Häufigkeit erblicher Tumorerkrankungen

Bei 5–10 % aller Tumorpatientinnen und -patienten liegt eine erbliche Tumorerkrankung vor. Dies wird in der Regelversorgung bisher oft nicht erkannt. Die Ergebnisse der Präzisionsonkologie zeigen, dass individuelle Therapiestrategien, die auch auf der Identifikation pathogener Keimbahnvarianten beruhen, lebensverlängernd wirken können. Zudem kann die Diagnosestellung eines genetischen Tumorrisikosyndroms (GENTURIS) präventiv genutzt werden. Neue klinische Empfehlungen für die verbesserte Betreuung von Menschen mit GENTURIS werden durch das Europäische Referenznetzwerk ERN-GENTURIS erarbeitet.

Genetische Tumorrisikosyndrome

Genetisch bedingte Erkrankungen umfassen mehr als 7000 meist (sehr) seltene Erkrankungen inklusive genetischer Tumorrisikosyndrome (GENTURIS). Ursächlich sind oft konstitutionelle genetische Veränderungen, die entweder neu entstanden sind oder vererbt wurden.

Pro Jahr erkranken in Deutschland etwa 500.000 Personen an einem Tumor

Pro Jahr erkranken in Deutschland etwa 500.000 Personen an einem Tumor. Davon gehen etwa 5–10 % auf eine pathogene Keimbahnvariante (pKV) und somit auf ein GENTURIS zurück [1, 2]. Sehr gut bekannt sind erbliche Tumorerkrankungen aufgrund einer pKV in den Genen BRCA1 oder BRCA2. Das Wissen über mehr als 200 weitere GENTURIS ist jedoch sehr begrenzt. Dabei hat eine Person aufgrund einer pKV ein erheblich erhöhtes Risiko für die Entstehung bestimmter Tumoren. Dieses Risiko kann sehr variabel sein und zwischen wenigen und nahezu 100 % liegen. Einige GENTURIS stellen komplexe Erkrankungen dar, bei denen die Tumorprädisposition nur eines von mehreren Symptomen ist (z. B. Birt-Hogg-Dubé) und die Patientinnen und Patienten nicht nur eine onkologische, sondern eine multidisziplinäre Versorgung brauchen.

Die frühzeitige Erkennung und Diagnose eines GENTURIS ist aus mehreren Gründen von großer klinischer Relevanz:

  • Ermöglichung einer Empfehlung zur zielgerichteten Therapie auf Basis von identifizierten pKV,

  • präventive Behandlungen durch intensivierte Früherkennung oder risikoreduzierende Maßnahmen,

  • Risikoeinschätzung und Prävention durch prädiktive Testung und die Berechnung von Risikowerten für Angehörige.

Bei einer größeren Zahl von Tumorpatientinnen und -patienten können pKV die Begründung für eine zielgerichtete Therapie liefern. So sind Poly(Adenosin-Diphosphat-Ribose)-Polymerase-(PARP)-Inhibitoren eine Therapieoption für Personen mit pKV in BRCA1 oder BRCA2 [3, 4].

Besteht eine genetische Prädisposition für Tumorerkrankungen, können frühzeitig risikoreduzierende Maßnahmen ergriffen oder die Prognose durch die Diagnose in einem frühen Stadium stark verbessert werden [5]. Zudem können Angehörige gezielt auf die identifizierte pKV getestet werden. Sollte sich deren Vorliegenden bestätigen, können auch die Angehörigen von einer intensivierten Früherkennung oder anderen risikoreduzierenden Maßnahmen profitieren.

Die Erkennung von GENTURIS steht in der Praxis jedoch vor mehreren Herausforderungen. Sie erfordert i. d. R. eine genetische Beratung und Keimbahnsequenzierung. Es gibt jedoch in Deutschland derzeit keine allgemeinen Einschlusskriterien für die Keimbahnsequenzierung von Tumorpatientinnen und -patienten.

Zudem ist das Wissen über seltene GENTURIS begrenzt, sodass kaum oder keine Leitlinien zur Verfügung stehen. Die Identifikation von Personen mit GENTURIS erfordert die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Humangenetik, Onkologie, Molekularpathologie und vielen weiteren Fachbereichen, wie Gynäkologie, pädiatrischer Onkologie, Chirurgie oder Radiologie.

Zielgruppe der Testung

Wer sollte auf ein GENTURIS getestet werden? Obwohl nur bei einem Teil der Tumorpatientinnen und -patienten eine erbliche genetische Veränderung eine Rolle spielt, ist deren Identifikation aufgrund der klinischen Konsequenzen wichtig. Jedoch gibt es weder deutschland- noch europaweit derzeit einheitliche klinische Einschlusskriterien für eine Keimbahnsequenzierung. Diese existieren nur für die häufigsten GENTURIS, wie den familiären Brust- und Eierstockkrebs (FBREK) oder das Lynch-Syndrom (familiärer Darmkrebs), nicht für seltene GENTURIS.

In der pädiatrischen Onkologie gibt es ein standardisiertes Verfahren zur Indikationsstellung für die Abklärung eines GENTURIS, basierend auf einer Checkliste, die von der Arbeitsgruppe Genetische Krebsprädisposition der Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie (GPOH) erstellt wurde (Checkliste genetische Beratung-A1) [6, 7].

Meist hängt die Entscheidung über eine Keimbahnsequenzierung von der klinischen Praxis und den individuellen Umständen der Patientinnen und Patienten ab, wobei v. a. Erkrankungsalter, histologische Entität und Familienanamnese bedeutsam sind [8]. Insbesondere für seltene Tumorerkrankungen treffen die meisten Einschlusskriterien nicht zu, da die Datenlage zu assoziierten Genen und erwartetem Anteil an pKV in diesen Genen oft für eine Empfehlung nicht ausreichend ist [9]. Seltene Tumoren treten jedoch häufig im Rahmen eines GENTURIS auf [10]. Aktuell sind etwa 200 seltene Tumorerkrankungen bekannt, auf die in Europa etwa 22 % aller Tumordiagnosen entfallen [11].

Aktuell sind etwa 200 seltene Tumorerkrankungen bekannt

In einer Studie mit 17.000 Tumorpatientinnen und -patienten wurden jedoch auch bei häufigen Tumorarten (Mammakarzinom, kolorektales Karzinom, Pankreas‑, Ovarial- und Prostatakarzinom) pKV in Genen identifiziert, die nicht (primär) mit der vorliegenden Tumorentität assoziiert waren, aber mit einem deutlich erhöhten Risiko für andere Tumorarten (hohe Penetranz) [12]. Jedoch erfüllten 74 % der Patientinnen und Patienten, bei denen eine solche pKV gefunden wurde, keine Einschlusskriterien für eine Keimbahntestung (in dem Fall die Kriterien des National Comprehensive Cancer Networks, USA) [12]. Zudem zeigten Studien, dass 50 % der Tumorpatientinnen und -patienten, insbesondere Personen mit GENTURIS, Einschlusskriterien für eine Keimbahnanalyse nicht erfüllen [8, 13, 14].

Somit werden Personen, die möglicherweise von einer genetischen Beratung und Testung profitieren könnten, in der Regelversorgung oft übersehen. Einige allgemeine Empfehlungen können im klinischen Alltag helfen, diese Personen zu identifizieren (Abb. 1).

Abb. 1
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Allgemeine Checkliste zur Erkennung von Personen mit genetischem Tumorrisikosyndrom (GENTURIS)

Trifft eines dieser Merkmale zu, sollte die Vorstellung in der Humangenetik zur Abklärung eines GENTURIS erwogen werden. Eine regelhafte Beteiligung der Humangenetik an Tumorboards wäre zusätzlich erstrebenswert.

Umfang der Keimbahnanalyse

Wie groß sollte der Umfang der Keimbahnanalyse sein – mehr Genom wagen? Laut Richtlinien des American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG) soll über pKV in u. a. 28 GENTURIS-assoziierten Genen als Zusatzbefund berichtet werden, wenn sie im diagnostischen Rahmen identifiziert werden, auch wenn die Diagnostik nicht im Kontext eines GENTURIS stattfand [15].

Die Auswahl von Genen für die GENTURIS-Diagnostik ist nicht trivial, da eine spezifische klinische Präsentation mit pathogenen Veränderungen in verschiedenen Genen in Verbindung stehen kann, da ein Gen mit mehreren hereditären Krebsformen assoziiert sein kann [9]. So können pKV in BRCA1 oder BRCA2 neben familiärem Brust- und Eierstockkrebs (FBREK) auch ein erhöhtes Risiko für Prostata‑, Pankreas- oder Magentumoren verursachen [16]. Die klinische Präsentation von Personen mit derselben Variante kann zudem abhängig von Geschlecht, Alter und anderen Umweltfaktoren variieren.

Aktuell sind Empfehlungen für zu analysierende Gene für häufige GENTURIS wie Lynch-Syndrom oder FBREK verfügbar. Das Lynch-Syndrom wird durch pKV in den Genen MLH1, MSH2, MSH6, PMS2 und EPCAM verursacht [17]. Beim FBREK können pKV in einer Vielzahl von Genen ursächlich sein, wobei pKV in BRCA1, BRCA2, PALB2 sowie ATM und CHEK2 am häufigsten sind [18].

Derzeit sind aber mehr als 100 GENTURIS-assoziierte Gene bekannt [1]. Zunehmend werden auch Kombinationen verschiedener Varianten in Genen für die Vorhersage des individuellen Risikos für die Tumorentstehung untersucht (Polygenic Risk Scores) [19]. Bleibt eine eindeutige GENTURIS-Diagnose nach der ersten Gen-Panel-Analyse trotz hochgradig auffälliger Familienanamnese aus, ist eine erweitere Analyse im Rahmen einer Genom-Sequenzierung („whole genome sequencing“, WGS) empfehlenswert. WGS bietet im Vergleich zum Panel und zum Exom mehrere Vorteile (Abb. 2). Es werden kodierende und nichtkodierende Bereiche aller Gene erfasst und die robuste Bestimmung von Kopienzahlvarianten (CNV) ist möglich. Dank stetig sinkender Sequenzierkosten ist WGS auch aus ökonomischer Sicht sinnvoll, da auf diesen umfangreichen Datensatz für Reanalysen jederzeit zurückgegriffen werden kann, wodurch die Notwendigkeit einer erneuten Sequenzierung i. d. R. entfällt.

Abb. 2
figure 2

Vergleichende Übersicht zur Genom‑, Exom- und Panelsequenzierung. CNV „copy number variant“, Kopienzahlvariante; SNV „single nucleotide variant“, Einzelnukleotidvariante; STR „Short Tandem Repeat“, SV „structural variation“, strukturelle Variation. (Mit freundl. Genehmigung von Doreen William, erstellt mit BioRender)

Derzeit sind mehr als 100 GENTURIS-assoziierte Gene bekannt

Im Rahmen der deutschen Nationalen Strategie für Genommedizin (genomDE) soll allen Menschen, die von einer Genomsequenzierung profitieren könnten – einschließlich Personen mit GENTURIS – den Zugang zur Genommedizin ermöglicht werden [20].

Multidisziplinäre Versorgung

Es haben sich in den letzten Jahren einige neue Therapieoptionen ergeben und zu Zulassungen zielgerichteter Medikamente geführt. So sind z. B. PARP-Inhibitoren bei FBREK und BRCA-defizientem Pankreas- und Prostatakrebs sowie Immuncheckpointinhibitoren beim Lynch-Syndrom zugelassen [21]. Mittlerweile gibt es auch Empfehlungen für PARP-Inhibitoren für Menschen mit von-Hippel-Lindau-Syndrom, multipler endokriner Neoplasie und dem Basalzellnävussyndrom (Gorlin-Goltz-Syndrom) [21]. Auch die Früherkennung von Tumoren bei Menschen mit GENTURIS hat sich verbessert, und der klinische Nutzen ist belegt [22, 23]. Ein Paradebeispiel für eine multidisziplinäre Versorgung ist die Betreuung in FBREK-Zentren, in denen bereits bei der initialen Vorstellung eine Beratung von Humangenetik und Gynäkologie durchgeführt wird. Bei einem auffälligen Befund wird die Versorgung in einem spezialisierten Zentrum angeboten.

Für seltene GENTURIS gibt es noch keine strukturierten, interdisziplinären Behandlungspfade, und die Kostenübernahme für spezifische Vorsorgeuntersuchungen (z. B. Ganzkörper-MRT beim Li-Fraumeni-Syndrom) ist bislang ungeklärt.

Die Beratung und Testung von Angehörigen bei Nachweis eines GENTURIS ist von entscheidender medizinischer Bedeutung. Dies wird bei der Befundmitteilung in der Humangenetik mit Patientinnen und Patienten besprochen. Hier ergeben sich potenziell für Angehörige die zuvor erwähnten klinischen Optionen. Eine Herausforderung ist der Zugang zu humangenetischer Expertise in Wohnortnähe. Lange Wege, die ggf. wiederholt unternommen werden müssen, erschweren vielen Personen den Zugang zur humangenetischen Versorgung.

Um diese Hürden zu überwinden, wurde 2021 das Kooperationsnetzwerk OnkoRiskNET zur wohnortnahen Versorgung von Personen mit GENTURIS und ihren Familien mithilfe von Telemedizin gestartet [24]. Das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses geförderte Projekt läuft zunächst in Sachsen und Niedersachsen und soll die Kooperation zwischen niedergelassenen Onkologen/Onkologinnen und Humangenetikern/Humangenetikerinnen stärken. Dieses Konzept soll künftig in die Regelversorgung übergehen und so die Versorgung von Personen mit GENTURIS deutschlandweit verbessern.

GENTURIS-Diagnostik in der Präzisionsonkologie

Die Präzisionsonkologie hat das Ziel, eine zielgerichtete Therapie zum richtigen Zeitpunkt anzubieten. Dabei kann eine parallele Tumor- und Kontrollgewebe-Sequenzierung stattfinden. Beispiele hierfür sind Programme des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT), die Zentren für Personalisierte Medizin und die Task Force 5 „Genetisches Tumorrisikosyndrom“ des nationalen Netzwerks für Genomische Medizin (nNGM) für Personen mit Lungenkarzinomen (Tab. 1).

Tab. 1 Übersicht einiger Präzisionsonkologieprogramme

In der MASTER-Präzisionsonkologie-Studie (Molecularly Aided Stratification for Tumor Eradication Research) des NCT sowie des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK) werden jeweils Tumor und Keimbahn mittels Exomsequenzierung („whole exome sequencing“, WES) oder WGS analysiert, und es wird eine RNA-Sequenzierung des Tumorgewebes durchgeführt. Besonders im Fokus stehen dabei Personen mit seltenen Tumoren und/oder mit einem Erkrankungsalter unter 51 Jahren. Die Keimbahnvarianten in Krebsprädispositionsgenen werden seit 2015 humangenetisch beurteilt und als Befunde an die betreuenden Onkologen/Onkologinnen gegeben [25, 26].

Die retrospektive Bewertung von Keimbahnvarianten in 101 GENTURIS-assoziierten Genen bei 1485 Patientinnen und Patienten der MASTER-Studie (2015–2019) zeigte, dass bei 10 % mindestens eine pathogene Keimbahnvariante in 35 Genen vorlag, die mit einem autosomal-dominant vererbten Tumorrisikosyndrom assoziiert sind [26]. Davon wurden 75 % erst in der MASTER-Studie identifiziert.

Multiple Tumoren eignen sich oft besser für die Identifikation eines GENTURIS als das Erkrankungsalter

Weitere 5 % wiesen eine Anlageträgerschaft eines rezessiven Tumorrisikosyndroms auf. Die Ergebnisse zeigten, dass multiple Tumoren ein besserer Parameter für die Identifikation eines GENTURIS sind als das Erkrankungsalter. Die humangenetische Beurteilung von klinischen und molekularen Daten im Rahmen von molekularer Diagnostik an Tumoren ist essenziell für die GENTURIS-Diagnostik und sollte standardisiert werden. Auch die klinischen Empfehlungen und Behandlungspfade für Menschen mit GENTURIS sollten weiter verbessert werden. Wertvolle Arbeit wird hier bereits auf europäischer Ebene durch das Europäische Referenznetzwerk für Genetische Tumorrisikosyndrome (ERN-GENTURIS) geleistet. Seit 2017 wurden durch das Referenznetzwerk mehrere Empfehlungen für seltene GENTURIS veröffentlicht, u. a. für das PTEN-Hamartom-Tumorsyndrom [27], Schwannomatose [28] und Neurofibromatose Typ 1 [29].

Fazit für die Praxis

  • Personen mit genetischem Tumorrisikosyndrom (GENTURIS) werden in der Regelversorgung oft nicht erkannt und bekommen somit keine entsprechende genetische Diagnostik (Keimbahnanalyse).

  • Bei ungewöhnlich jungem Erkrankungsalter, seltenen Tumoren, einer familiären Häufung von Tumorerkrankungen oder dem Auftreten mehrerer Tumoren sollte an ein GENTURIS gedacht werden.

  • Die Identifikation eines GENTURIS ist wichtig für die Patientinnen und Patienten selbst, aber auch für Angehörige, da der Einschluss in eine intensivierte Früherkennung erfolgen kann, aber auch die Entlastung für die Angehörige, die keine prädisponierende Veränderung tragen.

  • Die Identifikation pathogener Keimbahnvarianten kann Therapieentscheidungen direkt beeinflussen.