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»Mein expressionistisches Jahrzehnt«

Paul Raabe berichtet über seine Tätigkeit in Marbach

  • Paul Raabe: Mein expressionistisches Jahrzehnt. Anfänge in Marbach. Hamburg, Zürich: Arche 2004. 368 S. 22 Abb. Gebunden. EUR 24,00.
    ISBN: 3-7160-2328-0.
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Wer wie Paul Raabe an drei Orten Außerordentliches bewirkte, hat sich ein vor Rost und Motten geschütztes Denkmal im Bewusstsein der Zeitgenossen geschaffen. Damit auch die Nachgeborenen nicht so schnell vergessen, was er in Marbach, Wolfenbüttel und Halle an der Saale leistete, hat er in drei Bänden davon Rechenschaft abgelegt. So ist eine ›Trilogie‹ über seine drei ›Lebenswerke‹ entstanden. Zunächst war der Band Bibliosibirsk oder Mitten in Deutschland. Jahre in Wolfenbüttel (1992) erschienen. Über das Jahrzehnt in Halle, in dem die Rettung und der Wiederaufbau der Franckeschen Anstalten gelangen, schrieb er sofort nach Abschluss dieser Arbeit: In Franckes Fußstapfen. Aufbaujahre in Halle an der Saale (2002). Die erste Station seiner unermüdlichen Wirksamkeit hat er zuletzt in dem hier anzuzeigenden Band über sein eigenes »expressionistisches Jahrzehnt« dargestellt – dazwischen liegen mehr als vierzig Jahre.

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Paul Raabe (Jahrgang 1927) wurde als Sechzehnjähriger im Februar 1943 eingezogen und auf den Flughäfen in Zwischenahn und Sandkrug im Oldenburger Land als Flakhelfer eingesetzt. Nach Kriegsende fand er als unbezahlter Volontär eine Anstellung an der Landesbibliothek Oldenburg und besuchte vom Frühjahr 1948 an im zerstörten Hamburg die Bibliotheksschule. Dort wurde er im selben Jahr Dipl.-Bibliothekar und erhielt in Oldenburg eine Bibliotheksstelle. Von 1951 bis 1957 studierte er in Hamburg Germanistik und Geschichte. 1957 ist er mit einer Arbeit über Hölderlins Briefe promoviert worden. 1958 wurde er Leiter der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Im Herbst 1968 trat er sein neues Amt als Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel an.

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Raabe berichtet in diesem Band darüber, wie er den literarischen Expressionismus zunächst für sich selbst entdeckte und dann zu seinem Forschungsgebiet wählte, das in engstem Zusammenhang mit seiner bibliothekarischen Tätigkeit in Marbach stand. Aber nicht nur die persönliche Geschichte mit zahlreichen Anekdoten seines »expressionistischen Jahrzehnts« wird ausgebreitet. In vielen Kapiteln geht es auch um die Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte der Wiederentdeckung des Expressionismus nach dem Kriege. So mischen sich auf eine gelegentlich geradezu unterhaltsame Weise private Lebenserinnerungen mit literarhistorischen und kulturwissenschaftlichen.

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Literarischer
Expressionismus

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Paul Raabe teilte mit den Angehörigen seiner Generation das Nichtwissen über die künstlerische und literarische Bewegung zwischen 1910 und 1920. Der Zweite Weltkrieg und zuvor die Verfemung durch die Nationalsozialisten hatten scheinbar ganze Arbeit geleistet.

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Seine erste Annäherung an den literarischen Expressionismus ermöglichte ihm ein Auftrag, den ihm der Leiter seiner Bibliotheksschule vermittelte: Ein Hamburger Apotheker, Dr. jur. Kurt Otte, hatte seit den zwanziger Jahren ein einzigartiges Kubin-Archiv aufgebaut und suchte einen Archivar und Bibliothekar zur Betreuung und Erschließung. In den Briefen dieses Archivs lernte Raabe Kandinsky, Franz Marc und Paul Klee kennen. Sein größtes Leseerlebnis waren jedoch die ebenfalls vorhandenen Werke von Franz Kafka, der als Zeitgenosse der Prager Expressionisten mit Kubin bekannt war. Aus dieser Tätigkeit entstand die Monografie Alfred Kubin. Leben – Werk – Wirkung; dank ihrer zahlreichen Abbildungen und sorgsamen Gestaltung wurde sie als eines der schönsten Bücher 1957 ausgezeichnet. Inzwischen hatte Raabe im Herbst 1953 seine Oldenburger Bibliothekarsstelle aufgegeben, um sich vom vierten Semester an ganz seinem Studium widmen zu können. Er hatte eine Anstellung als Forschungsassistent bei Prof. Hans Pyritz erhalten und arbeitete an dessen Goethe-Bibliographie mit. Nebenbei half er seinem Doktorvater Adolf Beck für einen Stundenlohn von einer Mark bei der Kommentierung seiner Hölderlin-Briefausgabe. Raabe hat unter dem launischen und tyrannischen Goetheforscher Pyritz gelitten. Diese Erfahrungen haben ihm später die Entscheidung leicht gemacht, keine akademische Karriere anzustreben. Dagegen wurde der Assistent von Pyritz, Karl Ludwig Schneider, dank seiner Studien zum literarischen Expressionismus einer der wichtigsten Anreger für seine spätere Tätigkeit. Raabe muss es auch beeindruckt haben, dass Schneider wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Widerstandsgruppe mit Verbindung zur Münchner »Weißen Rose« 1943 verhaftet und erst von den Amerikanern aus dem Zuchthaus befreit wurde. Durch Schneider wurde Paul Raabe mit der kritischen Editionsarbeit an Werken von Ernst Stadler und Georg Heym vertraut. 1957 ist ihm die Mitarbeit an der Edition der Tagebücher und Briefe von Georg Heym angeboten worden. Wie er in Neuruppin im chaotischen Schularchiv der Fontane-Oberschule, die Heym besucht hatte, Schulakten und Aufsätze Heyms fand, wird mit Unterhaltungswert erzählt. Eine bessere Einführung in die Erforschung des Frühexpressionismus hätte sich Raabe nicht wünschen können. Schneider hat ihn »auf die Fährte« (S. 43) gesetzt. 1957 kündigte er die Stelle bei Pyritz. Nach der Promotion konnte er sich ganz seiner neuen bibliothekarischen Aufgabe in Marbach und der Expressionismusforschung widmen.

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Mitte Februar 1958 begann Paul Raabe seine Tätigkeit als Bibliothekar im Deutschen Literaturarchiv. Diese Stelle war von der Deutschen Schillergesellschaft ausgeschrieben worden, nachdem sie beschlossen hatte, dem schwäbischen Dichterarchiv und -museum ein Deutsches Literaturarchiv für Dichternachlässe der Moderne anzugliedern. Wie es bei Raabe nicht anders zu erwarten war, hat er die zunächst bescheidene Museumsbibliothek zu einer eigenständigen und rundum erschlossenen Spezialbibliothek zur neueren deutschen Literatur ausgebaut. Als er sie beim Weggang nach Wolfenbüttel 1968 seinem Nachfolger Ludwig Greve übergab, umfasste sie 120.000 Bände zur deutschen Literaturgeschichte zwischen 1880 und der damaligen Gegenwart. Außer dem quantitativen Ausbau der Bibliothek war der Aufbau eines differenzierten Bibliothekssystems intendiert, das auch einzelne Beiträge in literarischen und literaturwissenschaftlichen Zeitschriften, Sammelwerken, Festschriften und Anthologien verzeichnete. Der Expressionismus rückte für Raabe immer mehr ins Zentrum seines Interesses. Zunächst war er noch mit den Arbeiten für die Heym-Ausgabe beschäftigt. Der Kontakt mit dem Expressionismussammler Wilhelm Badenhop aus Wuppertal erwies sich als außerordentlich fruchtbar. Raabe gelang es, den Sammler mit seiner Bibliothek nach Marbach zu holen und als Bibliothekar anstellen zu lassen – kurz vor der Übersiedlung starb er am 11. Januar 1961. Zu den wichtigen Expressionismusherausgebern zählt auch der junge Paul Pörtner, der neben Schneider editorisch am meisten für den frühen Expressionismus getan hat. Der Abschluss seines Quellenwerks Literatur-Revolution 1910–1925 war mit einem dritten Band geplant. Wegen philologischer Mängel und willkürlicher Textauswahl, die Raabe als Gutachter bemängelte, zog sich die Mainzer Akademie als Hauptherausgeber zurück. So ist der Band nie erschienen. Kurt Pinthus, der berühmte Herausgeber der Anthologie Menschheitsdämmerung, war schon 1958 nach Marbach gekommen. Er wurde Raabes Freund und siedelte mit seiner 6.500 Bände umfassenden Bibliothek von New York 1967 nach Marbach über und starb dort 1975.

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Raabe hat auch den alten Ludwig Meidner, der im Berlin von 1912 mit zahlreichen Autoren befreundet war und selbst expressionistische Bücher veröffentlicht hat, mehrfach besucht. Er wunderte sich allerdings darüber, dass Meidner seine expressionistischen Bilder und Texte sehr distanziert beurteilte. Er ist 1966 in Darmstadt gestorben. – Thea Sternheim war zwanzig Jahre mit dem Schriftsteller Carl Sternheim verheiratet gewesen, schrieb selbst und war mit vielen Expressionisten persönlich befreundet oder bekannt gewesen. Als vorzügliche Fotografin hat sie die wichtigen Zeitgenossen und Expressionisten porträtiert. Sie hat die Papiere Sternheims und ihre eigenen Tagebücher – natürlich nicht ohne Zutun Raabes – dem Deutschen Literaturarchiv geschenkt.

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Der Höhepunkt von Raabes ›expressionistischem Jahrzehnt‹ war die große Expressionismusausstellung, die 1960 in Marbach gezeigt wurde. Während der Expressionismus in der bildenden Kunst bereits populär war, musste der literarische Expressionismus geradezu wieder entdeckt werden. Dabei halfen die Überlebenden jener Generation entscheidend mit. Raabe verstand es, alle wichtigen Autoren oder deren Witwen ausfindig zu machen und erhielt eine Fülle von Mitteilungen, Veröffentlichungen und Leihgaben für die Ausstellung. Auf die reichen Bestände, die in Marbach inzwischen gesammelt worden waren, konnte zurückgegriffen werden. Ein Novum dieser Ausstellung waren die Fahnen mit Gedichten expressionistischer Autoren. Ludwig Greve, Raabes wichtigster Mitarbeiter und Kollege, hatte auf der Achalm gelebt und war mit dem Holzschneider HAP Grieshaber und dessen jungem Schüler Josua Reichert befreundet, der die Fahnen entwarf und bedruckte. Das Katalog-Buch von 350 Seiten zeigte auf dem Umschlag das verkleinerte Ausstellungsplakat, einen Holzschnitt Grieshabers. Am 8. Mai wurde die Ausstellung feierlich in der Marbacher Stadthalle vor 500 Gästen eröffnet. Es war die bisher größte Vernissage in Marbach. Hermann Kasack, damals noch Präsident der Darmstädter Akademie, hielt die Festrede über »Die deutsche Literatur im Zeichen des Expressionismus«. Zahlreiche Autoren oder deren Witwen waren gekommen oder besuchten die Ausstellung in den nächsten Monaten. Für Raabe war es die erste große Ausstellung. Er wollte die Vielfalt der expressionistischen Bewegung dokumentieren. So waren mehr als 100 expressionistische Autoren mit ihren Hauptwerken, oft mit Handschriften, Fotos und Dokumenten vertreten. Auch die vielen Schriftenreihen und Zeitschriften, aber auch Malerei und Grafik des Expressionismus sollten einen lebendigen Eindruck von jener »ekstatischen Zeit« vermitteln. Die Ausstellung wurde zu einem enormen Erfolg, erhielt hymnische Besprechungen in allen großen Zeitungen. Die Besucher strömten den ganzen Sommer hindurch nach Marbach. Erfreulicherweise waren vor allem Schüler und Studenten begeistert über die ihnen bisher völlig unbekannte literarische und künstlerische Welt in dieser Ausstellung.

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Im Zusammenhang mit diesem überragenden Marbacher Ereignis, mit dem die Institution an den großen Erfolg des Schiller-Gedenkjahrs 1955 anschließen konnte, gedenkt Paul Raabe seines Kollegen und Freundes Ludwig Greve, seines jüdischen Schicksals, aber auch seiner wenig bekannten Lyrik. Greve ist 1991 verstorben. Wegen des Ausstellungskatalogs gab es mit Hermann Kasack eine heftige Auseinandersetzung. Greves knappe Einleitung wurde auf der letzten Umschlagseite gedruckt. Sie war als Liebeserklärung an die »Generation unserer Väter« gedacht. Aber Hermann Kasack fühlte sich zutiefst beleidigt und nannte die Einleitung in einem offenen Brief der Stuttgarter Zeitung vom 2. Juli 1960 einen »höchst fragwürdigen Text«. Greve hat ausführlich darauf geantwortet. Diesem Kasackschen Einwand zum Trotz wurde der Katalog dank seiner weiten Verbreitung (das 23. Tausend wird noch in Marbach verkauft) zu einem großen Erfolg und nützlichen Handbuch mit biografischen und bibliografischen Notizen, die in dieser Fülle und Genauigkeit bisher nirgendwo zu finden waren. »Die Expressionismus-Ausstellung, der Katalog und überhaupt die Bemühungen des Deutschen Literaturarchivs führten dazu, dass eine vertriebene Generation von Autoren in Marbach eine Heimat fand. Das war damals der schönste Lohn unseres Einsatzes.« (S. 119)

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Begegnungen

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Eine lebendige Geschichte des Expressionismus erzählt Raabe in dem umfangreichen Kapitel »Begegnungen«. Zahlreiche Autoren des Expressionismus oder ihre Witwen sind nach Marbach gekommen oder wurden von Raabe auf seinen Reisen besucht: Alexandra Pfemfert und Nell Walden, Wilhelm und Erna Klemm, Kurt Hiller, Nico Rost und Ludwig Kunz, Franz Jung, Claire Goll, Sylvia von Harden, Ruth Gassner-Hirsch, Else Levi-Mühsam. Am Ende dieses Kapitels erzählt Raabe vom Tod Kurt Wolffs, einer für alle, die sich mit dem Expressionismus beschäftigen, legendären Gestalt. Ab 1913 führte er seinen eigenen Verlag. Für 1963 war ein Besuch in Marbach mit Paul Raabe vereinbart. Wolff wurde in Ludwigsburg von einem rückwärts fahrenden LKW an die Hauswand gedrückt, starb an den inneren Verletzungen und wurde auf dem Marbacher Friedhof beigesetzt. Klaus Wagenbachs Verlagsgründung knüpfte an dessen verlegerische Ideale an. Der erste Band seiner »Quarthefte« veröffentlichte Wolffs Betrachtungen und Erinnerungen eines Verlegers (1965). Wolff hatte ein sehr distanziertes Verhältnis zum Expressionismus. Kritisch bekannte er: »Es wurde mein verfluchter, verhasster Ruhm, Verleger des ›Expressionismus‹ gewesen zu sein.« (S. 168)

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Die folgenden Kapitel sind entweder dem Nachklang der großen Ausstellung und weiteren Expressionismusstudien Raabes, teilweise eher anekdotischen Berichten über Reisen und letzten Veröffentlichungen zum Thema gewidmet. Die Marbacher Ausstellung wurde noch 1960 in München in der Lenbach-Galerie, dann 1967 in der Akademie der Künste in West-Berlin, schließlich sogar in New York, im dortigen Goethe-Haus, dann in Hamburg in der Staats- und Universitätsbibliothek und zum Schluss in Florenz in der dortigen Nationalbibliothek gezeigt. Bei den Ausstellungseröffnungen ergaben sich durch die ehemaligen Beteiligten als Besucher neue Kontakte. In den USA konnte Raabe mehrere emigrierte Expressionisten besuchen. Schließlich wurde 1961 eine Tafelausstellung zum deutschen Expressionismus zusammengestellt, die mit Reproduktionen von Ölbildern und Filmen durch die Welt wanderte.

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»ad fontes«

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Eine letzte große Phase seiner eigenen Forschungen stellte Paul Raabe unter das humanistische Motto »ad fontes«. Für die Zeitschrift Imprimatur erarbeitete er mit deren Herausgeber Siegfried Buchenau fast ein ganzes Heft mit Aufsätzen, Quellen und einer Bibliografie der expressionistischen Zeitschriften (1962). Der Traditionsverlag Cotta übernahm den Nachdruck der Aktion (Jahrgänge 1911 bis 1914). Paul Raabe bearbeitete den Textteil und die Biografie der 350 Autoren. Der Kösel Verlag sorgte für den Nachdruck der Jahrgänge von 1915 bis 1918; die restlichen Jahrgänge erschienen 1976 bei Kraus Reprint Nendeln. Quasi en passant schrieb Paul Raabe 1961 zur Eröffnung der »Sammlung Metzler« seine Einführung in die Bücherkunde zur deutschen Literaturwissenschaft; 1962 folgte die Quellenkunde zur neueren deutschen Literaturgeschichte und 1964 Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. In der Mitte der sechziger Jahre konnte Raabe bei dem neu gegründeten Deutschen Taschenbuchverlag Texte und Dokumente zum Expressionismus veröffentlichen und dadurch auch eine breitere Leserschaft erreichen. Einige damals geplante Quellenwerke konnten nicht realisiert werden. Die Habilitationsschrift zur Entwicklungs- und Begriffsgeschichte des Expressionismus, die der Tübinger Germanist Klaus Ziegler unterstützte, blieb Fragment – nach seiner Berufung nach Wolfenbüttel erwies sich eine Habilitation in Tübingen wegen der Venia legendi-Verpflichtungen als hinderlich. 1967 konnte sich Paul Raabe in Göttingen, das ja von Wolfenbüttel nicht allzu weit entfernt ist, kumulativ habilitieren. Vielleicht wird die große Studie in den nächsten Jahren noch vollendet.

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In den letzten Marbacher Jahren reiste Raabe nach Israel und konnte Max Brods Archiv nutzen und zahlreiche Überlebende des Expressionismus besuchen. Die Bekanntschaft mit Eduard Goldstücker brachte Raabe die Einladung zu einer Konferenz über deutsche Literatur in Prag ein. Die Tagung auf Schloss Liblice war nach der berühmten Kafka-Konferenz von 1963 ein Markstein des Prager Frühlings. Auch in Berlin war Raabe an einem der größten frühen Kafka-Kolloquien der Akademie beteiligt. Klaus Wagenbach spielte dabei eine führende Rolle. Die dort versammelten Kafka-Forscher beschlossen die Vorbereitung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe, und Raabe sollte Max Brod für die Ausgabe gewinnen. In Ost-Berlin machte er Besuche bei Lilly Becher, Wieland Herzfelde und Claire Jung.

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Die letzten Kapitel gelten bereits den ersten Planungen für die Modernisierung der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel, deren bisheriger Direktor Erhart Kästner durch seine Sammlung moderner Malerbücher zumindest auf einem Sektor der Moderne Eingang in die Traditionsbibliothek verschafft hatte. Für Raabe war die neue Aufgabe eine Herausforderung: Die alte Bibliothek wollte er nach dem Vorbild amerikanischer Forschungseinrichtungen in eine moderne internationale Forschungsbibliothek umwandeln. Ihre Aufgabe sollte die Erforschung der europäischen Kulturgeschichte auf der Basis gedruckter und ungenutzter Quellen sein. Am Ende des Marbacher Jahrzehnts, aber auch schon in Wolfenbüttel gelang noch die Vollendung einiger expressionistischer Forschungsvorhaben: Dank Kraus Reprint war der Nachdruck von hundert expressionistischen Zeitschriften, des kompletten Sturm und der Jahrbücher möglich und dank der damals in den Kinderschuhen steckenden EDV wurde eine Erschließung der Zeitschriften durch ein »Journal Index Program« vorangetrieben, das Darmstädter Informatiker entwickelten. 1972 lagen 18 Bände des »Index-Expressionismus« vor. Es folgte ein Nachdruckprogramm einer »Bibliothek des Expressionismus« (100 Bücher) und von neun Schriftenreihen mit weiteren 160 Texten expressionistischer Autoren. Im November 1980 kam es zur Bekanntschaft mit dem amerikanischen Expressionismussammler Robert Gore Rifkind, einem ehemaligen kalifornischen Staranwalt, für dessen Kataloge Raabe wichtige Beiträge schrieb.

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In Zusammenarbeit mit der Marbacher Kollegin Ingrid Hannich-Bode wurde 1985 das große Handbuch Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus vollendet, das 347 Autoren und 8300 ihrer Werke verzeichnet. Hinzu kamen Illustrationen, Handschriftenproben und Fotos. Neue Arbeiten zu Gottfried Benn und zur Rolle Hannovers in dessen Leben folgten 1966, 1983 und 1986. – Der Zürcher Arche Verlag wurde 1982 von Raabes Schwester Elisabeth und Regina Vitali erworben. Seit 1987 erschienen dort Arche-Editionen des Expressionismus. Davon wurden insgesamt bis 1994 dreizehn Bände vorgelegt.

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Rückblick auf das
Marbacher Jahrzehnt

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Im Rückblick auf das Marbacher Jahrzehnt kann Paul Raabe seine Bemühungen um die Rehabilitierung des literarischen Expressionismus zu Recht als erfolgreich bezeichnen. Er bedauert, dass es trotz der Monografien von Sokel bis Vietta / Kemper bis heute keine grundlegende Gesamtgeschichte des literarischen Expressionismus gibt und kein Arbeitskreis zur Erforschung des Expressionismus nach Wolfenbütteler Vorbild entstanden ist. »Erfreulich ist die Entwicklung des Deutschen Literaturarchivs. Seit meinem Fortgang ist es zu einem Zentrum der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts mit zahlreichen Nachlässen auch expressionistischer Autoren und einer 700.000 Einheiten zählenden Bibliothek geworden. […]«. (S. 338) Im Rückblick erscheinen ihm die drei Stationen seiner Tätigkeit wie eine »Steigerung von Stufe zu Stufe. […] In Marbach baute ich ein Haus im Haus, in Wolfenbüttel erweiterte ich ein Haus zu einem Ensemble, in Halle hatte ich es mit einem kleinen Stadtteil zu tun«. (S. 339)

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Dem Band wurde ein nützlicher Anhang angefügt. Er listet Raabes Veröffentlichungen zum Expressionismus (ohne die Aufsätze) auf, weist die Quellen nach und schließt mit einem Personenregister. Der Text ist mit großer Sorgfalt gesetzt. Die wenigen Irrtümer darf man vergessen (S. 262: hatte … hatte; S. 337: Gaskell: recte Gaskill; S. 346: post festem: recte post festum).

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Fazit

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In acht Kapiteln mit jeweils sieben Abschnitten breitet die Darstellung eine Fülle von Details, Anekdoten und Überlegungen aus. Der konsequent beibehaltene ›mittlere‹ Ton ermöglicht angenehme Lektüre. Wenn der Bericht gelegentlich etwas ›egozentrisch‹ klingt, so liegt dies in der Natur der Erzählung von den bewundernswerten Tätigkeiten und der Effizienz eines Forschers und Bibliothekars, Organisators und Wissenschaftsmanagers. Hie und da entsteht der Eindruck, außer Paul Raabe habe sich in den sechziger Jahren kaum jemand mit dem literarischen Expressionismus beschäftigt. Immerhin werden zahlreiche Herausgeber expressionistischer Texte lobend erwähnt. Die germanistischen Autoren von analytischen Arbeiten müssen nicht genannt werden – über sie berichtet Richard Brinkmann in seinem »sympathischen und erfrischend zu lesenden Forschungsbericht« (S. 323) – dies klingt angesichts der gewaltigen Menge der referierten Arbeiten doch ein wenig nach Understatement. Aber wer wollte Paul Raabe die Fokussierung auf die eigene Leistung verdenken? Durch den ›Index Expressionismus‹, die Nachdrucke von Zeitschriften, Jahrbüchern und expressionistischen Reihen, das Zusammentragen von biografischen und werkgeschichtlichen Dokumenten hat Raabe der Erforschung des literarischen Expressionismus eine Quellenbasis geschaffen, wie man sie sich nicht solider und ausgebreiteter denken kann.

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Wird einst die Geschichte der Erforschung des literarischen Expressionismus geschrieben, so liegt in diesem Bericht eine ausgezeichnete Vorarbeit vor. Darin wird die Leistung eines Einzelnen – wohlgemerkt immer in Zusammenarbeit mit hoch motivierten Kolleginnen und Kollegen – in angemessener Form ins rechte Licht gerückt. So ist auch der Titel treffend gewählt – in Anlehnung an die Anthologie expressionistischer Lyrik, die der Verleger Max Niedermayer und seine Lektorin Marguerite Schlüter mit einer Einleitung von Gottfried Benn 1955 vorlegten. Das Possessivpronomen »Mein« charakterisiert den Blickwinkel und das höchst Persönliche von Paul Raabes Marbacher Arbeit für den literarischen Expressionismus. Dafür kann nur gedankt werden.