Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Geschichte des deutschen Fernsehens


99-1/4-128
Geschichte des deutschen Fernsehens / Knut Hickethier. Unter Mitarb. von Peter Hoff. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1998. - XI, 594 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-476-01319-7 : DM 78.00
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Vermutlich nur kurz vor dem Zeitpunkt, da sich "deutsches Fernsehen" nicht mehr erkennen lassen wird, weil es sich in einer weder für Zuschauer noch für Rezensenten rezipierbaren oder auch nur überschaubaren Vielzahl von Sendern und Programmen aufgelöst haben wird, finden wir die Geschichte des deutschen Fernsehens erstmalig in einem großen Entwurf und aus einer Hand dargestellt. Der Autor, seit 1992 Professor für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg, war zuvor Mitglied des Sonderforschungsbereichs "Bildschirmmedien - Ästhetik, Pragmatik, Geschichte" der Universität-Gesamthochschule Siegen und Mitherausgeber und Mitverfasser des bislang umfangreichsten Werks zur Fernsehgeschichte der Bundesrepublik Deutschland,[1] und es ist sicher keine Herabsetzung der Leistung von Knut Hickethier als Autor des neuen Buches, wenn man das neue Werk auch als Frucht der gemeinsamen Siegener Arbeit sieht. Hickethier hat aus dem alten Team die Zusammenarbeit mit Peter Hoff in das neue Werk hinüber genommen, der dort einen kurzen Aufriß der Organisation und Programmgeschichte des DDR-Fernsehens eingebracht hatte[2] und auch hier als Autor der Kapitel zur DDR mitwirkt.

Die Geschichte des deutschen Fernsehens umfaßt aber mehr als BRD und DDR: Hickethier beginnt nach einem einleitenden Überblick Fernsehgeschichte als Teil der Mediengeschichte seine chronologisch gegliederte Darstellung mit einem kurzen Kapitel über die technischen Erfindungen von 1884 bis 1933, von den ersten technischen Laborversuchen bis zum Fernsehversuchsbetrieb der Reichspost. Dem eher unpolitischen Kapitel folgt der Einbezug in die Propaganda des Dritten Reichs mit der weltweit ersten, überstürzten offiziellen Eröffnung des Versuchsbetriebs am 22.3.1935, der Übertragung von Sportereignissen der Olympiade 1936 und ersten Fernsehspielproduktionen, Unterhaltung und "Zeitdiensten" zunächst für den Gemeinschaftsempfang in sog. Fernsehstuben, bis der Krieg die Versuche für den privaten Sektor verdrängte und nur noch Truppenbetreuung in Berliner Lazaretten zuließ. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung trennt Hickethier die chronologische Darstellung in zwei Stränge je für West und Ost, die wieder in ähnlicher, aber doch je eigener Periodisierung miteinander verflochten werden. Er beginnt die Darstellung für den Westen mit dem Aufbau des NWDR-Fernsehens 1948 bis 1954, für den Osten folgt ein Kapitel von Peter Hoff über die Anfänge des DDR-Fernsehens als "kollektiver Organisator" 1947 bis 1956. Von Hickethier schließt danach ein Kapitel für die Bundesrepublik Industrialisierung der Fernsehproduktion 1954 bis 1962 an, von Hoff für die DDR Auf dem Wege zum Massenmedium 1956 bis 1961. Die nächsten Perioden umfassen für die BRD Zwischen Lebenshilfe und politischer Aufklärung 1963 bis 1973 und für die DDR Zwischen Mauerbau und VIII. Parteitag 1961 bis 1971. Ihnen folgen Im Vorfeld der Kommerzialisierung für die Bundesrepublik 1973 bis 1983 und Zwischen neuem Aufbruch und Untergang für die DDR 1971 bis 1989 (damit endet die Mitarbeit von Peter Hoff). Für die BRD läßt Hickethier ein Kapitel Zeiten des Übergangs 1984 bis 1991 folgen, danach Auf dem Wege zur Einheit 1989 bis 1991 mit Schwerpunkt auf den Ereignissen in der DDR resp. in den neuen Bundesländern. Ein Kapitel für die neunziger Jahre Am Ende einer Epoche, vom analogen zum digitalen Fernsehen beschließt die historische Darstellung.

Jeder Versuch einer Unterteilung historischer Abläufe enthält Zündstoff für Diskussionen, vor allem, wenn so diffizil voneinander getrennte und vielfältig aufeinander bezogene politisch-historische und mediale Entwicklungen von ihr betroffen sind. Zumindest bemerkenswert ist, daß Hickethier die politische Zäsur von 1968/1969 für den Westen Deutschlands übergeht und dafür einen "weichen" Einschnitt 1973, vor dem Rücktritt Willy Brandts vom Amt des Bundeskanzlers setzt. In seinem historischen Abriß von 1993 hatte Hichethier durchaus eine Veränderung um 1969 berücksichtigt,[3] und auch Peter Hoff hatte die Zäsuren für das DDR-Fernsehen anders gesetzt, - beides ist offensichtlich zugunsten einer zeitlich längeren Periodisierung geändert worden und sei hier auch nur angemerkt, um die relative Beliebigkeit und Anfechtbarkeit solcher Abschnittsetzungen hervorzuheben. Eine durchgängige Trennung der Darstellung der Entwicklungen in West und Ost hätte für die chronologischen Abschnitte mehr Freiheit und auch größere Angemessenheit bringen können, zumal der Umfang und die Intensität der Darstellung deutlich die BRD betont und bevorzugt (mit ungefähr doppeltem Seitenumfang gegenüber der DDR). Die Zeit der "Wende" in der DDR, ihr Beitritt zur Bundesrepublik und das erste gemeinsame Jahr - 1989 bis 1991 - ist für Hickethier vor allem in Bezug auf den Osten Deutschlands bemerkenswert, - das Zusammenführen der historischen Stränge nach 1991 in eine gemeinsame Darstellung von Ost und West ist insofern durchaus willkürlich und wird auch nicht durch ein besonderes Ereignis oder eine besondere Entwicklungsänderung zu diesem Zeitpunkt begründet. Das Kapitel geht denn auch vornehmlich auf jüngste Entwicklungen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ein.

Hickethier beginnt die chronologischen Kapitel jeweils mit einem internationalen Überblick, geht dann auf medienpolitische, später auch wirtschaftspolitische und immer auf programmpolitische Entwicklungen, ausführlich auch auf einzelne Programme und Sendungen ein und schließt jeweils mit Anmerkungen zur Programmästhetik und zu Mentalitätsänderungen, Änderungen in der Wahrnehmung und zur Bedeutung des Fernsehens für die Öffentlichkeit. Der Text ist flüssig und durchaus summarisch und deutlich wertend formuliert, Belege und Hinweise auf weitere Literatur werden in den Text relativ pauschal (ohne genaue Seitenangaben) eingeflochten. Unterstützt wird der Ablauf des Textes durch "Randnotizen", d.i. kurze Stich- und Schlagwörter, die den Inhalt eines Absatzes andeuten. Aufgelockert wird der Fließtext durch zwei Typen von Illustrationen (alle schwarz-weiß), d.i. durch zahlreiche etwa halbseitige Photographien - meist Standbilder oder Studio-"Set"-Aufnahmen - und durch erheblich kleinere, etwa briefmarkengroße Abbildungen ähnlichen Inhalts am äußeren Seitenrand, dazu kommen einige Tabellen und Übersichten. Den Anhang bildet ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis (gegliedert in unveröffentlichte Quellen, Reihen, Bücher und Aufsätze), auf das sich die Hinweise im Darstellungsteil beziehen (allerdings ohne dort anzugeben, in welchem Abschnitt des Literaturverzeichnisses der Hinweis aufgelöst wird). Das Titelverzeichnis mag man trotzdem als umfangreichen Belegapparat akzeptieren, als aktiv zu nutzender Literaturapparat ist es aber wegen der jeweils nur alphabetischen Folge bei einem Umfang von über 750 Titeln nicht geeignet. Zum Anhang gehören noch ein Register von ca. 3500 Personennamen und ein Register der Sendungen und Reihen im Umfang von ca. 4000 Titeln sowie ein Bildquellenverzeichnis. Das sehr ausführliche Inhaltsverzeichnis gliedert die Stoffülle bis ins Detail, kann aber das fehlende Sachregister nicht ersetzen. Ein Sachregister der Genres und Programmformen, der Fernsehanstalten, der juristischen und politischen Auseinandersetzungen etc. hätte die Nutzung des Buches erleichtert und verbessert, hätte das Buch noch mehr zu einem Nachschlagewerk werden lassen.

Hickethier nimmt den von Foucault und Deleuze entlehnten Ansatz, eine Mediengeschichte des Fernsehens als Geschichte eines "Dispositivs" zu schreiben, ernst: "Dispositive der Wahrnehmung umfassen dabei nicht nur die jeweiligen Apparate und Techniken, sondern auch die räumlichen, architektonischen, situationalen und lebensweltlichen Bedingungen sowie auch die juristischen, ethischen und sonstigen normsetzenden Rahmungen. In ihnen konstituiert sich das Subjekt, wird dessen mediale Wahrnehmung präformiert" (S. 11). Man mag darüber streiten, ob dieser umfassende Ansatz überhaupt zu verwirklichen ist, aber in ihm birgt sich der Anspruch, in einem großen Entwurf und aus einer Hand ein Panorama zu entwerfen, in dem wir uns als Betroffene und Akteure wiederfinden und mit dem wir uns auseinandersetzen können. Hickethier ist es gelungen, einen solchen Entwurf vorzulegen, seine Geschichte des deutschen Fernsehens zu schreiben. Sie wird nicht unumstritten sein, aber an ihr werden sich mögliche andere Entwürfe messen müssen.

Wilbert Ubbens


[1]
Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland / hrsg. von Helmut Kreuzer und Christian W. Thomsen. - München : Fink. - Bd. 1. Institution, Technik, Programm ; Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens / hrsg. von Knut Hickethier. - 1993. - 428 S. - Bd. 2. Das Fernsehen und die Künste / hrsg. von Helmut Schanze und Bernhard Zimmermann. - 1993. - 431 S. - Bd. 3. Informations- und Dokumentarsendungen / hrsg. von Peter Ludes, Heidemarie Schuhmacher und Peter Zimmermann. - 1993. - 344 S. - Bd. 4. Unterhaltung, Werbung und Zielgruppenprogramme / hrsg. von Hans-Dieter Erlinger und Hans-Friedrich Foltin. - 1993. - 480 S. - Bd. 5. Vom "Autor" zum Nutzer : Handlungsrollen im Fernsehen / hrsg. von Werner Faulstich. - 1993. - 352 S. (zurück)
[2]
Organisation und Prgrammentwicklung des DDR-Fernsehens / Peter Hoff. // In: Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. - Bd. 1 (1993), S. 245 - 288. (zurück)
[3]
Dispositiv Fernsehen, Programm und Programmstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland / Knut Hickethier. // In: Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. - Bd. 1 (1993), S. 171 - 243. (zurück)

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