R. Prien: Archäologie und Migration

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Titel
Archäologie und Migration. Vergleichende Studien zur archäologischen Nachweisbarkeit von Migrationsbewegungen


Autor(en)
Prien, Roland
Reihe
Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 120
Erschienen
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerson H. Jeute, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Flucht, Vertreibung und Wanderungsbewegungen von unterschiedlichsten ethnischen und sozialen Gruppen sind kein Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts. Es gab sie bereits in ur- und frühgeschichtlicher Zeit. Am deutlichsten wird dies bekanntlich in der Epochenbezeichnung "Völkerwanderungszeit". Mit dem vorliegenden Band, einer im Jahre 2002 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg eingereichten Dissertation, stellt Roland Prien nun verschiedene Migrationen der letzten 1500 Jahre gegenüber und versucht, sie anhand ihrer materiellen Hinterlassenschaften zu ergründen.

Im einleitenden Kapitel ("Theoretischer Teil", S. 11-48) geht Prien in recht knapper Weise zunächst auf die wichtigsten Migrationstheorien der Soziologie ein und erläutert anschließend ihre Einsatzmöglichkeiten in der archäologischen Forschung. Seit E. G. Ravenstein ist eine kaum noch zu überblickende Zahl an Veröffentlichungen erschienen. Dabei hat die Migrationsforschung einen deutlichen Wandel erfahren, der sie von den ursprünglichen Bemühungen um eine Typologisierung von Migration, über die Suche nach allgemeingültigen Theorien hin zu den jüngsten Tendenzen führte, in denen vor allem in Mikrotheorien die individuellen Beweggründe des Einzelnen für seine Migration zu ergründen versucht werden. Bereits hier setzen jedoch die Schwierigkeiten der archäologischen Erforschung von Wanderungen ein, da die ur- und frühgeschichtlichen Quellen - in der Regel Bodenfunde - nur einen begrenzten Ausschnitt der Vergangenheit widerspiegeln. Über Empfindungen und Befindlichkeiten können die materiellen Hinterlassenschaften allerdings so gut wie nichts aussagen. Somit sind also wiederum vor allem die älteren soziologisch-theoretischen Ansätze heranzuziehen, insbesondere das regressionsanalytische Modell von E. S. Lee. Diesen Versuch nun einmal zu wagen, darin liegt das Verdienst dieser Arbeit. Sie folgt damit den Ansätzen der modernen Archäologie, die sich verstärkt um theoretische Aspekte bemüht. Während sich jedoch die britische, amerikanische und skandinavische Forschung bereits seit mehreren Jahrzehnten dieser Problematik widmet, ist in der deutschsprachigen Forschung eine intensive Hinwendung zu theoretischen Themen erst seit den 1990er-Jahren zu verzeichnen. Die Nachwirkungen des politischen Missbrauchs der Archäologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren zu immanent, als dass man sich zu weit vom reinen archäologischen Material entfernen wollte. Auf diesen Aspekt geht der Band, wenn auch nur sehr kurz, ebenfalls ein, denn diese forschungsgeschichtlichen Eigenheiten, zu denen mittlerweile ausführliche Untersuchungen vorliegen 1, sind Voraussetzung für das Verständnis der heutigen Entwicklung. Prien orientiert sich nun in seiner Untersuchung an soziologischen Methoden. In Abwandlung einer Auflistung von D. W. Anthony werden die Wanderungstypen Elitenwanderung, Massenwanderung, Spezialistenwanderung und Vertreibung verwendet. Leider gerät die Typologie im weiteren Text zunehmend in den Hintergrund, nicht zuletzt auch daher, da eine solche Unterteilung in ihrer Detailfülle im archäologischen Kontext kaum wieder zu finden ist.

Für das zweite Kapitel werden eine Vielzahl von "Fallbeispielen von historischen Wanderungen" (S. 49-303) herangezogen. Diese reichen von den Migrationen der Völkerwanderungszeit in Britannien und Italien, über jene von Reitervölkern, wie den Awaren im Karpatenbecken, bis hin zu den Migrationen der Wikingerzeit in Westeuropa und im Nordatlantik einschließlich der verschiedenen Migrationen des Mittelalters. Letztlich wird noch auf Beispiele aus der Neuzeit und der Moderne verwiesen. Nach der Erläuterung der historischen Hintergründe folgt eine Darstellung der wichtigsten schriftlichen und linguistischen Quellen, denen letztlich die archäologischen Quellen gegenüber gestellt werden. Diese können mit zahlreichen Abbildungen von Befunden und Funden sowie verschiedenen Verbreitungskarten einzelner Fundtypen illustriert werden.

In der Untersuchung der Migrationsbewegungen verdeutlichen sich die methodischen Grenzen der archäologischen Forschung, die Prien zwar gelegentlich anspricht, ihnen darüber hinaus allerdings nichts entgegenstellt. Zum einen wären die Schwierigkeiten einer genauen Datierung zu nennen. Während uns die schriftlichen Quellen in der Regel jahrgenaue Daten der Abwanderung, der Ankunft oder anderer Ereignisse nennen, stehen im archäologischen Kontext selten absolute Daten zur Verfügung. Für die Migrationen der Völkerwanderungszeit beispielsweise gibt es hauptsächlich Gräberfelder und einzelne Gräber. Anhand von Trachtbestandteilen (wie Fibeln) und anhand von Waffen (wie Schildbuckel und Lanzenspitzen) können diese jedoch nur typologisch-vergleichend und damit relativ-chronologisch datiert werden. Dabei ist nicht auszuschließen, dass einzelne Objekte vererbt wurden und somit erst eine oder mehrere Generationen später in das Grab gelangten. Problematisch ist weiterhin, dass es zwar eine Vielzahl von Gräbern auf zahlreichen Gräberfeldern gibt, kaum aber vollständig ergrabene Bestattungsplätze. Ebenso mangelt es an anthropologischen Untersuchungen, die einen Einblick in die demografische Struktur der Population geben könnten.

Noch größer sind die Schwierigkeiten bei der Feststellung der ethnischen Identität der Bewohner einer Siedlung oder der Individuen auf einem Gräberfeld.2 Einzelne Objekte wie Schmuck, Waffen und Keramikgefäße lassen in keiner Weise ethnische Aussagen zu. Derartige Gegenstände können aber sehr leicht durch Tausch oder Handel, auch über mehrere Etappen, in die Zielregion gelangt sein. Prien bemüht sich, keine Einzelfunde heranzuziehen, jedoch gelingt das zwangsläufig nicht immer. Deutlicher können die Aussagen beim Hausbau sein. Doch auch hier ist zu bedenken, dass Zuwanderer sich bei der Bauweise den klimatischen Bedingungen, der lokalen Wirtschaftsweise, dem vorhandenen Baumaterial und den funktionellen Möglichkeiten anpassen müssen. Für die Migration nach Island und Grönland in der Wikingerzeit beispielsweise stellt Prien verschiedenen Langhaustypen gegeneinander, aber auch hier ergeben sich Schwierigkeiten: So liegen nur wenige vollständig gegrabene Siedlungen vor, und Funktionsbereiche innerhalb der Gebäude lassen sich teilweise nur schwer zuweisen. All dies verdeutlicht, wie sehr die Forschung europaweit noch am Anfang steht.

In den "Ergebnisse" (S. 304-323) versucht Prien letztlich noch einmal anhand einzelner Bereiche darzustellen, auf welche Art und Weise sich Wanderungen im archäologischen Fundmaterial niederschlagen. Er unterteilt dazu in Befund- und Fundbereiche. Dabei sind die Gräber, wie erwähnt, jedoch der schwierigste Bereich. Art und Umfang der Bestattung werden nicht nur durch die Selbstdarstellung des Bestatteten, sondern auch durch dessen soziales Umfeld und die Gesellschaft bestimmt, in der er gelebt und die ihn bestattet hat. Günstiger für die Erkennung von Migrationen erscheint dagegen der Bereich Hausbau, jedoch mit den genannten Einschränkungen. Veränderungen lassen sich also noch am ehesten großräumig im Besiedlungsbild einer Region erfassen. Neu entstehende Siedlungsplätze deuten auf eine eingewanderte Bevölkerung, ein Rückgang auf einen Abbruch der Besiedlung. Doch auch hier spielen andere Faktoren hinein, wie eine Siedlungskonzentration im Raum oder eine veränderte Wirtschaftsweise in der Zeit. Außerdem besteht das methodische Problem, dass nur wenige Regionen derart intensiv und detailliert erforscht sind, dass anhand von exakt datierten Fundplätzen Kontinuität oder Diskontinuität der Besiedlung erkannt werden könnten.

Da für die Erörterung von Migrationen Einzelfunde nicht geeignet sind, ist das Heranziehen einer Kombination verschiedener Merkmale erforderlich, um die sich Prien bemüht. Aus dem Dargelegten versucht er letztlich ein Modell zu formen. Demnach unterteilt er den Haupttyp der Migrationen, die Langstreckenmigration, in vier Phasen: Kontakt- bzw. Erkundungsphase, Migrationsphase, Etablierungsphase und Rückstromphase. Der Versuch, diesen vier Phasen nun mögliche materielle Zeugnisse zuzuweisen, in der Annahme, dass theoretisch in jeder Phase ein materieller Fundniederschlag erfolgt sei, ist nach den zuvor geschilderten methodischen Problemen jedoch nicht überzeugend. Am Ende des Buches befindet sich ein Exkurs ("Migration in prähistorischer Zeit: zwei Beispiele und ihre Bewertung", S. 324-352), in dem die frühgeschichtlichen Ergebnisse auf prähistorische Zeitstufen übertragen werden. Ein "Summary" und das "Literaturverzeichnis" (S. 353-373) beschließen den Band. Das umfangreiche bibliografische Material lässt sich allerdings nur schwer erschließen, da es vorrangig auf zahllose Anmerkungen verteilt ist.

Mit der vorliegenden Arbeit hat Roland Prien ein großes Thema bearbeitet, dass einen weiten - fast schon zu weiten - zeitlichen und geografischen Raum umfasst. Sie bietet verschiedene Möglichkeiten der Vertiefung von Einzelthemen und darüber hinaus Anregungen für weitere diachrone Vergleiche. Leider trüben zahllose Tippfehler und redaktionelle Unzulänglichkeiten den Lesespaß erheblich.

Anmerkungen:
1 Grünert, Heinz, Gustaf Kossinna (1858-1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Rahden 2002; Leube, Achim (Hg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945, Heidelberg 2002; Biehl, Peter F. u.a. (Hgg.), Archaeologies of Europe. History, Methods and Theories, Münster 2002.
2 Brather, Sebastian, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen, Berlin 2004.

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