kann.

Brigitte Dorst

Hella Gephart

Renate Kosuch