P. Hammerschmidt: Die Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit

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Titel
Die Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit. Reorganisation und Finanzierung der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege 1945 bis 1961


Autor(en)
Hammerschmidt, Peter
Reihe
Juventa Materialien
Erschienen
Weinheim 2005: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Institut für Rechtswissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Zur Geschichte der Wohlfahrtsverbände in der Bundesrepublik lagen bislang nur Studien zu einzelnen Organisationen vor. Nun unternimmt es Peter Hammerschmidt, Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Dresden, eine Gesamtübersicht über die Spitzenverbände im Zeitraum von 1945 bis 1961 vorzulegen. Hammerschmidt führt damit seine umfassenden Untersuchungen zu den deutschen Wohlfahrtsverbänden und -anstalten in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus bis zum Ausgang der Adenauer-Zeit fort.1 Ähnlich wie bei den beiden vorherigen Werken wird auch diesmal wieder das Hauptaugenmerk auf die Finanzierung und Organisation der freien Wohlfahrtsverbände gelegt.

Die Studie ist klar in vier chronologisch angeordnete Hauptkapitel gegliedert, die sich der Besatzungszeit sowie den ersten drei Legislaturperioden des Deutschen Bundestages widmen. In jedem Hauptkapitel werden die sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik, also Deutscher Caritasverband (DCV), Centralausschuss für die Innere Mission (CA) mit Evangelischem Hilfswerk (HW), Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV) sowie Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) näher beleuchtet. Darüber hinaus bezieht Hammerschmidt die gemeinsame Dachorganisation, die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege (AGFW), mit ein. Weitere Informationen liefern insgesamt acht Schaubilder zur Organisationsstruktur der einzelnen Wohlfahrtsverbände sowie ein Anhang. Er enthält im Wesentlichen rund 70 Kurzbiografien von führenden Persönlichkeiten der Wohlfahrtspflege, 33 Tabellen (z.B. Haushaltsrechnungen, Einrichtungs- und Personalbestand), das Literaturverzeichnis und ein Personenregister.2

Innerhalb der Wohlfahrtsverbände der Nachkriegszeit nahm der Deutsche Caritasverband rasch eine Spitzenposition ein, die dadurch begünstigt wurde, dass er seine Organisationsstruktur nahezu unversehrt durch die NS-Zeit gerettet hatte. Da der Verband über die meisten Wohlfahrtseinrichtungen verfügte, konnte er sich auch die größte staatliche Unterstützung bei den Mittelzuweisungen sichern. Wie überragend teilweise seine Stellung war, wird nicht zuletzt an dem Jugendwohlfahrtsgesetz und dem Bundessozialhilfegesetz von 1961 sichtbar, wo es dem DCV gelang, die Hegemonie der freien Wohlfahrtspflege gegenüber der öffentlichen Fürsorge mit Hilfe der Kirchen und christlichen Parteien durchzusetzen.3 Bei dem Centralausschuss für die Innere Mission lagen die Dinge deutlich anders. Zwar hatte man ebenfalls die NS-Zeit mit weitgehend intakter Organisation überstanden, doch war die Verwaltung des Verbandes wegen des hohen Anteils von NS-Mitgliedern belastet. Mit dem Evangelischen Hilfswerk entstand ein weiterer evangelischer Verband, der über einen längeren Zeitraum eine Konkurrenzsituation hervorrief, in die auch noch das Ost-West-Verhältnis mit hineinspielte. Das Deutsche Rote Kreuz hatte sich während der NS-Zeit immer mehr zu einer militärischen Hilfsorganisation des NS-Regimes entwickelt und wurde deshalb von den Alliierten zunächst verboten. Deshalb konnte erst allmählich ein Wiederaufbau auf gesamtstaatlicher Ebene erreicht werden. In den 5190er-Jahren baute das DRK seine Position im Zuge der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik durch Engagement auf dem Gebiet des „Katastrophenschutzes“ aus, blieb aber im Konzert der Wohlfahrtsverbände isoliert.

Die Arbeiterwohlfahrt war 1933 von den brauen Machthabern eliminiert worden und musste einen Neuanfang bewerkstelligen, der relativ rasch gelang. Im Gegensatz zur Weimarer Republik, als eine überaus enge Verbindung zur SPD bestand, löste sich die AWO stärker von dieser parteipolitischen Abhängigkeit und öffnete sich für Mitglieder, die keine SPD-„Genossen“ waren. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband konnte sich ähnlich wie das DRK erst nach und nach wieder als Spitzenverband konstituieren. Er bot vor allem jenen teilweise sehr heterogenen Organisationen eine Heimat, für die die übrigen Verbände aus weltanschaulichen oder religiösen Gründen nicht als Vertretung in Frage kamen. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland hatte aufgrund des Holocausts die größten Probleme bei der Reorganisation zu überwinden. Sie blieb ein angesehener, aber insgesamt wenig bedeutender Spitzenverband im Spektrum der freien Wohlfahrtspflege. Die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege versammelte seit 1948 die genannten Organisationen unter ihrem Dach. Sie unterschied sich von der „Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege“ aus der Weimarer Republik nur dadurch, dass in ihr der „Zentralausschuß der christlichen Arbeiterschaft“ nicht mehr vertreten war. Die AGFW verstand ihre Hauptaufgabe darin, die Finanzlage und die Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder in Verhandlungen mit den zuständigen staatlichen Stellen zu verbessern sowie die Vormachtstellung der Spitzenverbände gegen Konkurrenz aus dem eigenen Lager zu verteidigen.

Das besondere Interesse von Hammerschmidt gilt der Finanzierung der Wohlfahrtsverbände. Dabei nimmt er vor allem den Caritasverband, die Innere Mission, das Hilfswerk sowie die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtsverbände in den Blick. Diese Akteure werden akribisch anhand umfangreicher Archivmaterialien durchleuchtet und ihre Bilanzen en détail geprüft. Dem gegenüber bleiben die übrigen vier Spitzenverbände, bei denen in der Regel auf Archivarbeiten verzichtet wurde, blasser. Für die konfessionellen Verbände sowie die AGFW führt die Studie anhand von zahlreichen Beispielen überzeugend den Nachweis, welche zentrale Rolle die Mittelbeschaffung für die Verbandspolitik spielte. Zu den umfangreichen Finanzquellen, die zum Sprudeln gebracht wurden, gehörten unter anderem Spendengelder, Mitgliedsbeiträge, der Erlös aus dem Verkauf von Wohlfahrtsbriefmarken, Fördermittel aus dem Soforthilfegesetz und dem Lastenausgleich, Zins- und Mieteinkünfte sowie Bundessubventionen, beispielsweise die so genannte Globalbeihilfe. Vor allem die AGFW, die als „wohlfahrtspolitisches Kartell“ begriffen wird (S. 407), diente dabei als Organ, um Einfluss auf das zuständige Bundesinnenministerium (BMI) zu gewinnen. Unter anderem sollten vorteilhafte Regelungen bei der Anerkennung der Gemeinnützigkeit und günstige Finanzierungsmodalitäten durchgesetzt werden. Dabei kristallisierten sich zwei Hauptkonflikte heraus. Ein interner, der sich zwischen den AGFW-Mitgliedern um die Schlüsselzuweisung der Subventionen entzündete, und ein externer, der mehr oder weniger permanent gegen das Bundesfinanzministerium (BMF) ausgefochten wurde, das die Ausgaben an die freie Wohlfahrtspflege zu begrenzen suchte.

Mit gutem Grund nimmt in der Darstellung die Verteilung von ausländischen Hilfslieferungen einen relativ breiten Raum ein, da diese eine wesentliche Aufgabe der freien Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit bildete. Ebenfalls angemessen werden der institutionelle Ausbau und die Personalentwicklung der Wohlfahrtsverbände berücksichtigt. Im dem Zusammenhang wäre allerdings zu fragen, warum die Entnazifizierung und der Aspekt der personellen Kontinuität in einigen Wohlfahrtsverbänden nahezu ausgeklammert wurden. Auch ist in einem Teil der Kurzbiografien die NS-Belastung führender Persönlichkeiten des Fürsorgewesens kaum zu erkennen. Hinzuweisen ist beispielsweise auf Karl Mailänder (1883-1960), den Vorsitzenden des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, oder auf Hans Muthesius (1885-1977), den Vorsitzenden des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV). Beide gehörten der NSDAP an und waren in die „Asozialen“-Verfolgung des „Dritten Reiches“ involviert.4 Eine kritische Bilanz des Wirkens von CA-Präsident Constantin Frick (1877-1949) in der NS-Zeit wäre gleichfalls wünschenswert gewesen.5

Insgesamt liefert das Werk von Matthias Hammerschmidt wichtige Basisinformationen zur Institutionalisierung sowie Finanzierung der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege und beleuchtet die Interaktion des „wohlfahrtspolitischen Kartells“ mit dem politisch-administrativen System der Bundesrepublik in der Adenauer-Zeit. Es ist argumentativ gut unterbaut und erweitert den bisherigen Kenntnisstand merklich.

Anmerkungen:
1 Hammerschmidt, Peter, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat, Opladen 1999; Hammerschmidt, Peter, Finanzierung und Management von Wohlfahrtsanstalten 1920 bis 1936, Stuttgart 2003.
2 Bei den Kurzbiografien vermisst man allerdings die Quellenangabe, während das Personenregister nur rund die Hälfte der im Text erwähnten Personen enthält.
3 Dieses Unterkapitel erschien auch separat: vgl. Hammerschmidt, Peter, Zur Rolle der Caritas bei der Neuformulierung des Subsidiaritätsprinzips im Bundessozialhilfegesetz und im Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik 3 (2005), S. 185-204.
4 Vgl. Ayaß, Wolfgang, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Schrapper, Christian, Hans Muthesius (1885-1977). Ein deutscher Fürsorgejurist und Sozialpolitiker zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Münster 1993.
5 Vgl. Reineke, Peter, Frick, Constantin, in: Maier, Hugo (Hgg.), Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg im Breisgau 1998, S. 185.

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