K. Stokłosa: Grenzstädte in Ostmitteleuropa - Guben und Gubin

Cover
Titel
Grenzstädte in Ostmitteleuropa. Guben und Gubin 1945 bis 1995


Autor(en)
Stokł osa, Katarzyna
Reihe
Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas 9
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

„Die Straßen waren leer. Die Häuser waren leer. Die Fabriken waren leer. Sogar der Bahnhof war leer.“1 So beschreibt der Schweizer Journalist Peter Haffner seine Eindrücke aus Guben am Ende der 1990er-Jahre. Ist das deutsch-polnische Grenzland zumindest auf deutscher Seite eine Zone der Hoffnungslosigkeit? Wie Katarzyna Stokłosa in ihrer bei Helga Schultz an der Viadrina geschriebenen Dissertation zur Geschichte der Grenze zwischen 1945 und 1995 am Beispiel der Doppelstadt Gubin/Guben zeigt, gab es hier durchaus Zeiten der Hoffnung und des Aufbruchs.

1945 entstand an Oder und Neisse eine Grenze, die der Autorin zufolge einen „Extremfall“ dargestellte: In Gubin lebten so gut wie ausschließlich vertriebene Polen, in Guben neben den Altansässigen Vertriebene, die oft aus dem Ostteil der Stadt übergesiedelt waren. Es waren Menschen, die „lange Zeit nichts voneinander wissen [wollten], weil das Bild des Nachbarn, das ihnen vermittelt worden war, das des Feindes gewesen ist“ (S. 18). Die jeweiligen politischen Ziele in der VR Polen und in der DDR zielten außerdem darauf ab, national und ideologisch homogene Gesellschaften entstehen zu lassen; Kontakte über die Grenzen des Nationalen hinaus waren hier nur Störfaktoren. Im Osten entwickelte sich nach dem Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit schleppend eine polnische lokale Gemeinschaft, getragen von – so Stokłosa – hauptsächlich drei Integrationsfaktoren: Kirche, Schule und Partei (S. 104ff.). Hinzuzufügen wäre noch der Integrationsfaktor Geschichte bzw. Erinnerung – das gemeinsame Vertriebenenschicksal und die gemeinsame Fremdheitserfahrung in „Polens wildem Westen“.2

Trotz all dieser Hindernisse, und das ist eines der spannenden Ergebnisse der auf umfangreiches Archivmaterial und Zeitzeugeninterviews gestützten Arbeit, entwickelte sich bereits kurz nach der neuen Grenzziehung ein spontaner kleiner Grenzverkehr, der nach dem Wunsch lokaler Stellen auf beiden Seiten noch hätte ausgebaut werden können (S. 114ff.). Auch auf hochpolitischer Ebene war die Situation noch ungefestigt, so dass selbst der gebürtige Gubener Wilhelm Pieck 1946 in der deutschen Stadthälfte in einer Rede noch die feste Überzeugung äußern konnte, „dass wir später einmal wieder unsere gesamte Stadt in der Verwaltung haben werden“ (S. 123). Die Oder-Neiße-Linie galt der gerade gegründeten SED noch als „vorläufige Ostgrenze“ (S. 139). Wortmeldungen wie diese, aber vor allem auch die Politik der Westalliierten führten in den östlich der Oder gelegenen Gebieten zu einer lange währenden Unsicherheit, die von allen polnischen Zeitzeugen der Verfasserin bestätigt wird. Auch der Görlitzer Vertrag zwischen DDR und VR Polen von 1950 änderte hieran wenig. Er führte allenfalls zu einer „Tabuisierung der Grenzthematik“ (S. 144), die anhand der Äußerungen Wilhelm Piecks dargestellt wird. Neben die Tabuisierung trat das kollektive Beschweigen – in Polen zudem die gezielte Zerstörung der materiellen Zeugnisse deutscher Kultur. Und neben das Beschweigen trat das Unwissen – die im Stalinismus und bis zum Ende der 1960er-Jahre fast hermetisch abgeriegelte Oder-Neiße-Grenze verhinderte Kontakte auf fast allen Ebenen.

Erst die zunehmenden Handelsbeziehungen und die Anwerbung polnischer Arbeiter durch die DDR seit 1966 3 erleichterten die individuelle Kontaktaufnahme. Die Öffnung der Grenze zwischen der DDR und Polen Anfang 1972 für den visafreien Verkehr führten auf beiden Seiten zunächst zu einer Euphorie: Gubener und Gubiner, die über 25 Jahre lang nebeneinander gelebt hatten, ohne sich zu kennen, liefen staunend durch die Nachbarstadt. Auf beiden Seiten sahen die Menschen die Grenzöffnung sehr positiv (S. 177). Ein Gubiner Schüler schrieb in einem Aufsatz: „Seit der Grenzöffnung ist das Leben in Gubin fast großstädtisch geworden.“ (S. 179) Bald aber begann sich die Wahrnehmung des Anderen zu verändern, und auch die Besuchsmotive waren unterschiedlich: Während bei Besuchen von Deutschen aus Guben in Gubin neben dem Einkauf auch der Wunsch wichtig war, einstigen Hausbesitz wiederzusehen oder Jugenderinnerungen aufzufrischen, stand für die Polen alleine der Einkauf im Vordergrund. Auf beiden Seiten führte der Aufkauf von Mangelwaren bald zu Versorgungslücken, die insbesondere in der DDR für Unmut sorgten, wie die Verfasserin aus den Stimmungsberichten des Ministeriums für Staatssicherheit gut rekonstruieren kann (und es waren vor allem diese Misshelligkeiten, die sich als Stereotyp bis in die Gegenwart halten sollten). Die Polen wiederum ärgerten sich über die missmutige Behandlung in den deutschen Geschäften: „Sie schauen uns an, als ob wir alle Diebe wären“, schrieb eine Schülerin 1972 (S. 199). Persönliche Kontakte ergaben sich nicht oft – manchmal zwischen den ehemaligen deutschen und den neuen polnischen Besitzern eines Hauses, gelegentlich auch im Gubener Schwimmbad oder in Gaststätten. Kaum war die Möglichkeit zu Kontakten geschaffen, versuchten zudem Menschen beider Seiten, sich in der Sprache des Anderen auszudrücken – so zum Beispiel bei gemeinsamen Begegnungen im Café (S. 219). Die Phase der offenen Grenze zwischen 1972 und 1980 habe jedenfalls, so Stokłosa, trotz allem „zur Versöhnung zwischen Deutschen und Polen“ beigetragen (S. 227).

Am lokalen Beispiel zeigt sich, wie durch die Schließung der Grenze zwischen 1980 und 1991 fast alle Kontakte wieder abbrachen und – durch die Propaganda, aber auch den schleichenden Systemwandel in Polen unterstützt – vorhandene bzw. neue Stereotype tradiert wurden. Als die Grenze erneut geöffnet wurde, war das gegenseitige Interesse viel geringer als 1972 – war damals noch das unmittelbare Nachbarland etwas Neues, galt die Aufmerksamkeit nun dem „ferneren“ Westen. Die Entwicklungen nach 1991 skizziert die Verfasserin leider nur kurz. Sehr interessant ist die – allerdings schon von 2002 stammende – Erkenntnis, dass nicht nur in Gubin die Deutsch-, sondern auch in Guben die Polnischkenntnisse wachsen, wo elf Prozent der Befragten behaupteten, „sehr gut bis einigermaßen Polnisch“ zu sprechen (S. 257). Dennoch ist die Mehrzahl der Menschen auf beiden Seiten der Grenze skeptisch, was die Möglichkeit zur Entstehung einer gemeinsamen Kultur der Grenzregion angeht. Nach wie vor sind Stereotype in hohem Maße präsent (S. 258f.) und die wirtschaftlichen Probleme auf beiden Seiten – Stichwort leere Straßen, Häuser, Fabriken – erleichtern eine vorurteilsfreie Sicht sicherlich nicht.

Zwar weist das Buch einige Lücken auf – so hätte man sich eine systematische Darstellung der kommunalen, behördlichen Kontakte gerade nach 1990/91, aber auch schon zuvor gewünscht. Auch bleibt die symbolische, die mentalitätsgeschichtliche Funktion der Grenze ebenso undeutlich wie ihr konkretes Antlitz. Dennoch ist die Arbeit von Katarzyna Stokłosa ein wichtiger Baustein für ein besseres Verständnis der Beziehungen zwischen der DDR und der VR Polen sowie der deutsch-polnischen Grenze. Vielleicht sind ja die Ergebnisse der in ihrem Untersuchungszeitraum bis 1995, in einzelnen Aspekten aber auch noch näher in die Gegenwart reichenden Arbeit aber auch teilweise schon von der Wirklichkeit überholt? In einem Wettbewerb der Körber-Stiftung jedenfalls reichte eine polnische Schülerin aus der Gegend von Gubin 2001/2002 den Beitrag „Huberts Erzählung“ über einen deutschen Gubener ein, in dem es heißt: „Hubert Grajewski ist ein glücklicher Mensch. Er ist Bürger der Eurostadt Gubin-Guben und fühlt sich in beiden Teilen gleich wohl.“4

Anmerkungen:
1 Haffner, Peter, Grenzfälle. Zwischen Polen und Deutschen, Frankfurt am Main 2002, S. 154.
2 Hierzu am Beispiel Breslau ausführlich: Thum, Gregor, Die fremde Stadt. Breslau 1945, Berlin 2003, Abschnitt „Gedächtnispolitik“; vgl. außerdem: Mach, Zdzisław, Niechciane miasta. migracja i tożsamość społeczna [Ungewollte Städte. Migration und soziale Identität], Kraków 1998; Niedźwiedzki, Dariusz, Odzyskiwanie miasta. Władza i tożsamość społeczna [Wiedergewonnene Städte. Herrschaft und soziale Identität], Kraków 2000; zum Kontext: Ther, Philipp, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1998.
3 Röhr, Rita, Hoffnung, Hilfe, Heuchelei. Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in Betrieben des DDR-Grenzbezirks Frankfurt/Oder 1966-1991, Berlin 2001.
4 Korsan, Katarzyna, Beiderseits der Oder. Die Geschichte eines Deutschen aus Guben, in: Wancerz-Gluza, Alicja (Hg.), Grenzerfahrungen. Jugendliche erforschen deutsch-polnische Geschichte, Hamburg 2003, S. 356.

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