Ulrich Busch & Michael Thomas  (Hg.)

 

Ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit.

Facetten einer unvollendeten Integration

 

2015, [= Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Bd. 42], 352 S., Tab. u. Abb., ISBN 978-3-86464-100-8, 36,80 EUR

 

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Inhalt

 

Vorwort                                                                                                  7

Ulrich Busch, Michael Thomas

 

Aufholen ohne einzuholen. Ein Vierteljahrhundert ostdeutscher Integration     17

Ulrich Busch

 

Ökonomie zweiter Klasse. Zur Entwicklung der Wirtschaftsleistung Ostdeutschlands im Vierteljahrhundert vor und nach der Vereinigung           59

Jörg Roesler

 

Demographischer Kolonialismus? 25 Jahre deutsche Einheit aus Sicht der Bevölkerungsgeographie    77

Wolfgang Weiß (unter Mitarbeit von Jochen Corthier)

 

Widersprüchliche Einheit. Grenzen der Angleichung – ein Leben mit Unterschieden: Warum eigentlich nicht?  107

Michael Thomas

 

Einheitliches Deutschland? Ein Blick auch auf die oberen und unteren 20 Prozent        129

Rainer Ferchland

 

Polarisierende Konvergenz. Zur Ost-West-Diskrepanz privater Vermögensverhältnisse     165

Ulrich Busch

 

Außenseiter der Macht. Ostdeutsche in den bundesdeutschen Eliten           189

Ray Kollmorgen

 

In der Frauenfrage drei Schritte zurück? Frauen- und Familienpolitik in Deutschland seit 1990    221

Ursula Schröter

 

Transformationserfahrung – Anlass zur Kompetenzentwicklung der Dritten Generation? Eine Annäherung an generationales Lernen im Lebensverlauf   243

Mandy Schulze

 

Der bildungspolitische Einigungsprozess – 25 Jahre danach. Die Wissenschaftsruinen des Westens als Vorbild für die Reformen im deutschen Osten   257

Dieter Kirchhöfer

 

Rückkehr zur universitätsphilosophischen Tradition und postmoderne Vielfalt in der Philosophie    275

Hans-Christoph Rauh

 

Neue Horizonte – Wie aus einem DDR-Forschungsseminar ein internationales wurde    307

Heidemarie Salevsky

 

Zur Mentalität der Ostdeutschen – fünfundzwanzig Jahre nach der deutschen Vereinigung        327

Stephan Wohanka

 

Autorinnen und Autoren                         351

 

 

 

Vorwort

Fünfundzwanzig Jahre sind in der Geschichte eines Volkes keine sehr lange, aber auch keine besonders kurze Zeitspanne. Sie umfassen ein Vierteljahrhundert – und damit mehr als eine Generationsperiode. Die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus brachten es zusammen auf nicht viel mehr Jahre, als seit der deutschen Wiedervereinigung vergangen sind. Und was hat es in dieser Zeit, also von 1919 bis 1945, nicht alles für Veränderungen und Zäsuren gegeben – und welche Konsequenzen waren damit für die Folgezeit verbunden! – Die deutsche Teilung gehörte dazu. Ebenso die mehr als vierzigjährige Existenz zweier deutscher Staaten, der Kalte Krieg und die friedliche Revolution in der DDR im Jahr 1989. Zweifellos waren dies Tatbestände von welthistorischer Bedeutung. Im Rückblick aber erweisen sie sich als bloße Phänomene der deutschen Nachkriegsgeschichte, die mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit ihr Ende gefunden hat. Am 3. Oktober 1990 wurde der Zustand der Teilung Deutschlands friedlich und demokratisch beendet und die staatliche und politische Einheit der Nation wieder hergestellt. Dieser Akt bleibt für alle, die dabei waren und daran teilhatten, für immer unvergessen. Aber er liegt inzwischen auch schon wieder ein Vierteljahrhundert zurück und ist damit bereits selbst Teil der Geschichte geworden.

Fünfundzwanzig Jahre! Bezieht man diese Zeitspanne retrospektiv auf die alte Bundesrepublik und die DDR und setzt das Jahr 1990 gedanklich mit dem Jahr 1949 gleich, so befinden wir uns heute dazu im gleichen Abstand wie damals 1974. Die Nachkriegszeit, der Wiederaufbau, der Kalte Krieg, Stalins Tod, der 17. Juni, das „Wirtschaftswunder“ und die Soziale Marktwirtschaft, der Bau der Berliner Mauer, die Reformen des NÖS, die Revolte von 1968, der Prager Frühling, Willy Brandts Kniefall in Warschau, Ulbrichts Sturz und Honeckers Machtantritt, die Verstaatlichung in der DDR, die Weltfestspiele 1973, die Weltwirtschaftskrise und das Ende des Gold-Dollar-Standards – das alles ist in diesen fünfundzwanzig Jahren passiert. Bis zum Ende der Ära der Zweistaatlichkeit und der Systemkonkurrenz verblieben nach 1974 nur noch anderthalb Jahrzehnte. 1989 zeigten sich bereits die Vorboten des Übergangs in eine neue Zeit.

Angesichts dieser hier nur ausschnitthaft angedeuteten Fülle historisch bedeutsamer Ereignisse in der Vergangenheit stellt sich die Frage: Waren die zurückliegenden Jahre, die zweieinhalb Jahrzehnte seit 1990, wirklich ärmer an Großereignissen und Events als die Zeiträume davor? Leben wir heute in einer geschichtslosen Zeit? Oder ist dies eine falsche Vorstellung? – Gewiss, global und in einigen Regionen ist in den zurückliegenden Jahren viel geschehen. Aber in Deutschland? – Spricht man mit Zeitgenossen darüber, insbesondere mit Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter, so könnte man zu dem Eindruck gelangen, nach der „Zeitenwende“ von 1989/90 sei hier nichts Bedeutsames mehr passiert. Vielleicht ist dies tatsächlich zutreffend und hebt sich Deutschland mit seiner (nicht unproblematischen) Stabilität, Kontinuität und Selbstzufriedenheit von anderen Staaten und Regionen der Welt sichtlich ab. Aber dennoch könnte in dem Eindruck von Ereignislosigkeit eine Fehlwahrnehmung liegen, eine defizitäre Informationsverarbeitung und Unterschätzung der Relevanz aktueller gegenüber historisch zurückliegenden Prozessen. Jedenfalls findet sich hier ein herausforderndes, beunruhigendes Phänomen im Umgang mit der jüngeren Geschichte. Umso wichtiger wäre es, dass gerade auch die Historiker der Leibniz-Sozietät sich diesem Phänomen stellen würden und beispielsweise an Projekten, wie dem hier vorliegenden, mitwirken. Bezüglich der jüngeren Geschichte scheint es hier jedoch – das ist jedenfalls eine (!) mögliche Interpretation für die auffällige Zurückhaltung – in der Profession eine merkwürdige Abstinenz zu geben. Ganz im Unterschied etwa zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR, die inzwischen als geradezu überforscht gilt, oder zu den Ereignissen des Jahres 1989/90, wozu ebenfalls übergenug Recherchen, Studien und Publikationen vorliegen. Hinsichtlich der Herausforderungen, vor denen wir nunmehr fünfundzwanzig Jahre nach der Vereinigung stehen, wäre eine einseitig vergangenheitsbezogene Konzentration auf die epochale Zäsur von 1989/90 allerdings fatal!

Umfragen und Interpretationen zu den Jubiläen von 1989 und 1990 zeigen bei aller Differenziertheit deshalb auch ein anderes Bild: Trotz bestehender Unterschiede sind die Bürgerinnen und Bürger in Ost- und Westdeutschland inzwischen überwiegend im vereinigten Deutschland „angekommen“. Im Osten eher als im Westen. Und die Jüngeren vorbehalts- und komplikationsloser als die Älteren. Mit dem „Ankommen“ ist aber notwendig eine Blickverschiebung verbunden: Im Osten von den unmittelbaren Folgen des Beitritts und der einseitigen Adaption an westdeutsche Muster zur Integration und einer durchaus gesamtdeutschen Modernisierung, im Westen von der Provinzialität der Bonner Republik zur Verantwortung Deutschlands gegenüber Europa, von der einseitigen West-Orientierung zur Öffnung gen Osten, von der Randlage in der alten EG zur zentralen Stellung in der Europäischen Union.

Genau hier zeichnet sich eine gemeinsame Herausforderung ab, für die sich bisher aber wenig Überzeugendes zeigt: Es ist durchaus kein Zufall, um noch einmal auf vorliegende Umfragen zurückzukommen, dass die hierin dokumentierten hohen Zufriedenheitswerte hinsichtlich des Erreichten von artikulierten Unsicherheiten und Befürchtungen bezüglich der weiteren Entwicklung begleitet werden. Über die Umfragen hinaus äußern sich diese zunehmend auch in politisch und sozial destruktiven Tendenzen.

Mit der Blickveränderung und dem Wechsel der Perspektive werden auch die Defizite, Fehler und Probleme von vor 25 Jahren anders reflektiert als früher, als noch die doppelte Referenzfolie „DDR“ und „BRD“ die Debatten dominierte. Natürlich sind die Fehler und Versäumnisse der überstürzten Vereinigung nicht zu ignorieren, ebenso nicht deren Konsequenzen für aktuelle Prozesse und selbst für Gestaltungsmöglichkeiten. Bloße Vergangenheitsfixierung aber und ideologische Korsettstangen sind inzwischen eher selten, da historisch obsolet geworden. Mit dem Perspektivenwechsel verschiebt sich der Fokus eindeutig in Richtung Zukunft. Im Verhältnis zur Zukunft aber wird die Gegenwart zur Vergangenheit, ebenso wie im Verhältnis zur Vergangenheit die Zukunft zur Gegenwart wird.

Fünfundzwanzig Jahre nach Vollzug der deutschen Einheit erscheint es nicht mehr opportun und kaum mehr angemessen, die freilich unvollkommene Realität der Gegenwart mit den Maßstäben der Vergangenheit messen zu wollen. Dies gilt für die frühere Bundesrepublik, die es heute nicht mehr gibt, mehr aber noch für die untergegangene DDR, mit der zugleich ein sozioökonomisches und kulturelles System von der Agenda verschwunden ist. Kaum jemand will sie zurückhaben; was eine positive Bewertung einiger Elemente des staatssozialistischen Gesellschaftssystems aber keineswegs ausschließt, so etwa von Teilen des Bildungs- und des Gesundheitswesens, der Gleichberechtigung der Frauen oder bestimmter kultureller Trends. Andererseits wies auch die alte Bundesrepublik, zumindest in ihrer prä-neoliberalen resp. fordistischen Ära, durchaus Züge auf, die als erhaltenswert bzw. als wert, wieder hergestellt zu werden, anzusehen sind (vgl. Busch/Land 2013). Generell aber kommt es darauf an, die Probleme der Gegenwart an den Herausforderungen der Zukunft zu messen und dafür europäische bzw. globale Maßstäbe anzulegen. Bestimmte Erfahrungen aus der Vergangenheit mögen dafür mitunter hilfreich sein, konkret aber können sie zur Findung der Zukunftslösungen nur wenig beitragen. Ähnliches wäre aber auch über einige Bestandsaufnahmen vollzogener oder ausstehender deutsch-deutscher Angleichungsprozesse zu sagen. Der Fokus lässt sich so nicht eingrenzen.

Der hier konstatierte und aufzugreifende Perspektivenwechsel schließt die für uns zentrale Erkenntnis ein, dass fünfundzwanzig Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit die Konturen des vereinigten Deutschlands weitgehend „gesetzt“ sind und als solche den unhintergehbaren strukturellen, institutionellen sowie kulturellen Kontext für die weitere Gestaltung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungsprozesses bilden. Das hat nichts zu tun mit naiver Apologetik; ganz im Gegenteil: viele der Probleme und Herausforderungen treten so eher noch schärfer hervor. Diesen Ausgangspunkt aber zu ignorieren hieße, sich programmatischen Phantastereien und politischen Abenteuern hinzugeben. Überlegungen und Gestaltungskonzepte, wie sie in den ersten Jahren nach 1990 für Ostdeutschland konzipiert wurden und womit das Ziel verfolgt wurde, den Landstrich zwischen Ostsee und Erzgebirge zu einer der dynamischsten Wirtschaftsregionen Europas zu machen, ihn als zentralen Industriestandort zu erhalten und auf dieser Grundlage eine selbst tragende Wirtschaftsentwicklung zu generieren sowie den Lebensstandard baldmöglichst dem im Westen anzugleichen, haben sich u.E. nach fünfundzwanzig Jahren mehr oder weniger erfolgreicher Bemühungen weitgehend „erledigt“. Dies gilt sowohl für die von der jeweiligen Bundesregierung initiierten Programme Aufschwung Ost, Aufbau Ost usw. als auch für alternative Konzepte und Lösungsansätze wie das Programm zur Erhaltung industrieller Kerne, das einer autarken Energieversorgung Ostdeutschlands, eines besonderen öffentlichen Beschäftigungssektors u.a.m. Nicht viel anders sieht es hinsichtlich von Vorstellungen alternativer Wege zur Vereinigung oder von Ansprüchen einer gleichberechtigten Teilhabe der Ostdeutschen aus. Mit allem sind nicht unerhebliche Folgen verbunden: der Vereinigungsprozess ist deshalb bis heute nicht abgeschlossen, sondern in wichtigen Punkten unvollendet.

Infolge des Vereinigungsmodus‘ als Beitritt der neuen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wird es auch weiterhin insbesondere Ostdeutschland vorbehalten bleiben, sich zu transformieren und Anpassungsleistungen zu erbringen. Andererseits könnte gerade der skizzierte Perspektivenwechsel deutlicher machen, dass es dabei auch um eigenständige Entwicklungen gehen kann und muss, dass sich durchaus an bestimmte Leistungen aus der Vergangenheit anknüpfen lässt und dass es gerade auch für Ostdeutschland die Chance gibt, als Vorreiter gesamtdeutscher Entwicklung zu fungieren, zukunftsträchtige Pfade dafür aufzuschließen und Pionierleistungen zu vollbringen.

Die Beiträge dieses Bandes folgen sehr unterschiedlich und eigenständig dieser Perspektive, indem sie ausgewählte Fragen der wirtschaftlichen, sozialen, demografischen, kulturellen und politischen Entwicklung Ostdeutschlands in den Fokus nehmen, diese aber unter dem Aspekt ihrer Relevanz für Gesamtdeutschland (und darüber hinaus) diskutieren. Die zwölf Autorinnen und Autoren rekrutieren sich aus der Klasse „Sozial- und Geisteswissenschaften“ der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. sowie dem Arbeitskreis „Gesellschafts- und Klassenanalyse“ und dessen Umfeld. Die Konzipierung, Zusammenstellung und Diskussion der dreizehn Beiträge ist ein Beispiel interdisziplinärer Arbeit. Für die Mitwirkung ist allen Autorinnen und Autoren zu danken, auf eine fruchtbare weitere Diskussion der aufgeworfenen Fragen und Überlegungen ist zu hoffen.

Im einleitenden Aufsatz von Ulrich Busch wird versucht, den Gesamtprozess der Transformation und der Integration Ostdeutschlands aus makroökonomischer Sicht darzustellen. Dabei wird herausgestellt, dass der Osten seit 1990 wirtschaftlich und sozial enorm aufgeholt, gleichwohl aber den Westen noch längst nicht eingeholt hat. Auch fünfundzwanzig Jahre nach Vollzug der deutschen Einheit ist Ostdeutschland eine vom Westen abhängende Transfergesellschaft mit einer nicht selbst tragenden Wirtschaft und einem Lebensniveau, das zu einem beachtlichen Teil über Transferzahlungen finanziert wird. Liest man die Daten zur demografischen und ökonomischen Lage der neuen Bundesländer unter dem Aspekt der Rolle der Bevölkerung und der Wirtschaft als Potenziale für die künftige Entwicklung, so wird offenbar, dass auch in absehbarer Zukunft nicht mit einem Einholen Westdeutschlands zu rechnen ist. Ostdeutschland wird eine vergleichsweise wenig entwickelte und transferabhängige Region bleiben. Das ökonomische und, mit Abstrichen, das soziale und kulturelle Gefälle gegenüber dem Westen erscheint „zementiert“ und eine weitere Angleichung der Lebensbedingungen deshalb nur als „begrenzte Konvergenz“ denkbar. Dies ist das unbefriedigende Ergebnis der praktizierten Integrationspolitik in Deutschland und des Aufbau Ost; es bildet zugleich aber auch den Ausgangspunkt und die Chance für alternative Entwicklungswege in der Zukunft.

Diese Position wird in den beiden folgenden Aufsätzen erhärtet: aus der Sicht der Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungskraft und aus demografischer Perspektive. Jörg Roesler untersucht, wie sich die Leistungskraft der beiden deutschen Volkswirtschaften bzw. Teilökonomien in dem Vierteljahrhundert vor der Vereinigung und in den fünfundzwanzig Jahren danach entwickelt haben. Dabei stößt er auf bemerkenswerte Parallelen. Sein Fazit lautet: So lange sich an der durch das Vorherrschen von Merkmalen einer Branch plant economy charakterisierten ostdeutschen Wirtschaft nichts ändert, wird die Bundesregierung in ihrem Bestreben, die neuen an die alten Bundesländer hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft anzugleichen, kaum erfolgreicher sein als seinerzeit die SED-Führung bei ihren vergeblichen Versuchen, den Westen ökonomisch einzuholen. Die ostdeutsche Wirtschaft wird entgegen allen Behauptungen der Politik gegenüber Westdeutschland das bleiben, was sie schon zu DDR-Zeiten war, eine „Ökonomie zweiter Klasse“.

Wolfgang Weiß zeigt in seinem Beitrag, wodurch die demografische Entwicklung in Ostdeutschland seit 1989/90 bestimmt wird. Auf Grund spezifischer Umstände und historischer Besonderheiten kommt es hinsichtlich der Dynamik der demografischen Veränderungen hier zu einer Überlagerung des allgemeinen demografischen Wandels mit Wanderungsprozessen, die in ihrer Auswirkung aber ähnliche Effekte zeigen wie der demografische Wandel, nämlich Überalterung und Schrumpfung der Bevölkerung. Die Folge ist eine Zuspitzung der Problemlage, die für die regionalen Akteure eine große Herausforderung darstellt. Die Region wurde dadurch zu einem idealen „demografischen Beobachtungslabor“: Ostdeutschland geht demografisch anderen Regionen Europas voran, aber es vermag auch zu zeigen, wie es gelingen kann, den demografischen Wandel demokratisch zu bewältigen. Zu den wichtigsten Momenten gehören dabei die Zukunftsfestigkeit auf dem Arbeitsmarkt, eine nachhaltige, der Bevölkerungsentwicklung Rechnung tragende Wirtschaftsentwicklung, die vollständige Emanzipation der Frau sowie die Überwindung jeglicher Form von „Bevölkerungspolitik“.

In der Folge schließt der Beitrag von Michael Thomas sowohl an den von Weiß wie an die beiden anderen an, nimmt deren Aussagen und Erkenntnisse quasi als Voraussetzung auf, um den Blick auf die differenzierte regionale Entwicklung in Deutschland zu legen. Er spitzt vorliegende Befunde auf die These zu, dass eine sich an einseitigen Prämissen orientierende Vereinigungs- bzw. Angleichungsperspektive erforderliche und sich aufzeigende regionale Gestaltungsmöglichkeiten ignoriert. Dies betrifft mit ländlich-peripheren oder/und Schrumpfungsregionen einen beachtlichen Teil des Landes. Konstatiert wird eine Blickverengung, die letztlich vor den Herausforderungen kapituliert. Gerade regional zeigt sich, dass wir mit Unterschieden leben können und müssen, was jedoch einen veränderten Umgang mit diesen verlangt.

Die beiden folgenden Texte befassen sich mit Fragen der sozialen Ungleichheit im vereinigten Deutschland. Rainer Ferchland richtet den Blick auf die „oberen“ und die „unteren“ 20 Prozent der Gesellschaft und hinterfragt den Terminus „Einheitlichkeit“ unter dem Aspekt der verifizierbaren sozialen und sozialräumlichen Ungleichheit: Drei dichotome Konstellationen der horizontalen sozialen Ungleichheit – West-Ost, Geschlecht und (ohne bzw. mit) Migrationshintergrund – wurden dafür mit einem binären Schema der vertikalen sozialen Ungleichheit – „untere und obere 20 Prozent“ – konfrontiert. Der „Oben-Unten-Vergleich“ zahlreicher Indikatoren (Bildung; Erwerbsarbeit, Einkommen, Zeit u.a.) ergab, dass sich die soziale Spaltung der Gesellschaft seit den 1990er Jahren vertieft hat und auch jede der analysierten Vergleichsgruppen (West, Ost, Männer usw.) sozial gespalten ist. Das West-Ost-Gefälle hat sich gegenüber den 1990er Jahren zwar vermindert, im Osten sind jedoch Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung überdurchschnittlich verbreitet und die Chancen, diese zu überwinden, gering. Geblieben ist auch ein beträchtlicher Einkommensrückstand, der meritokratisch nicht zu begründen, sondern Ausdruck sozialer Benachteiligung ist. Schlussfolgernd werden Ansatzpunkte dafür genannt, welche Veränderungen jeweils im Verhältnis der dichotomen Konträrgruppen zur Entschärfung sozialer Gegensätze beitragen können.

Ergänzend dazu zeigt der Beitrag von Ulrich Busch, dass, im Unterschied zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, wo in den zurückliegenden Jahren zumindest eine „begrenzte Konvergenz“ erreicht worden ist, hinsichtlich der privaten Vermögensverhältnisse auch nach fünfundzwanzig Jahren kaum Fortschritte zu konstatieren sind. Nach wie vor klaffen die Vermögen in Ost und West erheblich auseinander. Berücksichtigt man die besondere Situation und Historie Berlins und stellt man zudem in Rechnung, dass die „großen“ Vermögen, worauf ein Großteil des Betriebs-, Immobilien- und Geldvermögens konzentriert ist, in Westdeutschland beheimatet sind bzw. Westdeutschen gehören, so errechnet sich aktuell eine Ost-West-Relation von nicht viel mehr als einem Drittel. Diese Diskrepanz der privaten Vermögensverhältnisse wird als besondere Facette allgemeiner ökonomischer und sozialer Ungleichheit, welche für die Gesamtentwicklung der Lebensverhältnisse ein immer größeres Gewicht erhält, interpretiert.

Es folgt ein Aufsatz von Raj Kollmorgen, der sich mit der Stellung der Ostdeutschen in den bundesdeutschen Eliten befasst. Der Beitrag untersucht, mit Bezugnahme auf dazu vorliegende empirische Erhebungen und Analysen sowie auf Basis eigener Recherchen, welchen Platz Ostdeutsche in den bundesdeutschen Eliten seit 1990 einnehmen. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass sie auch nach fünfundzwanzig Jahren Vereinigungsprozess in fast allen Elite-Sektoren deutlich unterrepräsentiert sind. Dabei reicht die Spanne von 20 Prozent im staatspolitischen Sektor bis unter 1 Prozent in den Sektoren Wirtschaft, Justiz oder Militär. Für diese Situation ist ein Bündel sozialer Ursachen und Mechanismen verantwortlich. Neben fallübergreifenden Gründen (quantitativer Minderheitenstatus, elitäre Selbstreproduktionsmechanismen) tragen vor allem der Modus und der Pfad der Vereinigung sowie unterschiedliche Typen der Elitenrekrutierung und -zirkulation zur (differentiellen) Marginalisierung der Ostdeutschen bei. Eine deutliche Steigerung der Anzahl Ostdeutscher in den bundesdeutschen Eliten ist daher auch mittelfristig kaum zu erwarten.

Das wäre sicherlich für die Frauen nochmals einer gesonderten Betrachtung wert. Ursula Schröter geht in ihrem Beitrag allerdings weitaus genereller und umfassender auf die Frauenfrage ein. Während durchaus zunehmend konstatiert wird, dass die DDR zwar hinsichtlich der gleichberechtigten Teilhabe der Frauen am Erwerbsleben gegenüber der BRD einen Vorsprung hatte, und dass sich die hohe Erwerbsneigung der Ost-Frauen auch erhalten hat, was nicht unbedingt zu skandalisieren ist, zeichnet die Autorin Hintergründe und Entwicklungstrends im Vereinigungsprozess nach. So verdichten sich Erfahrungsbericht und soziologische Befunde zu der Aussage, dass die rückwärts gerichtete Vereinigungspolitik durchaus Widerstände erfahren hat, dass sich Persistenzen, ja Auswirkungen auf den Westen zeigen, die vielleicht für die zukünftige Entwicklung interessant sein könnten.

Noch einmal anders stellen sich solche Fragen nach den Verschränkungen von Neuen und Altem, den so sich aufmachenden Konsequenzen, wenn man den Blick auf unterschiedliche Generationen richtet. Prominent dafür ist in jüngster Zeit das Beispiel der Dritten Generation Ostdeutschland. Unter diesem Dach und mit diesem Selbstverständnis hat sich eine Gruppe Ostdeutscher aus den Geburtsjahrgängen zwischen 1975 und 1985 zusammengefunden. Mandy Schulze, selbst eine der Initiatorinnen dieser Gruppe, fragt in ihrem Beitrag danach, ob und inwieweit sich mit den möglichen spezifischen Transformationserfahrungen dieser „Generation“ auch spezifische Transformationskompetenzen verbinden. Kann also die Gruppe ihre Gestaltungsansprüche, die sie deutlich artikuliert hat, auch einlösen? Die Autorin wendet sich den Voraussetzungen und Möglichkeiten biografischer Lernprozesse zu. Sie zeigt aber auch, dass eine daraus erwachsende spezifische Erfahrung – als Voraussetzung möglicher Kompetenz – vielfach gebrochen ist, nicht zuletzt durch Macht- und Eigentumsverhältnisse. Die Chance ihrer Generation liegt nun darin, solche Brechungen und Widersprüchlichkeiten aufzudecken, sie bewusst zu artikulieren und nicht unter einem Generationendach zu verstecken. Gerade so zeigen sich Voraussetzungen aktiver Mitgestaltung.

Mit dem Beitrag von Dieter Kirchhöfer wird noch einmal pointiert und deutlich zugespitzt an die Frage angeschlossen, ob nicht im überstürzten Vereinigungsprozess partiell vorhandene Modernisierungsvorsprünge der DDR aus primär ideologischen Gründen ignoriert und vielfach auf fatale Weise liquidiert worden sind. Sein Beispiel ist die Bildungs- bzw. Schulpolitik. Der Autor geht dabei etwa auf strukturelle Grundlagen des Bildungssystems, auf Leistungsindikatoren oder vor allem frühkindliche Bildung und polytechnische Ausrichtung des Unterrichts ein. Damit versucht er die widersprüchlichen Konstellationen für eine Doppelbewegung einzufangen: Einerseits geht es um die frühe Beseitigung solcher DDR-Hinterlassenschaften, dann aber zeigt sich, wie solche – quasi durch die Hintertür – später wieder Eingang gefunden haben in Bildungspolitik und Bildungspraxis. Wenn der Eindruck nicht täuscht, dass dies Ausdruck für die Einsicht ist, dass das gesamtdeutsche Bildungssystem einer Neugestaltung bedarf, dann wäre selbst dies schon ein positiver Befund.

Im folgenden Beitrag gibt Hans-Christoph Rauh einen Überblick über ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Philosophie in der DDR und deren Transformation nach 1990. Dabei arbeitet er heraus, dass sich die Neuformierung der philosophischen Forschung und Lehre in den neuen Bundesländern als Rückkehr zur universitätsphilosophischen Tradition und postmoderner Vielfalt vollzog, während die ideologisierte und parteipolitisch instrumentalisierte Philosophie des Marxismus-Leninismus bis auf wenige Ausnahmen untergegangen ist. Er zeichnet die verschiedenen Phasen der Entwicklungsgeschichte der DDR-Philosophie nach und zeigt, wie sich alternativ zur üblichen Darstellung eine Theoriegeschichte anhand der Krisenjahre der DDR schreiben ließe. Ergänzt wird diese Darstellung durch eine personalisierte Geschichtsschreibung, welche drei Generationen von DDR-Philosophen unterscheidet, denen nach 1990 ein durchaus unterschiedliches Schicksal beschieden war. Der Beitrag wird ergänzt durch ein chronologisches Literaturverzeichnis, das es erlaubt, die historisch-kritische Aufarbeitung der DDR-Philosophie anhand zahlreicher Quellen nachzuvollziehen.

In einer erweiterten Sicht der in diesem Buch behandelten Thematik folgen zwei Beiträge, worin die Vereinigungsproblematik subjektiv, gebrochen und untersetzt durch die Biografien zweier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, behandelt wird. Damit findet sich eine gerade für den betonten Perspektivenwechsel unerlässliche Position bzw. Herangehensweise, die in den anderen Texten nur partiell aufgenommen wird. Dies betrifft Heidemarie Salevsky, die in ihrem Beitrag aufzeigt, wie sich Kontinuität und transformationsbedingte Veränderungen in einem Forschungsseminar niederschlagen und wie sich der Vereinigungsprozess als Grenzen überwindend und Karrieren fördern erweisen kann. Hier konnten Spielräume aktiv aufgegriffen und genutzt werden – ein eher seltener, wenn auch kein absoluter Ausnahmefall. Als Pendant dazu versteht sich der Text von Stephan Wohanka, in dem die durchaus widersprüchliche Wahrnehmung der deutschen Einheit und deren mentale Verarbeitung durch Personen unterschiedlicher sozialer und altersmäßiger Zurechnung vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und biografischer Brüche diskutiert wird. Zugleich unternimmt der Autor den Versuch einer aufschlussreichen Typologisierung, mit der sich wichtige alltagskulturelle wie politische Trends (gerade in Ostdeutschland) besser verstehen lassen. So schlägt dieser Beitrag noch einmal die Brücke zum übergreifenden Anliegen, nämlich die Frage nach den Erträgen von 25 Jahren deutscher Einheit zugleich mit der Frage nach den Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten in der Zukunft zu verbinden.

 

Ulrich Busch & Michael Thomas

 

 

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