Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Geschichte der russischen Literatur


00-1/4-216
Geschichte der russischen Literatur : von 1700 bis zur Gegenwart / Reinhard Lauer. - München : Beck, 2000. - 1072 S. : Ill. ; 23 cm. - ISBN 3-406-45338-4 : DM 98.00
[5967]

Hier hat der langjährige Göttinger Slavist Reinhard Lauer zum Zeitpunkt seiner Emeritierung ein solides Werk vorgelegt, das die von deutschen Gelehrten oder in Deutschland tätigen russischen Wissenschaftlern ausgearbeiteten Darstellungen der russischen Literatur in ihrem historischen Verlauf würdig fortsetzt. Wer immer sich schnell, zuverlässig und nicht nur oberflächlich über wichtige Autoren und Werke der russischen Literatur informieren will, der ist von nun an mit Reinhard Lauers Werk gut beraten. Ein mustergültiges Register, das auch die Werke verzeichnet und die Schwerpunktstellen hervorhebt, führt ihn schnell zu den relevanten Seiten. In der gleichzeitig erschienenen Festschrift spricht Ulrike Jekutsch noch von einem "zweibändigen" Werk.[1] Es ist für den Gebrauch gut, daß die über tausend Seiten in einem trotzdem handlichen Band vereint wurden. Vertraut waren und wertvoll bleiben die Literaturgeschichten von Arthur Luther (Leipzig 1924), Vsevolod Setschkareff (Bonn 1949, Stuttgart 1962), Wilhelm Lettenbauer (Wiesbaden 1955, 1958) und Johannes von Guenther (Stuttgart 1964, München 1968), desgleichen die etwa 1000 Werkbeschreibungen, die Kindlers neues Literaturlexikon (20 Bände, 2 Ergänzungsbände) enthält. Auch die Teilbereiche erfassenden Literaturgeschichten behalten ihre Bedeutung, wie die von Alexander Eliasberg (München 1922), Maximilian Braun (19. Jahrhundert, Göttingen 1947), Johannes Holthusen (20. Jahrhundert, München 1968, 1978), Dmitrij Tschizewskij (Altrussische Literatur, Frankfurt a.M. 1948, München 1967 und 19. Jahrhundert, München 1977), ebenso die Editionen zu Phasen des 20. Jahrhunderts von Willy Beitz (Bern u.a. 1994) und Karlheinz Kasper (München 1993).[2] Aber Reinhard Lauer ist es gelungen, in der Verbindung von profunder Textkenntnis und Nutzung wichtiger Sekundärliteratur, mit Blick auf den historischen Ablauf, die Stilentwicklungen und den jeweiligen ästhetischen Wert, ein Werk zu schaffen, das die bisherigen immer wieder übertrifft. Gern beginnt er die Vorstellung eines Schriftstellers mit der Definition seiner Stellung in der russischen Literatur und seiner Bedeutung. Dem folgen eine kurze Biographie und Beschreibungen ausgewählter Werke. Lauer bereichert seine Aussagen mit treffenden Formulierungen anderer Slavisten, die er mit Hinweis auf den Autor zitiert. Seine Fähigkeit zur Darstellung der Geschichte der russischen Literatur in einer Form, die Wissenschaftlern, Studenten und allgemeinen Interessenten nützlich ist, hat Lauer schon vor zwei Jahrzehnten in drei großen Überblicken bewiesen, die er für das Neue Handbuch der Literaturwissenschaft verfaßt hatte. Lauers Definition sprachlicher Kunstwerke, die er jetzt im Vorwort gibt, hat seinen Ansatz in Lehre und Forschung auch damals bestimmt: "Als Werke der Wortkunst modellieren sie Momente der Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln, doch selbst da, wo wie versuchen, in die Realität hineinzuwirken, liegt ihr Wert nicht im pragmatischen Nutzen, den sie stiften, sondern in ihrer ästhetischen Wirkung."

Der in acht Kapitel der gewohnten Perioden gegliederten Literaturgeschichte hat Lauer eine Einleitung - Wurzeln und Charakter der russischen Literatur - vorangestellt, die auf wesentliche und weiterwirkende Elemente der altrussischen Literatur hinweist und auch Lauers Bemühen zeigt, den gegenwärtigen Zeitpunkt der Niederschrift deutlich zu machen: Ende des 20. Jahrhunderts begann in Rußland ein Wandel der Betrachtung der russischen Literatur, sie löst sich von der jahrzehntelangen politischen Gängelung, Selektion und Verfälschung. Die Untergliederung der Kapitel richtet sich nach den Besonderheiten der jeweiligen Periode. Natürlich haben Fedor Dostoevskij und Lev Tolstoj eigene Unterkapitel. Ihr identischer Umfang, der auch dem Puschkinkapitel entspricht, bezeugt die Planung. Andere Autoren sind in Unterkapiteln zusammengefaßt. Dabei ist es recht unausgewogen, wenn Vsevolod Garsin nicht einmal ein eigener Absatz, sondern nur ein Hinweis von 14 Zeilen gewidmet wird, merklich weniger als in schmaleren anderen Literaturgeschichten. Selbstverständlich ist die gesonderte kurze Abhandlung von Strömungen wie dem Symbolismus, aber Unterkapitel Realistische Sprache - realistische Verfahren neben Der realistische Roman sind Lauers eigene Methode und bieten eine gute Grundlage für Gesamtvorstellungen einer Phase und Einordnung einzelner Autoren.

In die Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts sind die erste und dritte Emigrationswelle gut integriert, aber die zweite mit jenen Autoren, denen die Flucht aus der Sowjettyrannis im Schutz der deutschen Truppen gelang und die dann der Auslieferung durch die Alliierten zum sicheren GULag-Tod entkommen konnten, hat Lauer nicht einbezogen. Dabei werden in Rußland z.B. Nikolaj Morsen, Ivan Elagin und seine erste Frau Ol'ga Anstej bereits beachtet, desgleichen der Lyriker Dmitrij Klenovskij, den Georgij Ivanov hoch schätzte und Johannes von Guenther in seiner Literaturgeschichte sogar als eine "gewaltige Dichterpersönlichkeit" bezeichnet. Auch verdankt der Literarhistoriker zwei Autoren dieser Gruppe viel: Boris Filippov hat große Verdienste um den Erhalt des Schaffens unterdrückter russischer Dichter wie N. Gumilev und O. Mandel'stam, Valentina Sinkevic (einst Ostarbeiterin) hat die bisher einzige Anthologie der Lyriker dieser Gruppe zusammengestellt (Berega 1992) und gibt seit 1977 Jahr für Jahr die gute Anthologie Vstreci mit neuen Gedichten der Emigranten heraus. Diese Lücke in Lauers Werk zeigt die erfolgreiche sowjetische Unterdrückung der russischen Auslandsliteratur. Denn jene Dichter der Nachkriegsjahrzehnte fanden auch im Westen lange keine Beachtung. Victor Terras hat dieser zweiten Emigrationswelle in seinem Kapitel der Cambridge history of Russian literature wenigstens eine kleine Seite gewidmet.[3] Die Integration hat begonnen, ist aber bisher weder in Rußland noch im Westen ausreichend.

Lauer hat auch einige Autoren, die erst in der Nachsowjetzeit bekannt wurden, mit ausgewählten Werken vorgestellt. Ein Blick in die letzten Seiten der oben aufgeführten Literaturgeschichten verdeutlicht, daß in keinem Bereich die Auswahl, manchmal auch die Wertung so strittig sein kann, wie in der Nähe zur Gegenwart, aber Lauer bietet hier Hilfen, die auch über neue Lexika hinausgehen. Lediglich beim Blick auf das Gesamtwerk wird es unstimmig, wenn Autoren, die in der Gegenwart durch Provokationen und nicht durch dichterische Aussagen ins Bewußtsein geraten sind, ein bis zwei Seiten erhalten, während z.B. Boris Sirjaev, der durch seine Flucht im Kriege in die Lage kam, eine der ersten Darstellungen des GULag (Solovki) zu schreiben und in Religioznye motivy v russkoj poezii (1960) einen unikalen Beitrag zur russischen Literaturgeschichte leistete, nicht einmal erwähnt wird.

Wie die Art des Registers so ist auch sonst die darstellungstechnische Seite dankbar zu loben. Alle Namen und Orte sind wissenschaftlich transkribiert, jeder Werktitel wird auf Russisch zitiert, dann übersetzt und das Erscheinungsjahr genannt, im Register sind stets Namen und Vatersnamen mit Lebensjahren angegeben, der Anhang enthält ein Zeitschriftenverzeichnis mit Seitenhinweisen, eine Liste russischer literaturwissenschaftlicher Begriffe mit Erklärungen, die Bibliographie bietet sogar einen Abschnitt zur Rezeption westeuropäischer Schriftsteller und Philosophen. (Daß es dort neben dem Abschnitt Der Sozialistische Realismus einen zweiten Zum Sozialistischen Realismus gibt, bestätigt, daß dem Autor erfreulicherweise der Textteil das wichtigste war.)

Vergleicht man Lauers Einzelbeschreibungen von Werken mit denen in anderen Literaturgeschichten, bietet er dank des größeren Umfangs oft mehr und zeigt neben guter Kenntnis von Sekundärliteratur auch Ergebnisse jahrzehntelanger eigener Forschung. Bei Lyrik geht er sogar oft auf das Versmaß ein. Der Vergleich mit Lauers Vorläufern stärkt nicht selten deren Anerkennung. Sie setzten andere Schwerpunkte und sahen manches ästhetisch, religiös oder politisch anders. Jede Slavische Instituts-, Universitäts-, Landes- und Staatsbibliothek muß dieses Buch griffbereit halten, und jeder, der sich mit russischer Literatur befaßt, sollte regelmäßig nach ihm greifen. Es bringt Freude und Nutzen.

Wolfgang Kasack


[1]
Slavische Literaturen im Dialog : Festschrift für Reinhard Lauer zum 65. Gebrutstag / Hrsg. Ulrike Jekutsch und Walter Kroll. - Wiesbaden : Harrassowitz, 2000. - XII, 561 S. : Ill. - ISBN 3-447-04239-7 : DM 238.00. - Der sorgfältig edierte Band enthält 37 Beiträge überwiegend deutscher und einiger ausländischer Wissenschaftler zum gesamten Bereich der Slavistik. (zurück)
[2]
Genaue Titelangaben mit einer Bewertung der Werke in: Russische Literaturgeschichten 1905 - 1996 : ein kritischer Bericht / von Wolfgang Kasack. - IFB 96-4-534. - Ferner: Russische Literaturgeschichten und Lexika der russischen Literatur : die Handbücher des 20. Jahrhunderts ; Überblick, Einführung, Wegführer / Wolfgang Kasack. - Konstanz : UVK, Universitätsverlag Konstanz, 1997. - 278 S. ; 23 cm. - ISBN 3-87940-585-9 : DM 48.00 [4471]. - Rez.: IFB 98-1/2-100. (zurück)
[3]
The Cambridge history of Russian literature / ed. by Charles A. Moser. - Cambridge [u.a.] : Cambridge University Press, 1989, S. 516. (zurück)

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