M Leibetseder: Die Kavalierstour

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Titel
Die Kavalierstour. Adelige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert


Autor(en)
Leibetseder, Mathis
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Kürbis, Historisches Institut, Universität Potsdam

Es ist durchaus erstaunlich, dass die frühneuzeitliche Kavalierstour im Rahmen der (deutschsprachigen) historischen Reise- bzw. Reiseliteraturforschung bisher nur vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Gerade in neuester Zeit scheint sich aber ein Wandel anzubahnen. Neben der bereits vorliegenden Dissertation Antje Stanneks 1, liefert nun Mathis Leibesteder einen weiteren Beitrag zu diesem Themengebiet. Wer nach der Arbeit Stanneks angenommen haben sollte, zur Kavalierstour wäre das meiste gesagt, wird durchaus in einem positiven Sinn eines Besseren belehrt.

In sieben Kapiteln, im Inhaltsverzeichnis vielleicht etwas unglücklich mit Teilen überschrieben, werden eine Reihe zentraler Aspekte der Kavalierstouren behandelt. Den Ausgangspunkt bilden die familiären Reisetraditionen und die allgemeinen Normen der adligen Touren. Es schließt sich ein wichtiger Überblick über die Frage der Finanzierung der Reisen an. Die beiden folgenden Kapitel behandeln die Reisegesellschaft und die mit den Touren verbundenen zentralen Anliegen der Bildung, Ausbildung und Repräsentation. Ein vergleichsweise kleiner Raum wird den einzelnen Fallbeispielen im fünften Kapitel eingeräumt. Den Abschluss bilden Betrachtungen zu den Ergebnissen und Folgen der Reisen und einige Überlegungen zum Wandel sowie schließlich zum Ende der Kavalierstour im 18. Jahrhundert.

Besonders hervorzuheben ist das von Leibetseder zusammengetragene Quellenmaterial. Neben Reiseberichten und Reiseinstruktionen gelang es dem Autor Briefe, vor allem aber auch Rechnungen, die Aufschluss über die Kosten und Finanzierung der Reisen geben, auszuheben. Gerade darin liegt unzweifelhaft der Gewinn dieser Studie. Konkret handelt es sich um zwanzig Dokumentationen von Kavalierstouren, die sich neun Familien zurechnen lassen. Den Schwerpunkt dabei bilden Familien des Landadels aus Brandenburg, Sachsen und Bayern. Gewissermaßen als Vergleichsgrößen wurden daneben Reisen der Nürnberger Patrizier und der reichsunmittelbaren Familie Reuß berücksichtigt. Gerade auch in dieser Hinsicht ist das Buch ein sehr gutes Korrektiv zur Arbeit Stanneks, die sich in erster Linie auf den Hochadel konzentrierte, dessen Touren aber nur bedingt Aufschluss über die allgemeine Praxis zulassen. Der Zeitraum der Erhebung reicht von etwa 1620 bis in die 1770er-Jahre. Bedauerlich ist nur, dass für die berücksichtigten Archivbestände kein Material für die Zeit vor 1620 nachzuweisen war. In dieser Hinsicht wäre es sicher nicht unangebracht gewesen, wenn der Autor in größerem Umfang auf Beipiele aus anderen Familien zurückgegriffen hätte, um auch die Formierungsphase der Kavalierstour in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts breiter auszuleuchten. Im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts, dem Punkt, an dem Leibetseder erst eigentlich ansetzt, ist die Tour in ihren Grundzügen bereits festgelegt. Gerade im Unterschied zu den Wandlungen der Kavalierstour im 18. Jahrhundert bleibt die Frühphase der Kavalierstour in der gesamten Darstellung damit sehr unscharf. Man vermisst darüber hinaus allgemeine Überlegungen, wie verbreitet die Kavalierstouren innerhalb der Adelsgesellschaft des Alten Reiches tatsächlich waren. Ähnlich verhält es sich mit den Fragen nach den Konjunkturen und Brüchen dieser Reiseform vom ausgehenden 16. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es trifft eben nicht zu, dass wir über diese Fragen hinreichend im Bilde wären. Dass die Kavalierstouren während des Dreißigjährigen Krieges einen quantitativen Einbruch erlebten und ihr eigentlicher Höhepunkt im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts zu suchen ist, wie es in der Forschungsliteratur immer wieder zu lesen ist, sind bisher allenfalls nicht schlüssig begründete Vermutungen.

Sehr wichtig ist Leibetseders Hinweis auf die immer noch nicht in ausreichendem Maß berücksichtigten familiären Reisetraditionen und deren Verbindung mit den allgemeinen Normen der Kavalierstouren. Gerade im Zusammenhang mit den Reiseinstruktionen versäumt es der Autor allerdings, eine Verbindung zwischen den früheren Reisen innerhalb einer Familie, den daraus resultierenden Erfahrungen und der zeitgenössischen reisetheoretischen Literatur, die sich in den Instruktionen spiegelten, zu ziehen. Ebenfalls von zentraler Bedeutung ist der Hinweis auf die Netzwerke und Klientelbeziehungen der Reisenden und ihrer Familien, die in diesem Kontext bisher kaum in dieser Tiefe behandelt wurden. Hervorzuheben sind auch die wiederholten Bemerkungen zur Kontrolle der Söhne durch die Familie. Auch während ihrer Reisen blieben diese, unabhängig von der geografischen Entfernung, durch die Briefwechsel, durch die begleitenden Hofmeister, durch die Relationen der Residenten und durch andere Reisende in das Beziehungsgefüge ihrer Familie und ihrer Herkunftsregion eingebettet. Diese Aspekte sind in ihrer Bedeutung für das adäquate Verständnis dieser Reiseform kaum zu überschätzen. In diesen Zusammenhang ordnen sich auch Fragen ein, die sich mit der Planung der Reisen, aber auch mit der Kontaktaufnahme unterwegs beschäftigen. Hierzu gehören auch die interessanten Ergebnisse zu den Vermittlungsfunktionen etwa von Professoren oder Diplomaten, derer sich die Reisenden während ihrer Tour bedienten und denen bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das trifft auch auf die Aspekte zu, die sich mit den Kosten und der Finanzierung einzelner Touren befassen. Anhand der Ausführungen Leibetseders wird es erstmals möglich, den Aufwand „durchschnittlicher“ Kavalierstouren angemessen zu bewerten.

Dass es sich bei den Reisen des Adels keineswegs um Vergnügungstouren handelte, wird schon anhand des zu absolvierenden Ausbildungsprogramms sehr deutlich. Ebenso ist der Hinweis hervorzuheben, dass es trotz aller Normierungen keine Kavalierstour gab, die der anderen gleich gewesen wäre. Unklarheiten ergeben sich bei der Frage der Einordnung der Reisen der Nürnberger Patrizier. Diese resultieren u.a. aus einer gewissen begrifflichen Unschärfe. Da die Tour als adlige Bildungs- und Ausbildungsreise verstanden wird, lassen sich die Patrizierreisen nicht unter diesem Begriff subsumieren. Während der Einleitung zufolge die Reisen der Patrizier lediglich als Vergleichsmoment herangezogen werden sollen, werden diese dann im Verlauf der Arbeit begrifflich mit den Kavalierstouren gleichgestellt. Sicher, es bestehen viele Gemeinsamkeiten, zumindest in der Frage der Standeszugehörigkeit, die für den vorliegenden Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist, unterscheiden sie sich grundlegend. Dies zeigt sich etwa bei der Frage des Zugangs zu den während der Reise besuchten Höfen. Während, wie der Autor hervorhebt, die Landadligen kaum Schwierigkeiten hatten, diesen zu erlangen, blieb er den Nürnberger Patriziern verwehrt. Ihr Zugang blieb auf die Beobachtung von öffentlichen Zeremonien beschränkt. Gerade aber die unmittelbare Teilnahme am Zeremoniell und dessen aktive Einübung wurde in zeitgenössischer Perspektive als ein wesentlicher Bestandteil der Kavalierstour betrachtet. Diese Frage betrifft letztlich nicht nur die persönliche Verortung des jeweiligen Reisenden im Zeremoniell, sondern berührt auch den Rang und den Status der Familie innerhalb der europäischen Adelsgesellschaft.

Eine Reihe von Fragen, die durchaus von zentraler Bedeutung für die Erforschung der frühneuzeitlichen Kavalierstour sind, werden in der Arbeit nur am Rande thematisiert. Dies betrifft beispielsweise den konfessionellen Aspekt. Da der Autor Material sowohl protestantischer als auch katholischer Familien ausgewertet hat, hätten sich Beobachtungen zu diesem Thema eigentlich aufgedrängt. Dabei muss es sicherlich um die Fragen der Reiserouten und Reiseziele gehen. Wichtiger sind aber Fragen etwa nach möglicherweise unterschiedlichen Zielen bzw. Anforderungen, die mit den Reisen verbunden wurden. Ein weiterer Aspekt betrifft die Berichte selbst. Leibetseder weist darauf hin, dass die Überlieferungslage bei protestantischen Familien günstiger ist als bei katholischen. Es hätte sich sicher gelohnt, nach den möglichen Ursachen zu fragen. Ebenso hätte es sich angeboten, die Darstellungsform im Hinblick auf mögliche konfessionelle Unterschiede hin zu betrachten.

Ein anderer Punkt betrifft die schriftliche Bearbeitung der Reiseerfahrungen. Leibetseder gebraucht die Begriffe ‚Reisebericht‘ und ‚Reisebeschreibung‘ wiederholt synonym, ohne Differenzen in der Begrifflichkeit zu diskutieren. Auch der Frage der Textproduktion wird deutlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die von Leibetseder angerissene Frage der Entstehung der Berichte stellt eben nur einen Aspekt der Textgenese dar. Unterschiedliche Textfassungen, angefangen von den Briefen, über die während der Reise geführten Aufzeichnungen bis hin zu den Bearbeitungen der Berichte, die Eingang in die Familienbibliotheken fanden und der damit einhergehende Funktionswandel werden nicht berücksichtigt. Diese unterschiedlichen Textstufen betreffen nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Fragen. Die Einbeziehung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden wäre an diesem Punkt unerlässlich gewesen. Das betrifft auch die Frage nach den intertextuellen Abhängigkeiten der einzelnen Berichte von sekundären Quellen, also etwa bereits gedruckten Reiseberichten, Reiseführern usw. Zudem stellt sich die Frage, ob möglicherweise zwischen den unterschiedlichen Berichten, die in den einzelnen Familien überliefert wurden, textliche Zusammenhänge bestehen. Auch das Problem der Gattungsproblematik wird vom Autor nicht erschöpfend behandelt. Es trifft zwar durchaus zu, dass es sich bei den Berichten über Kavalierstouren nicht um eine selbständige Gattung handelte, allerdings bleibt ungeklärt, wie sich diese Berichte in die Gattung der Reiseberichte insgesamt einordnen, in der sie zumindest zeitweise auch stilprägend gewirkt haben.

Ungeachtet der vorgetragenen Kritik handelt es sich bei der Studie von Leibetseder um eine gelungene Darstellung des äußerst komplexen Themas. Zwar liefert das Buch keine erschöpfenden Antworten auf alle Fragen, die sich mit der Kavalierstour verbinden, aber die Arbeit ist sicherlich ein wichtiger Ansatzpunkt für weitere Forschungen in diesem Bereich. Die Stärken liegen eindeutig im berücksichtigten Quellenmaterial und bei der Beantwortung der Fragen, die sich unmittelbar aus dessen Auswertung ergeben. Das betrifft besonders die Fragen der Kosten und Finanzierung und der personellen Netzwerke der Kavaliere und ihrer Familien. Bei anderen Fragen, gerade denen, die sich mit der schriftlichen Bearbeitung der Reiseerfahrungen befassen, bleibt ein Reihe von Aspekten weitgehend unberücksichtigt. Hier zeigt sich, wie wichtig die Berücksichtigung von Ergebnissen und Methoden anderer Fachdisziplinien, die sich mit dem gleichen Forschungsgegenstand beschäftigen, sein kann.

Anmerkung:
1 Stannek, Antje, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2001.

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