H.-C. Kraus u.a. (Hrsg.): Geschichte der Politik

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Titel
Geschichte der Politik. Alte und neue Wege


Herausgeber
Kraus, Hans-Christof; Nicklas, Thomas
Reihe
Historische Zeitschrift, Beiheft 44
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Stollberg-Rilinger, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Politikgeschichte ist en vogue. Aber welche Art von Politikgeschichte? Der Titel des programmatisch gemeinten Beiheftes der „Historischen Zeitschrift“ zeigt an, dass es „alte und neue Wege“ gibt. Die Herausgeber legen nahe, dass beide Wege am Ende doch zu demselben Ziel führten, nämlich zu einem vertieften historischen Verständnis von Politik. Die Frage ist also: Worin bestehen die Unterschiede zwischen diesen Wegen, und vor allem, sind sie zu überbrücken? Die Herausgeber und die einzelnen Autoren des Bandes geben darauf nicht dieselben Antworten.

Die 16 Aufsätze, von der Frühen Neuzeit bis zur Zeitgeschichte, sind äußerst unterschiedlich in ihrem theoretisch-methodischen Zuschnitt. Eckart Conze macht in seinem Beitrag „Jenseits von Männern und Mächten“ deutlich, worum es der neuen Politikgeschichte eigentlich geht. Er plädiert dafür, die „zentralen Analysekategorien der Geschichte der internationalen Politik, also insbesondere Staat und Staatensystem […], aus ihrer Absolutsetzung zu lösen und sie als dynamische, als wandelbare und sich permanent wandelnde Größen zu betrachten“ (S. 46). Das bedeutet, dass man Staaten nicht zu Akteuren hypostasiert und ihr Verhältnis nicht nach dem klassischen Billardkugelmodell analysiert, sondern sie vielmehr als Ergebnisse von institutionellen Zuschreibungsprozessen versteht. Dies öffnet den Blick für das komplexe Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Akteure und Akteursgruppen, für die Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen institutionellen Handlungsebenen und gesellschaftlichen Subsystemen, wie Conze für das internationale System des 19. Jahrhunderts überzeugend vorführt. Von der „neuen Kulturgeschichte“ übernimmt er dabei die Prämisse, dass „Kultur“ in einem fundamentalen Sinne all die Praktiken, die „Deutungen, Sinnzuweisungen und Wertzuschreibungen“ umfasst, die das Handeln immer schon leiten – ausgesprochen oder unausgesprochen. Versteht man Kultur in diesem weiten Sinne, so ist selbstverständlich auch das Politische ein Bestandteil der Kultur (S. 44). Das zentrale Ziel einer solchen „kulturalistisch“ orientierten Politikgeschichte besteht darin, die ungefragt geltenden Selbstverständlichkeiten zu dekonstruieren, die die traditionelle Geschichte der „großen Mächte“ jahrhundertelang bestimmt haben – das heißt vor allem die Kategorie der Macht „als Abstraktum von geradezu religiöser, spiritualisierter Qualität“ zu entzaubern (S. 45).

Nun werfen aber die Herausgeber und einige Autoren dieses Bandes genau umgekehrt der „neuen“ Politikgeschichte vor, dass sie gerade die zentrale Kategorie der Macht nicht in ihr Modell integriere (S. 4) – ein Vorwurf, der angesichts der elaborierten Machttheorien von postmodernen Lieblingsreferenzautoren wie Foucault oder Bourdieu nicht ernsthaft aufrechtzuerhalten ist. Sie selbst nehmen für sich hingegen in Anspruch, zeitlose „Machttatsachen“ zu thematisieren, wie dies die politische Historiographie von Thukydides über Machiavelli bis Ranke stets getan habe. Der Macht kommt für sie im Bereich der Politik „die Bedeutung eines Letztwertes“, der „Rang eines Essentials“ zu (S. 2). Das heißt auch, dass sich Macht „einem ausschließlich kulturwissenschaftlichen Zugriff“ entziehe (S. 4). Es handele sich vielmehr, so hat Thomas Nicklas an anderer Stelle formuliert, um das „unheimliche Band, das alle Primaten umschlingt“.1 Und Michael Hochedlinger regt an, wieder „Machtstaatsgeschichte“ zu schreiben, und zwar im Sinne traditioneller „Geschichte aller Lebensäußerungen des Staates“, gar der „Biographie von Staaten“. Er fragt rhetorisch, ob es (gerade in der Frühen Neuzeit) überhaupt anders sein könne (S. 241).

Solche Zitate machen deutlich, wo der fundamentale Gegensatz zu allen im weitesten Sinne kulturgeschichtlichen Ansätzen liegt: Kategorien wie Staat, Politik, Macht, Gewalt usw. sollen als zeitlos und immer schon gegeben vorausgesetzt und gegenüber ihrer Dekonstruktion in Schutz genommen werden. Wenn das aber so ist, dann lassen sich beide Positionen nicht im Sinne einer pluralistischen Methodenvielfalt miteinander „kombinieren“ (so z.B. S. 12), sondern schließen sich gegenseitig aus. Das spricht etwa Sven Externbrink deutlich an: „Der Dissens über die Politikgeschichte geht über die ‚Feindbilder’ hinaus und berührt wesentliche erkenntnistheoretische Prämissen historischer Forschung.“ (S. 19)

Denn: Die „neue“ Politikgeschichte erschöpft sich eben nicht in einer farbigen Beschreibung von Herrschaftssymbolen und Zeremonien, die die Geschichte der „eigentlichen“, „harten“ Politik nur sekundär illustrieren würde. Sie rückt vielmehr die elementare soziale Konstruiertheit und damit auch die „Symbolizität“ menschlicher Kultur ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das bedeutet keineswegs, wie oft missverstanden wird, dass sich politisches Handeln in Symbolerzeugung und -deutung erschöpfte; es heißt aber, dass es ohne diese elementare Symbolizität nicht angemessen verstanden werden kann. Davon ist kein Phänomen ausgenommen: Selbst die nackte physische Gewaltanwendung enthält immer auch symbolische Botschaften.

Deshalb sind viele traditionelle Gegenstände der politischen Geschichte, für die die Autoren hier werben – etwa die Geschichte staatlicher Institutionen (Bernhard Löffler) oder fürstlicher Dynastien (Matthias Stickler), ja selbst die Geschichte der militärischen Gewalt – inzwischen auch Gegenstände einer „neuen“ Kulturgeschichte. Einige Autoren begrüßen das und nehmen die Anregungen produktiv auf; andere fühlen sich dadurch in die Enge getrieben und reagieren polemisch abwehrend. Manche steuern nützliche Forschungsreferate bei – etwa Matthias Schnettger über die Reichsverfassungsgeschichte, Sönke Neitzel über die Militärgeschichte oder Sven Externbrink über die Diplomatiegeschichte. Andere widmen sich konkreten Einzelfragen: So argumentiert etwa Manfred Kittel exemplarisch gegen Thomas Mergels kulturalistisch „weichgespülte“ Weimarer Republik und kann dabei durchaus plausibel machen, dass Mergel bei seiner milden Beurteilung der Deutschnationalen die politischen Inhalte gegenüber den Formen vernachlässigt habe. Ob das einer charakteristischen Blickverengung des kulturgeschichtlichen Ansatzes geschuldet ist, wäre anhand weiterer Studien zu diskutieren.

Bei anderen Autoren werden die eigenen Intentionen hinter der Polemik nicht recht sichtbar. So ist der Rezensentin zum Beispiel nicht klargeworden, was das Neue an einer „Machtstaatsgeschichte“ sein könnte, wie sie Michael Hochedlinger propagiert: Wie könnte sie über die neueren Ansätze zur Geschichte des Staatsbildungsprozesses (etwa von Ronald Asch, Stefan Brakensiek oder André Holenstein) hinaus- und nicht nur hinter sie zurückführen? Gleichfalls unklar bleibt, was Frank Kleinehagenbrock unter den „Ideen von 1648“ versteht, die er zur Forschungsagenda erhebt – während doch alles dafür spricht, dass der Westfälische Frieden gerade nicht aufgrund programmatischer Ideen, sondern aufgrund pragmatisch-situativen Aushandelns zustande gekommen ist.

Die zum Teil äußerst reflektiert und differenziert argumentierenden Autoren werden allerdings durch die Einleitung für eine Sichtweise vereinnahmt, mit der sie vermutlich nicht alle glücklich sein dürften. Diese Sicht der Herausgeber ist durch eine erstaunliche Naivität gekennzeichnet: nämlich durch das Beharren auf einem nicht zu dekonstruierenden Kern unbestreitbarer historischer Wahrheiten, die sich ohne erkenntnistheoretische Bemühungen – allein handwerklichen Fleiß vorausgesetzt – aus den Archiven entnehmen lassen und sich dem common sense gewissermaßen von selbst darbieten würden: „Jenseits der Konzeptualisierung, der Begriffsbildung und der Periodisierungsansätze wartet [in den Archiven] vergangenes Leben auf die Historiker.“ (S. 5) Dieser erstaunliche Objektivismus ist gepaart mit einem erheblichen Maß an Ressentiment gegenüber denjenigen, die sich überhaupt auf irgendwelche theoretischen Ansätze beziehen (auch die Bielefelder Sozialgeschichte, ja selbst die Annales-Schule entgeht dem nicht). Immer wieder stößt man in diesem Band auf die polemische Gegenüberstellung von solidem „Handwerk“ versus „luftiger Theorie“. Dieser vermeintliche Gegensatz wird schon durch einige Autoren des Bandes selbst Lügen gestraft; er bedarf keiner ernsthaften Widerlegung und lässt sich eigentlich nur damit erklären, dass sich manche der hier vertretenen Autoren durch das Vordringen kulturalistischer Ansätze auf die klassischen Felder der Geschichtswissenschaft bedroht und ins Abseits gedrängt fühlen. Die martialische Metaphorik spricht hier Bände: Man wehrt sich gegen den vorzeitigen „Triumphalismus“ der Kulturgeschichte (S. 4), gegen die „Despotie einseitiger Theorien“ (S. 332) und „tyrannische Modeströmungen“ (S. 239); ja man fühlt sich in der „Schlachtordnung“ der akademischen Klientelsysteme offenbar auf der Verliererseite (S. 246).

Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich spielt Netzwerk- oder auch Lagerbildung auf dem akademischen wie auf jedem anderen sozialen Feld eine erhebliche Rolle. Und selbstverständlich bietet die Rezeption kulturalistischer Theorien allein keinerlei Gewähr für eine gelungene historische Analyse. Gerade in den postmodernen Kulturwissenschaften gibt es allerlei aufgeblasene akademische Scharlatanerien, über die man sich zu Recht ärgern kann. Aber der Rückfall hinter den erkenntnistheoretischen Stand von Johann Gustav Droysen ist kein gangbarer Weg.

Anmerkung:
1 Nicklas, Thomas, Macht – Politik – Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), S. 1-25, hier S. 5: „Die Macht mit allen Formen ihrer Ausübung“ entziehe sich vollständig der „konstruktivistischen Bearbeitung“; sie sei „das unheimliche Band, das alle Primaten umschlingt“.

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