Ein Stück unberührte Zeitgeschichte

Der Roman „Der Empfänger“ von Ulla Lenze zeigt, wie Josef Klein in New York von deutsch-amerikanischen Nazis vereinnahmt wird

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das New York der 1930er Jahre – für den Deutschen Josef Klein, der 1925 die krisenreiche Weimarer Republik verlassen hat, ursprünglich der Inbegriff von Freiheit. Die US-Metropole bietet ihm ein neues, bescheidenes Leben. Josef hat einen Job in einer Druckerei, in seiner Freizeit besucht er hin und wieder Jazz-Bars und findet im Funken ein scheinbar harmloses Hobby, ja eine Art Lebenselixier: „Nur Stimme sein, überall, jeder Zeit. Anfangs wollte er sich weismachen, allein dieser kostbare Zustand schütze ihn vor Elend, wie eine Magie.“ Doch der Amateurfunker gerät in die Fallstricke des deutschen Auslandsgeheimdienstes. Die Autorin Ulla Lenze begibt sich mit der Geschichte um Josef Klein in ein bislang kaum literarisch verarbeitetes Kapitel der Zeitgeschichte und verdeutlicht, dass das Gespenst des Nationalsozialismus auch jenseits des Atlantik aus organisierten Strukturen bestand. Es ist der erste der bisherigen Romane Lenzes, in dem sie aus historischem Stoff und Fiktionalisierungen eine facettenreiche Geschichte webt. Die Grundlage ihres Romans bilden zahlreiche Briefe sowie die Biographie ihres Großonkels Josef Klein. Als Roman und nicht etwa als biographische Nacherzählung möchte die 1973 geborene Autorin ihr Buch auch verstanden wissen. Denn Lenze stellt voran, dass es sich bei Josef Klein primär um eine literarische, demnach fiktional angereicherte Persönlichkeit handelt.  

Josef Klein, der seinen Platz im politischen Weltgewirr Ende der 1930er Jahre zu finden sucht, ist selbst in East Harlem vor den Schatten des Nationalsozialismus keineswegs sicher. Der deutsche Geheimdienst treibt auch in den von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten USA sein Unwesen – was mithin eine der überraschendsten und zugleich beklemmenden Szenen dieses Romans ist. Deutschamerikaner heizen inmitten des Columbus Circle die Stimmung an: „Die Lautsprecher schepperten. Der Redner vorne sprach von Revolution, von Volk, von Rasse, von Patriotismus und Nation. Er stellte Fragen und die Männer riefen Antworten.“ Eine Szene, die man auf amerikanischem Boden in dieser Intensität nicht erwartet hätte. In der aufgekochten Atmosphäre aus Rassismus, Antisemitismus und NS-Ideologie wird der Funkamateur Josef „Joe“ Klein zum Spielball des deutschen Geheimdienstes – was er jedoch zu spät bemerkt. Und nachdem er sich nicht mehr eigenmächtig aus der Verstrickung herauslösen kann, wird ihm bewusst, wie nah der Kriegsausbruch auch in seiner sicher geglaubten transatlantischen Sphäre ist. „Ihm war, als sei der Krieg zwischen den Nationen dort in Reichweite seines Sofas ausgebrochen, wo er sonst döste […].“ Unwillentlich wird Josef Klein nicht nur zum Unterstützer der Nationalsozialisten, sondern gerät ins Visier der amerikanischen Justiz. Für „Joe“ demnach in zweierlei Hinsicht ein heikles Terrain.

Lenze erzählt nicht-chronologisch die Geschichte von Josef Kleins Suche in einer politisch unruhigen Welt. Klein schwankt zwischen einem Sich-Finden und Sich-Verlieren, führt ein ruheloses Leben, das er sich anders vorgestellt hat. So kehrt er nach seiner Abschiebung aus den USA ins Nachkriegsdeutschland des Jahres 1949 zurück, wo er vor völlig neuen Herausforderungen steht, als er bei seinem Bruder Carl in Neuss unterkommt. Zwischen beiden herrscht ein ausgesprochen angespanntes Verhältnis. Der Bruder-Konflikt wird nuanciert erzählt, die Atmosphäre in Carls Haus wirkt stets explosiv. Hintergrund ist das schlechte Gewissen Josefs, der im Gegensatz zu Carl den Vorzug genießen konnte, nach Amerika auszuwandern. Carl aber macht seinem Bruder keine direkten Vorwürfe, vielmehr wirkt hier das Ungesagte. 

Die einzelnen, insgesamt sehr kurzen, schlaglichtartigen Kapitel werden anfangs räumlich und zeitlich datiert, so dass der historische Hintergrund klar als zeitgeschichtliche Orientierung dient. Desorientiert und weitgehend schwer greifbar dagegen bleibt der Protagonist, der zunächst seine deutsche Identität ablegen und eine amerikanische Identität bekommen möchte: „[E]r wollte Joe Klein sein, geboren in New York.“ Seine dritte Identität nimmt er nach seiner riskant-abenteuerlichen Reise aus Deutschland nach Costa Rica an: José. Eine Reflexion über seine Rolle während der Verstrickung in das Spionage-Netzwerk der Nazis findet auch dort nicht statt. Genau diese Leerstelle lässt den Roman lange nachklingen. Die Frage, wer Josef Klein war, beantwortet Lenze zwar, aber wirft neue Fragen auf – vor allem die Frage nach der Schuld.

Der Autorin gelingt es, in einer unaufgeregt-poetisch gehaltenen Sprache eine abenteuerliche, historisch-fundierte Geschichte mit Elementen eines Kriminal-, Abenteuer- und Familienromans zu erzählen. Auf Wertungen und Kommentare verzichtet die personale Erzählinstanz, was insofern eine Stärke des Romans ist, als es dem Lesepublikum überlassen bleibt, über die Entwicklung des deutschen, eigentlich unpolitischen Auswanderers zum passiven Nazi-Kollaborateur zu urteilen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ulla Lenze: Der Empfänger. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020.
302 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608964639

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