H.-C. Harten u.a.: Rassenhygiene als Erziehungsideologie

Cover
Titel
Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch


Autor(en)
Harten, Hans Christian; Neirich, Uwe; Schwerendt, Matthias
Reihe
edition Bildung und Wissenschaft 10
Erschienen
Berlin 2006: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
546 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Cottebrune, Institut für Geschichte der Medizin, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die von Hans-Christian Harten, Uwe Neirich und Matthias Schwerendt zusammengestellte und kommentierte Bestandsaufnahme des Schrifttums zur Rassenpädagogik aus der Zeit des Nationalsozialismus versteht sich als ein grundlegender Beitrag zur Erforschung der besonderen Rolle der Pädagogik bei der Umsetzung der nationalsozialistischen rassenhygienischen und rassenpolitischen Erziehung. Die Autoren setzen mit ihrem Band ein neues Zeichen bei der überholten historiographischen Auseinandersetzung mit der pädagogischen Disziplin zur Zeit des Dritten Reichs. Während bisher vor allem vereinzelte Aspekte zur NS-Schulpolitik und Erziehungsberatung untersucht wurden, soll die Inventur rassenpädagogischen Schrifttums zur Beantwortung der zentralen Frage nach dem Einzug des rassenhygienischen und rassenpolitischen Diskurses in die Pädagogik verhelfen.

Ermöglicht wurde die Inventur durch eine längere Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Das Ergebnis besteht in einem in drei Teile gegliederten umfangreichen Band aus der Reihe „Edition Bildung und Wissenschaft“ des Zentrums für Zeitgeschichte von Bildung und Wissenschaft der Universität Hannover. Wie durch den Untertitel „Bio-bibliographisches Handbuch“ angekündigt, findet der Leser im ersten allgemeinen Teil Informationen zu erziehungswissenschaftlichen Aspekten der Rassenhygiene und Rassenpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus, zu Zusammensetzung und Hauptmerkmalen rassenpädagogischen Schrifttums und nicht zuletzt, ausgehend von einem strukturanalytischen Ansatz, zu Berufsweg und politischen Motivationen der Autoren. Der zweite biographische Teil präsentiert ausführlich die wichtigsten Autoren, unterteilt in verschiedene Kategorien, wobei die biographischen Einträge den gewöhnlichen Umfang von Lexikonbeiträgen stark überschreiten. Der dritte Teil besteht in der eigentlichen Bibliographie der ca. 2000 pädagogischen Schriften, die alphabetisch nach Autorennamen sortiert sind.

In einer Einleitung wird zunächst die Fragestellung vorgestellt und der „Einbruch eines naturwissenschaftlichen Paradigmas unter völkischen Vorzeichen in die Pädagogik“ grob geschildert. Die Autoren formulieren die These, dass die Pädagogik, die sich als Wissenschaft während der Weimarer Republik in einem geisteswissenschaftlichen Kontext etabliert hatte, vorwiegend unvorbereitet und hilflos auf diesen Einbruch reagierte. Allerdings ging die rasante Entfaltung des rassenpädagogischen Diskurses seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten ideell auf Inhalte zurück, die zum Teil lange vor 1933 entwickelt worden waren. In diesem Sinne ist die Geschichte der Pädagogik durch starke „Momente der Kontinuität und der Diskontinuität“ gekennzeichnet. Diskontinuität lässt sich vor allem auf der Ebene der Personen und der Institutionalisierung nachvollziehen. Im Hinblick auf die Kontinuitätsfrage wäre eine Längsschnittuntersuchung der pädagogischen Disziplin, die die Zeit vor 1933 und nach 1945 einbezieht, von großem Vorteil gewesen. Leider greifen die Autoren hier auf ihre allgemeinen Kenntnisse der Zeit zurück, um die Qualität des Paradigmenwechsels bzw. der Umorientierung auf einen rassenpädagogischen Diskurs zu beurteilen. Die Grundlagen dieser Kenntnisse werden für den Leser aber nicht näher erläutert. Man fragt sich, ob nicht zumindest eine sowohl quantitative als auch qualitative Kurzanalyse der wenigen rassenhygienisch und rassenpolitisch orientierten Texte aus der Zeit vor 1933 und ihrer Rezeption hier aufklärend gewirkt hätte.

Im allgemeinen Teil erfolgt eine Klärung der Begriffe von Rasse und Rassenhygiene, wobei hier die breite Anwendung des Konzepts der Rassenhygiene auffällt. Die NS-Rassenhygiene habe sich aus sozialdarwinistischen, eugenischen, rassenanthropologischen und völkischen Aspekten konstituiert, die sich zu einem neuen dynamischen Paradigma zusammengesetzt hätten. Infolge dieser Definition wird zwischen rassenhygienischen und rassenanthropologischen Motiven interessanterweise nicht deutlich differenziert. Mit anschaulichen Beispielen geben die Autoren Einblicke in die Ästhetik und Didaktik rassenpädagogischen Schrifttums und gehen auf Institutionalisierungsprozesse ein. Dabei weisen sie vor allem auf die radikale Etablierung der Rassenhygiene und Rassenkunde an den Hochschulen für Lehrerbildung hin, die bisher in der Literatur nicht berücksichtigt wurde, obwohl sie bemerkenswerterweise „weiter ging und insgesamt erfolgreicher als an den Universitäten verlief“ (S. 25). Bereits 1933 wurde für Schulen ein rassenkundlicher Unterricht angeordnet. Darüber hinaus wurde für alle Lehramtstudenten eine erb- und rassenkundliche Grundausbildung sichergestellt.

Nach einer Beschreibung des zusammengestellten Quellenkorpus im Hinblick auf Typus und Funktion der Quellen, präsentieren die Autoren die Ergebnisse ihrer auf empirisch-statistischen Untersuchungen beruhenden Strukturanalyse der Autorenschaft. Gegenstand der verfeinerten Strukturanalyse sind die 982 Autoren der insgesamt 2052 zusammengestellten Texte. Der Analyse von Daten zur sozialen Herkunft und Religionszugehörigkeit entsprechend werden die Autoren im Wesentlichen der protestantisch geprägten Mittelschicht zugeordnet. Sie zählten überwiegend zur wissenschaftlich gebildeten Elite und befanden sich mehrheitlich im mittleren Alter, wobei sich im Hinblick auf ihr politisches Engagement Schwankungen des Durchschnittsalters festmachen ließen: Die Autoren, die aktiv an der praktischen Rassenpolitik beteiligt waren und als „rassenpolitische Aktivisten“ bezeichnet werden, gehörten in der Mehrzahl der sogenannten Kriegsjugendgeneration der zwischen 1900 und 1909/10 Geborenen an, die in der Funktionselite des Dritten Reichs eine besondere Rolle gespielt haben soll. Die Auswertung berufsspezifischer Daten ergab, dass Lehrer und Studienräte die größte Gruppe der rassenpolitisch publizierenden Pädagogen darstellten. Die zweitgrößte Gruppe bildeten Professoren und Dozenten, die vor allem in der Lehrerbildung und den pädagogisch-psychologischen Fächern tätig waren. Im Fall von 802 Autoren konnten politische Daten ausfindig gemacht werden. Daraus wurde der hohe politische Organisationsgrad der Autoren ersichtlich, die zu 85% Mitglieder der NSDAP waren. Da Mitgliedschaften in der NSDAP nicht zwingenderweise als Beweis nationalsozialistischer Überzeugung und Aktivität interpretiert werden können – Beitritte erfolgten zum Teil aufgrund von externem Druck und es bestand für verbeamtete Hochschullehrer zum Teil eine gesetzlich geregelte Pflicht zur Mitgliedschaft – , wird der Zeitpunkt des Beitritts zu einer NS-Organisation als ein wichtiges Kriterium herangezogen, um die politischen Daten zu bewerten. Da ca. 40% aller Autoren vor 1933 in der völkisch-nationalsozialistischen Bewegung organisiert waren, kann bei einem beträchtlichen Anteil von Autoren eine politische und ideologische Motivation angenommen werden, die sich bereits vor der Machtübernahme herausgebildet hatte. Dieses Ergebnis weist eindeutig auf eine Besonderheit der in den Blick genommenen Autorenschaft im Vergleich zu allgemeinen berufsspezifischen Untersuchungen hin. Dieses Ergebnis erfährt eine interessante Vertiefung, wendet man sich der speziellen Gruppe der rassenpolitischen Aktivisten zu: Weit über die Hälfte der SS-Angehörigen und Mitglieder des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP unter den Autoren waren bereits vor dem Beginn des Dritten Reichs Mitglied einer völkischen oder NS-Organisation. Vor diesem Hintergrund wird der Eindruck einer „akademisch hochgebildeten rassenpolitischen Führungselite“ erhärtet. Zuletzt werden Karrieremuster in den Blick genommen und somit die Frage nach der tatsächlichen Überzeugung der Autoren einer Überprüfung unterzogen. Verschiedene Indikatoren, die gegen die Rolle von opportunistischen Motiven und Karrierestreben sprechen, werden im Detail besprochen. Denn Daten über die politischen Zugehörigkeiten der Autoren lassen nicht den Schluss zu, dass die politische Organisation für Personen, die 1933 am Beginn ihrer Karriere standen von größerer Bedeutung war als für Akademiker, die bereits älter und etabliert waren. Gerade unter den Professoren, die erst ab 1933 berufen wurden, war über die Hälfte vor der Machtübernahme völkisch-nationalsozialistisch organisiert. Unter den „beruflich Etablierten“, die im Dritten Reich einen weiteren beruflichen Aufstieg erfuhren, findet sich ein höherer Anteil an Personen, die bereits vor 1933 einer völkisch-nationalsozialistischen Organisation angehörten. Vor diesem Hintergrund lassen sich opportunistische Motive sehr stark relativieren. Eine tatsächliche ideologische Überzeugung eines Großteils der rassenpolitisch aktiven Pädagogen lässt sich vielmehr annehmen. Im letzten Abschnitt des ersten allgemeinen Teils wird die besondere Gruppe der Professoren und Dozenten der Hochschulen für Lehrerbildung, die disziplingeschichtlich von großem Interesse erscheint, näher beschrieben. Dabei wird vor allem die These der Diskontinuität noch einmal thematisiert, da nur 27,8% der erfassten Professoren und Dozenten der Hochschulen für Lehrerbildung als Autoren von rassenpädagogischen Schriften zuvor an den pädagogischen Akademien und Instituten der Weimarer Republik tätig waren.

Dem zweiten biographischen Teil der Arbeit liegt eine repräsentative Auswahl von 146 Autoren zugrunde, deren Biographien unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs von wissenschaftlicher, beruflicher und politischer Entwicklung bearbeitet wurden. An den Anfang werden die Biographien von Hans F.K. Günther und Ludwig F. Clauss gestellt, da sie im Nationalsozialismus eine besondere Rolle spielten und bei der Umorientierung der Pädagogik entscheidende Impulse gaben. An den gründlich recherchierten biographischen Beiträgen zu Günther und Clauss schließen sich eine Reihe weiterer biographischer Darstellungen von Autoren an, die in die folgenden vier Kategorien eingeteilt werden: Autoren der wissenschaftlichen Pädagogik und der Pädagogischen Psychologie, unter denen Erich Jaensch als Wegbereiter einer rassistischen Psychologie eine theoretische Meinungsführerschaft beanspruchte; die Didaktiker, Schulungsexperten und Angehörige der Bildungsverwaltung; die rassenpolitischen Aktivisten und schließlich die Experten rassenhygienischer Forschung, Fortbildung und Gesundheitserziehung.

Der letzte und dritte Teil des Bandes besteht in der eigentlichen Bibliographie rassenpädagogischen Schrifttums. Nach kurzen alphabetisch geordneten biographischen Einträgen der jeweiligen Autoren werden die Titel der Schriften chronologisch aufgeführt. Insgesamt hinterlässt der zusammengestellte Band den Eindruck einer akribisch durchgeführten Recherche zur Autorenschaft rassenpädagogischen Schrifttums aus der nationalsozialistischen Zeit. Die These der Diskontinuität der pädagogischen Disziplin wird dabei genauer untersucht und erhärtet. Als Untersuchungsgegenstand werden Autoren großzügig behandelt, die Texte weniger: Leider wird aus arbeitspragmatischen Gründen auf eine exemplarische Darstellung der Textinhalte verzichtet. Aber gerade aufgrund dieser Auslassung gibt die Arbeit Impulse für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Inhalten der NS-Rassenpädagogik. Inwieweit rassenpolitische und rassenhygienische Motive in den Texten konkret verflochten wurden, wäre ein interessante Frage, die weitere Anhaltspunkte für eine breite Definition der NS-Rassenhygiene liefern könnte.

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