Die erste zugelassene Gentherapie für eine erbliche Netzhauterkrankung und die zunehmende Zahl an Therapiestudien führen aktuell zu einem wachsenden Interesse an klinischer und molekulargenetischer Diagnostik von erblichen Netzhauterkrankungen.

Unsere Umfrage zu Diagnostik, Behandlung und Management von Patient*innen mit erblichen Netzhauterkrankungen in Deutschland zeigt Verbesserungsmöglichkeiten auf. Eine Aufschlüsselung der Patientenkollektive z. B. in Datenbanken wäre von großem Nutzen für aussagekräftige Studien und schnelle Translation in die Klinik.

In Deutschland sind nach aktuellen Schätzungen 30.000 bis 80.000 Patient*innen von erblichen Netzhauterkrankungen betroffen (engl. „inherited retinal degenerations“ [IRDs]) [6, 10, 16, 25]. IRDs bezeichnen eine heterogene Gruppe seltener Erkrankungen, die potenziell zur Erblindung führen [3, 12]. Die oft monogenetischen Erkrankungen werden durch eine Vielzahl von Mutationen in verschiedenen Genen ausgelöst. Aktuell sind Mutationen in über 70 Genen bekannt, wobei durch Hochdurchsatzverfahren wie Whole-Exome-Sequencing weiter neue Gene identifiziert werden (https://web.sph.uth.edu/RetNet/home.htm, Stand 04.2023) [4, 11, 19].

Im Jahr 2017 wurde in den USA und 2018 in der Europäischen Union die erste Gentherapie zur Behandlung einer frühkindlichen Form, der mit biallelischen RPE65-Mutationen assoziierten IRD (RPE65-IRD), zugelassen [15]. Dies hat zu einem wachsenden Interesse an IRDs sowohl in Fachkreisen als auch bei Patientenorganisationen und Betroffenen geführt [20]. Schon jetzt laufen zahlreiche klinische Studien zu weiteren Therapien bei unterschiedlichen IRDs oder werden in den nächsten Jahren erwartet [8]. Es sind jedoch nur unzureichend systematische Studien vorhanden, die die Demografie und das klinische Management von IRD-Patient*innen an deutschen augenärztlichen Einrichtungen charakterisieren. So liegen zwar Daten aus Befragungen von Betroffenen vor, v. a. aufgrund der Aktivitäten der Patientenorganisation ProRetina e. V. [9, 13], Daten vonseiten der Behandelnden sind jedoch noch nicht in ausreichender Menge vorhanden. Auf europäischer Ebene wurden solche Daten bereits erhoben [14,15,16,17].

Ziel dieser Studie war es, das Kollektiv von IRD-Patient*innen in deutschen Augenkliniken und Schwerpunktpraxen zu charakterisieren sowie die Diagnostik und Behandlung zu erfassen, um mögliche Defizite und Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren. Außerdem wollten wir eruieren, ob eine systematische Speicherung in Datenbanken erfolgt und wie die neu in die Weiterbildungsordnung zur Fachärztin/zum Facharzt für Augenheilkunde aufgenommene Weiterbildung in Ophthalmogenetik umgesetzt wird.

Methoden

Teilnehmende

In dieser anonymen Umfrage wurde ein Online-Fragebogen an alle deutschen Augenkliniken, die auf der Website der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (https://www.dog.org/patienten/augenkliniken-in-deutschland, Stand: 06.2021) einsehbar waren (Universitätsklinik [UK]; nichtuniversitäre Klinik [NUK]) sowie an 3 Praxen mit IRD-Schwerpunkt (Schwerpunktpraxis [SPP]) versandt. Einige Einrichtungen sind aufgrund mehrerer Standorte mehrfach aufgeführt und werden auch in der Auswertung als eigenständige Kliniken berücksichtigt (z. B. das UK Schleswig-Holstein: Standort Kiel und Standort Lübeck).

Die Leitenden der Einrichtungen erhielten 3 postalische Anschreiben und eine digitale Erinnerung. Die Umfrage konnte von allen Mitarbeiter*innen der Klinik ausgefüllt werden. Die Dauer der Befragung betrug 90 Tage (10.2021 bis 01.2022).

Den Teilnehmenden wurde eine Aufnahme in die IRD-Studiengruppe Deutschland als Mitbeteiligte angeboten, wobei eine Verknüpfung mit dem jeweiligen Datensatz ausgeschlossen war.

Fragebogen

Zur Datenerhebung wurde das Programm soscisurvey.de (SoSci Survey GmbH, München) genutzt. Der für die Umfrage entwickelte Katalog bestand aus 69 Fragen: (1) Allgemeines, (2) neue Weiterbildungsordnung, (3) Versorgung von IRD-Patient*innen, (4) Studien und (5) IRDs aufgrund von biallelischen RPE65-Mutationen.

Hierbei wurden Single-select‑, Multiple-choice- sowie Freitext-Fragen verwendet. Alle quantitativen Angaben wurden als Schätzungen erhoben, daher war nach Auskunft der Ethikkommission der Universitätsklinik Bonn kein Ethikvotum notwendig.

Es wurden Filterfragen genutzt, die Elemente des Fragebogens sinnvoll ausblendeten, sodass die Fragen logisch aufeinander Bezug nahmen. Der Fragebogen wird in Abb. S1 wiedergegeben.

Statistische Auswertung

Die Auswertung und Darstellung der Daten erfolgte mittels der Programme IBM SPSS Statistics (Ehningen, Version 28.0.1.1 (14)) und Microsoft Excel (Version 2206, Microsoft Corp., Redmond, WA, USA). Die Prozentangaben beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf die Einrichtungen derselben Art (UK, NUK, SPP), die die jeweilige Frage beantworteten.

Ergebnisse

Die demografischen Daten sind in Abb. 1 zusammengefasst. Die Umfrage wurde an 107 Einrichtungen versandt. Hierunter waren 41 UKs, 63 NUKs und 3 SPPs. Die Antwortquote betrug insgesamt 44,8 % (UKs: 63,4 %; NUKs: 31,7 %, SPP: 66,7 %) (Abb. 1a). Aufgrund einer Dopplung wurde der Fragebogen einer UK exkludiert.

Abb. 1
figure 1

Demografische Daten der Einrichtungen. a Antwortquoten der Einrichtungen. b Anzahl ambulanter Neupatient*innen pro Quartal und Einrichtung. c Anzahl der aktuell betreuten IRD-Patient*innen pro Einrichtung. d Anzahl neuer IRD-Patient*innen pro Jahr pro Einrichtung. b–d beruhen auf Schätzungen

Die Zahl der ambulanten Neupatient*innen pro Quartal betrug im Median 500 bis 1000 für NUKs und 1000 bis 2000 für UKs. Die SPPs betreuten 500 bis 2000 Neupatient*innen (Abb. 1b). Fast alle Einrichtungen (93,6 %) gaben an, IRD-Patient*innen zu betreuen, jedoch unterschieden sie sich stark in der Anzahl: 41,2 % der NUKs gaben an, insgesamt weniger als 10 Betroffene pro Jahr zu betreuen, während es bei den UKs im Median 100 bis 200 Patient*innen waren. Die beiden SPPs betreuten 200 bis 499 bzw. 500 bis 999 Patient*innen mit IRDs (Abb. 1c).

Während bei der Hälfte der NUKs (52,9 %) weniger als 10 IRD-Patient*innen pro Jahr neu vorstellig wurden, waren es bei den UKs im Median 50 bis 99. In den SPPs wurden 20 bis 49 bzw. 100 bis 199 neue IRD-Patient*innen vorstellig (Abb. 1d).

Daten zur Erstversorgung von Patient*innen mit IRDs sind in Abb. 2 zusammengefasst. In allen Kliniken wurde die Diagnose am häufigsten im Alter von 18 bis 30 Jahren gestellt (Median [Interquartilsabstand, IQR]; UKs: 30 % [23,8]; NUKs: 32,5 % [20]). Es zeigt sich jedoch, dass IRDs bei Kindern deutlich häufiger in UKs diagnostiziert werden. Die Angaben der SPPs ähneln denen der UKs (Abb. 2a).

Abb. 2
figure 2

Erstversorgung von IRD-Patient*innen. a Alter der IRD-Patienten*innen zum Zeitpunkt der Diagnose. b IRD-Patienten*innen nach Vorstellungsart/Fachrichtung der/s überweisenden Ärztin/Arztes. c Wartezeit bis zum ersten Termin. Die Daten beruhen auf Schätzungen. IQR Interquartilsabstand, IRD inherited retinal disease

In den Kliniken erfolgte die Vorstellung meist durch die Überweisung niedergelassener Augenärzt*innen (UKs: 50 % [52,5]; NUKs: 75 % [40,0 %]). In den SPPs wurden die meisten Betroffenen aus eigener Initiative vorstellig (Abb. 2b).

Bei der Hälfte der Einrichtungen (UKs: 52,0 %; NUKs: 50,0 %; SPPs: 50 %) betrug die Wartezeit bis zur Terminvergabe 1 bis 2 Monate. Selten (UKs: 8,0 %; NUKs: 6,3 %; SPPs: 0 %) warteten die Patient*innen bis zu 6 Monate (Abb. 2c).

Abb. 3 zeigt Daten zur Betreuung von Patient*innen mit IRDs. Während fast alle antwortenden UKs (92 %) und beide SPPs (100 %) Betroffene auch längerfristig versorgten, überwies die Hälfte der NUKs (47 %) Betroffene an ein spezialisiertes Zentrum zur weiteren Diagnostik (Abb. 3a, b). Abb. 3c zeigt den Anteil der jeweiligen Einrichtungen mit einem/einer IRD-Spezialist*in, Abb. 3d den Anteil mit einer speziellen IRD-Sprechstunde.

Abb. 3
figure 3

Betreuung von IRD-Patient*innen. Anteil der Einrichtungen, die (a) IRD-Patient*innen betreuen, (b) IRD-Patient*innen weiterbehandeln, (c) eine/einen IRD-Spezialist*in vor Ort haben, die/der eine spezielle IRD-Sprechstunde anbietet (d). Die Daten beruhen auf Schätzungen

An 24/25 der UKs ist mindestens ein/e Spezialist*in für IRDs tätig, bei den NUKs nur in 3/19 (Abb. 3c). In den Kliniken, in denen ein/e Spezialist*in praktiziert, wird meist auch eine IRD-Sprechstunde angeboten (UKs: 75 %; NUKs: 66,7 %; Abb. 3c, d).

Visusbestimmung, Refraktometrie, Perimetrie (ohne Erhebung der genauen Verfahren), optische Kohärenztomographie und Fundusfotografie wurden in allen Einrichtungen durchgeführt. Während alle UKs auch Elektrophysiologie anboten, war dies nur bei 70 % der NUKs der Fall. Ein Ganzfeld-Reizschwellentest nach Dunkeladaptation (engl. „full-field stimulus threshold test“ [FST]) sowohl mit Blau, Rot und Weiß wurde nur bei 12 % der UKs bzw. 5,9 % der NUKs und einer SPP durchgeführt (Abb. S2a).

Patient*innen mit einer IRD aufgrund biallelischer RPE65-Mutationen wurden in 36 % (9/25) der UKs und einer SPP betreut (Abb. S2b).

Abb. 4 gibt Informationen zu Datenbanken. Diese wurden von 60 % der UKs, aber nur von 5,9 % der NUKs eingesetzt (Abb. 4a). Drei Kliniken hatten darin weniger als 100 Betroffene registriert, 6 Kliniken (UKs: 5; NUKs: 1) 100 bis 499, und 2 UKs hatten mehr als 5000 Betroffene in ihrer Datenbank eingetragen. Eine SPP nutzte eine Datenbank (2000 bis 4999 Einträge) (Abb. 4b).

Abb. 4
figure 4

Angaben zu Datenbanken für IRDs. a Anteil der Einrichtungen, die eine Datenbank für IRD-Patient*innen verwenden b Anzahl der Patient*innen in den Datenbanken. Die Daten beruhen auf Schätzungen

Abb. 5 fasst die Daten zur molekulargenetischen Diagnostik zusammen.

Abb. 5
figure 5

Molekulargenetische Testung. a Anzahl der Einrichtungen, die eine genetische Testung ihrer Patient*innen initiieren. b Anteil der IRD-Patient*innen, die eine genetische Diagnose erhalten haben. c Wartezeit bis zum Erhalt der Ergebnisse der molekulargenetischen Testung. b und c beruhen auf Schätzungen

Molekulargenetische Testungen wurden von allen UKs (25/25) und von 76,5 % (13/17) der NUKs veranlasst oder selbst durchgeführt (Abb. 5a). Die Kliniken, die keine Testung initiierten, gaben an, Betroffene an eine humangenetische Beratungsstelle zu überweisen. In Bezug auf die Anzahl der Patient*innen mit molekulargenetischer Diagnose gaben die meisten der NUKs (56,3 %) und nur wenige der UKs (12 %) an, dass maximal 20 % der betreuten Patient*innen eine molekulargenetische Diagnose erhalten hätten; 24 % der UKs gaben molekulargenetische Diagnoseraten von 41–60 %, weitere 12 % der UKs von 81–100 % an (SPPs: 41–60 % bzw. 61–80 %) (Abb. 5b).

Die Zeit bis zur genetischen Diagnose betrug in 76 % der UKs und 46 % der NUKs mehrere Monate. Die SPPs erhielten die Ergebnisse innerhalb von 2 bis 4 Wochen bzw. nach mehreren Monaten (Abb. 5c).

Weiterbildung in der Ophthalmogenetik

Die Mehrheit der Kliniken gab an, die Genetik in der Facharztweiterbildung zu berücksichtigen (UKs: 64 %; NUKs: 55 %), wobei öfter die obligate Teilnahme an ophthalmogenetischen (UKs: 100 %; NUKs: 63,6 %), seltener an humangenetischen Fortbildungsveranstaltungen (UKs: 6,3 %; NUKs: 9,1 %) angegeben wurde. Dies fassen Abb. 6 und S3 zusammen. Ungefähr je ein Viertel der Kliniken (UKs: 28 %; NUKs: 24 %) teilte mit, dieses neue Kapitel nicht zu berücksichtigen. Eine SPP gab an, die Ophthalmogenetik in der Weiterbildung umzusetzen (Abb. 6a, b und S3). Die Weiterbildung zur fachgebundenen genetischen Beratung als Teil der seit 2022 geltenden neuen Weiterbildungsordnung für Fachärzt*innen basiert auf einem 72 Stunden umfassenden Curriculum [2].

Abb. 6
figure 6

Weiterbildung Ophthalmogenetik. a Berücksichtigung der Genetik in der ärztlichen Weiterbildung. b Art der umgesetzten Maßnahmen. Andere: weitere/andere durchgeführte Maßnahmen zur Weiterbildung

Teilnahme an Studien

Abb. S4 zeigt, dass Studien zum natürlichen Verlauf von IRDs in 6/25 der UKs und in 2/18 der NUKs zum Zeitpunkt der Umfrage stattfanden. Gentherapiestudien zu IRDs liefen zu dieser Zeit nur in 4 UKs. Eine SPP ist sowohl an gentherapeutischen Studien als auch an Studien zum natürlichen Verlauf beteiligt.

Diskussion

Unsere Umfrage ist die erste in Deutschland, die per anonymer Befragung an UKs und NUKs sowie an 3 Schwerpunktpraxen das Management von IRDs, die routinemäßige Diagnostik und die Teilnahme an klinischen Studien untersuchte.

Die Umfrage zeigt, dass IRD-Patient*innen trotz der relativ geringen Prävalenz [6, 10, 16, 25] in den meisten Einrichtungen vorstellig werden. Diese sehr heterogene Krankheitsentität ist somit in der klinischen Routine in allen Einrichtungen bedeutsam (Abb. 1, 2 und 3).

Bei genauerer Betrachtung zeigten sich jedoch im Management der Erkrankungen zwischen UKs und NUKs einige relevante Unterschiede: In nur sehr wenigen NUKs (15 %) gibt es auf IRD spezialisierte Ärzt*innen und noch seltener eigene Sprechstunden. Gerade bei den aufkommenden Therapieoptionen [5] und den Möglichkeiten zur Studienteilnahme [7] sollte vermehrt eine Überweisung zur weiteren Kontrolle in spezialisierte Zentren erfolgen. Die SPPs, die selbst Kontrollen und teilweise Studien durchführen, nehmen hierbei eine Sonderstellung ein, sodass ihre Antworten denen der UKs ähnelten (Abb. 3 und S4).

Obwohl die meisten Zentren angaben, generell auch genetische Testungen zu empfehlen, erhielten in mehr als der Hälfte der NUKs nur 0–20 % der Betroffenen eine molekulargenetische Diagnose (Abb. 5). Diese Zahl der NUKs ist sehr niedrig, da sie in 53 % auch langfristig, eventuell alleiniger Ansprechpartner Betroffener sind und eine molekulargenetische Diagnose für eine umfassende Beratung Betroffener und deren Umfeld unabdingbar ist. Dies steht im Gegensatz zu einer Patient*innenbefragung von Kellner et al. [13]. Hier gaben 63 % der Betroffenen an, dass eine molekulargenetische Untersuchung erfolgt sei, während nur 6 % eine solche Untersuchung ablehnten.

Eine Zusammenführung Betroffener mit derselben Erkrankung bzw. demselben Genotyp ist gerade bei seltenen Erkrankungen von enormer Bedeutung, um genügend Patient*innen für Studien zum natürlichen Verlauf und für genspezifische Studien rekrutieren zu können. Eine systematische Erfassung in Datenbanken wird nur in 38 % der Einrichtungen durchgeführt. Einige Einrichtungen führen Datenbanken mit großen Patient*innen-Zahlen (Abb. 4). Bei einer konservativen Rechnung mit dem jeweils niedrigsten möglichen Wert pro Kategorie wären demnach in den Datenbanken in Deutschland bereits 15.000 der geschätzten 30.000 bis 80.000 Betroffenen erfasst (18,75–50 %, Abb. 4). Diese Zahl erscheint hoch, wobei beispielsweise Doppelerfassungen, Verstorbene oder falsch hohe Schätzungen diesen Wert beeinflussen können. Hier wäre eine einheitliche deutschlandweite Datenbank von großem Nutzen, um die tatsächliche Prävalenz verschiedener Erkrankungen zu katalogisieren, potenzielle Patient*innen für aktuelle und künftige Behandlungsmodalitäten zu identifizieren und weitere epidemiologische Daten zu erheben. Das von der Patientenorganisation ProRetina Deutschland initiierte Patient*innenregister (https://www.pro-retina.de/forschung/patientenregister, Stand 07.23), in welchem aktuell ca. 2000 IRD-Patient*innen erfasst sind, könnte einen ersten Ansatz bilden, eine nationale Datenbank auch in Deutschland zu etablieren.

Wenn man die Ergebnisse der Studie zusammenfasst, vergehen von Symptombeginn über Vorstellung bei einer/m niedergelassenen Augenärztin/Augenarzt, Terminfindung in den Kliniken, klinische Diagnostik, molekulargenetische Testung bis zur genetischen Diagnose meist mehrere Monate bis Jahre. Dies kann z. B. bei seltenen akuten Verläufen, Kinderwunsch oder auch Formen mit bereits bestehenden Therapieoptionen für die Betroffenen erhebliche negative Konsequenzen bedeuten.

Die molekulargenetische Diagnostik bei IRDs ist seit einigen Jahren bei den gesetzlichen Krankenkassen Kassenleistung ohne Belastung des Budgets der Zuweisenden, wenn ein Überweisungsschein nach Muster 10 ausgestellt ist (http://www.service-auge.de/2021/03/02/entgrenzung-der-abrechnungsziffer-bei-molekulargenetischer-diagnose/) [24]. Bei privaten Kostenträgern empfiehlt es sich derzeit weiterhin, vorab die Genehmigung einzuholen.

Der Bereich Ophthalmogenetik wurde 2019 in den Weiterbildungskatalog für Augenheilkunde auf Bundesebene aufgenommen [2]. Nichtsdestotrotz teilten in unserer Umfrage 40,4 % der antwortenden Einrichtungen mit, die neuen Vorgaben nicht umzusetzen, es nicht zu wissen oder keine Angabe machen zu wollen (Abb. 6 und S3). Da die Erkrankungen in allen Einrichtungen vorkommen und einen gravierenden Einfluss auf die Betroffenen selbst, das direkte Umfeld und Lebensführung und -planung haben, sollte die Weiterbildung und für Fachärzt*innen eine entsprechende Fortbildung, insbesondere auch in geeigneter Gesprächsführung, erfolgen. Niederschwellige Angebote, auch zur fachgebundenen genetischen Beratung und solche, die die Vorgehensweise bei IRDs praxisnah erörtern, sollten zusätzlich zu den bereits bestehenden Angeboten vermehrt geschaffen werden. Die aktuelle S1-Leitlinie „Erbliche Netzhaut‑, Aderhaut- und Sehbahnerkrankungen“ bietet eine erste Hilfestellung für praktisch tätige Augenärztinnen und -ärzte und kann von großem Nutzen sein [1]. Jedoch sollten auch Algorithmen etabliert werden, die helfen, eine Verdachtsdiagnose zu stellen, um diese dann durch gezielte Diagnostik zu erhärten. Da die klinische und genetische Variabilität dieser Erkrankungen sehr groß ist, kann die korrekte Diagnose eine erhebliche Herausforderung im klinischen Alltag darstellen. Die Leitlinie kann hierbei wertvolle Hilfestellung in der Bewertung der Befunde und auch der sich daraus ableitenden Konsequenzen aufzeigen und somit den Betroffenen und ihren Familien durch gezielte und schnelle Diagnosestellung helfen.

Im Vergleich zu den Ergebnissen der europäischen Umfragen von 2019 und 2021 zeigten sich relevante Unterschiede [14, 16]. In der Umfrage von 2021 wurden 50 Zentren aus 14 Ländern zum Management von IRD-Patient*innen befragt. Die Antwortquote von 53 % war vergleichbar mit der in der Umfrage in Deutschland. Der Prozentsatz von Zentren, in denen sich Betroffene vorstellen, war in beiden Umfragen vergleichbar (Deutschland: 93,6 %; Europa: 86 %). In der europäischen Befragung zeigte sich, dass 2021 vier von 14 Ländern eine nationale Datenbank nutzten und generell eine systematische Speicherung der Daten häufiger vorgenommen wird (72 %) [14, 16, 18, 21]. Jedoch gaben im europäischen Survey nur 8 % der Befragten an, keine genetische Diagnostik einzuleiten; 72 % der Einrichtungen würden in 41–80 % der Fälle die genetische Diagnose kennen. Als Hauptgrund für Patient*innen, die keine molekulargenetische Diagnostik hatten, wurde fehlende Kostenübernahme genannt. In der deutschen Umfrage initiieren zwar 100 % der UKs, beide SPPs und 76 % der NUKs eine molekulargenetische Testung, jedoch kennen nur 56 % der UKs und 25,1 % der NUKs von mindestens 41 % ihrer Patient*innen die genetische Diagnose (SPP: 100 %). Die Diagnoserate ist somit in der deutschen Umfrage geringer als in dem europäischen Survey. Datenbanken wurden in der europäischen Umfrage in 80 %, in Deutschland nur in 39 % genutzt. Diese deutliche Diskrepanz liegt vermutlich in der Auswahl der angeschriebenen Zentren, da der europäische Fragebogen vorrangig an Zentren mit besonderem Interesse an multizentrischer Forschung versandt wurde, während wir in unserer Umfrage alle Augenkliniken Deutschlands kontaktierten.

Stärken der Umfrage

Unsere Umfrage ist die erste, die alle deutschen Augenkliniken und 3 IRD-Schwerpunktpraxen adressiert hat, um Daten zur Versorgung von IRD-Betroffenen durch die betreuenden Ärzt*innen zu erheben. Die Befragung erzielte eine Antwortquote von 44,8 %, was eine große Stichprobe der Augenkliniken Deutschlands lieferte. Die im Fragebogen abgefragten Details zeigen ein umfassendes Bild der Versorgung von IRD-Patient*innen in Deutschland. Erstmals wurde erhoben, dass in 9 von 25 Universitätskliniken Betroffene mit RPE65-IRD betreut werden, die potenzielle Kandidat*innen für die zugelassene Genaugmentationstherapie mit Voretigen Neparvovec (Luxturna®, Novartis, Basel) sind. Die Schwellenbestimmung mittels eines Ganzfeldstimulus mit Blau, Rot und Weiß im dunkeladaptierten Zustand zur Messung der Stäbchenfunktion („full-field stimulus threshold“ [FST]), die ein wesentlicher Test zur Dokumentation des Therapieerfolgs ist, steht derzeit nur in 12 % der UKs und 5,9 % der NUKs zur Verfügung sowie in einer der beiden antwortenden SPPs (in der SPP nur mit Weiß) [22, 23].

Limitationen der Umfrage

Es ist anzunehmen, dass eher jene Kliniken unsere Umfrage beantworteten, die auch ein klinisches bzw. wissenschaftliches Interesse an IRDs haben, was ein Bias zur Folge haben kann. Die aus datenschutzrechtlichen Gründen nur geschätzt erhobenen Daten könnten falsche Werte bedingen. So würden nach den Angaben aller antwortenden Kliniken zusammen mindestens 1700 neue Betroffene pro Jahr in Deutschland identifiziert werden. Hier sind zwar auch jene inbegriffen, die sich möglicherweise in mehreren Klinken vorstellen, jedoch würden demnach bei geschätzten 30.000 Erkrankten in Deutschland innerhalb von 18 Jahren alle IRD-Patient*innen Deutschlands vorstellig werden, was unwahrscheinlich erscheint. Geht man von geschätzt 80.000 Betroffenen aus, dann würden sich 47 Jahre ergeben. Wenn man die aus der Umfrage folgende Zahl von mindestens 1700 Neudiagnosen pro Jahr zugrunde legt, würde sich eine Jahresinzidenz an neuen Fällen von 0,21 % ergeben, was ebenfalls unrealistisch hoch erscheint. Dies zeigt die Problematik geschätzter Zahlen und unterstreicht die Bedeutung von prospektiven Erhebungen vorzugsweise in Datenbanken.

Zusammenfassend liefert diese Umfrage wichtige Erkenntnisse zur Diagnosestellung und zum Management von IRD-Patient*innen in Deutschland allgemein sowie im Vergleich zwischen UKs und NUKs sowie Schwerpunktpraxen. Diese Basisdaten, welche bisher in diesem Umfang noch nicht erhoben wurden, sind für Wissenschaftler*innen, politische Entscheidungstragende, Ärztinnen und Ärzte und Patient*innenvertreter*innen von Bedeutung. Wir deckten Engpässe in der Versorgung von Patient*innen mit IRDs und ihren Familien auf und sprechen Möglichkeiten zur verbesserten Versorgung an. Dies ist ein wichtiger Baustein für die Weiterentwicklung von klinischer Versorgung und Forschung sowie deren Translation in die klinische Routine, um dem aufkommenden Zeitalter der gentherapeutischen Interventionen Vorschub zu leisten.

Fazit für die Praxis

  • Die aktuelle Rate an Patient*innen mit genetisch gesicherter Diagnose ist v. a. in den NUKs sehr gering (0–20 % bei 56,3 % der NUKS).

  • Eine molekulargenetische Testung sollte generell allen volljährigen Patient*innen mit Verdacht auf eine IRD und bei zugelassener Therapie generell – derzeit nur für RPE65-IRD – auch bereits bei Kindern nach Beratung angeboten werden.

  • Betroffene sollten zur bestmöglichen Diagnostik und Beratung in ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden, da nur so eine umfassende Betreuung gewährleistet werden kann.

  • Eine Weiterbildung in Ophthalmogenetik wird aktuell noch in zu wenigen Einrichtungen umgesetzt (UKs: 64 %; NUKs: 55 %). Diese sollte jedoch erfolgen, da Betroffene mit IRDs überall vorstellig werden.

  • Erstrebenswert ist eine deutschlandweite Datenbank zur besseren Charakterisierung des natürlichen Verlaufs spezifischer Genotypen, für neue Therapiestudien und zur schnellstmöglichen Translation von Forschungsergebnissen in die Klinik.