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Titel
Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive


Autor(en)
Völkel, Markus
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Stephan Schmal, Leipzig

Nachdem die Welt nicht mehr in Ost und West aufgeteilt ist, auch der ‚clash of civilizations’ sich nicht als Alternativkonzept bewährt hat und schließlich in Europa allerorten eine gewisse Europamüdigkeit erkennbar ist, hat gerade ein anderes Modell Konjunktur, das freilich ein alter Bekannter ist: die Universalgeschichte, die sich redlich müht, dem alten Konzept der ‚Abfolge der Reiche und Nationen’ zu entrinnen.1 Markus Völkel legt nun passend dazu in der bewährten UTB-Reihe eine handliche 400-seitige Geschichte der Geschichtsschreibung vor, die ausdrücklich den Ansatz verfolgt, alle wichtigen einschlägigen literarischen Bemühungen der Kulturen dieser Welt vorzustellen. Der Autor, Jahrgang 1953, ist Professor für Europäische Geistesgeschichte und historische Methodologie an der Universität Rostock. Sein Arbeitsbereich liegt vor allem in der westeuropäischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts.

Die Historiographiegeschichte ist zwar kein ganz neues Forschungsfeld,2 wird aber dort, wo sie über einzelne Kulturräume vergleichend hinausgreift, nach wie vor nur von einer kleinen Forschergemeinde betrieben. Das verwundert nicht, denn Ausbildung und wissenschaftliche Spezialisierung verlangen Vertiefung, die wiederum entscheidend vom vertieften Verständnis einzelner Kultur- und Sprachräume abhängt. Was versteht ein klassisch ausgebildeter europäischer Historiker normalerweise von der chinesischen Literatur? Das Risiko, das er auf sich nimmt, wenn er trotzdem darüber schreiben will, ist ungefähr mit dem des ausgewiesenen Spinnenforschers vergleichbar, der Stellung beziehen muss zu Problemen der Quantenmechanik. Dennoch wurzeln die Letzteren beide in einem einheitlichen naturwissenschaftlichen Regelwerk, dessen ideologische und eurozentrische Bedingtheit nicht mehr groß diskutiert wird. Aber gilt das für die weltweite schriftliche Memorialkultur gleichermaßen? Gibt es auch für sie so etwas wie einen universalen Bauplan? Völkel bedauert, dass die Historiographiegeschichte sich über so viele Einzeldisziplinen erstreckt, „wobei sich für das ‚große Ganze’ jedoch niemand zuständig fühlt“ (S. 12). Genau dies ist die gewagte Prämisse, dass es überhaupt ein ‚großes Ganzes’ gibt, ein komplexes Phänomen, das unter ähnlichen Bedingungen in vielen gleichen Einzelelementen zu allen Zeiten in allen Hochkulturen aufgetreten ist, also eine Art anthropologischer Konstante darstellt. Dies würde Völkel klar bejahen.3

Die Gegenthese muss lauten, und sie wird vor allem von europakritischen Intellektuellen aus Afrika und Südamerika formuliert: In Europa hat sich in politisch und sozial hoch differenzierten Gesellschaften ein zeitlich und räumlich eng begrenztes reflexives Interpretationsmodell, das auf die politische Ordnung fixiert ist, herausgebildet, welches – zusammen mit dem ‚Nationalstaat’ – weltweit als ‚Geschichtsschreibung’ Karriere gemacht hat und im Zuge des Imperialismus seit dem 19. Jahrhundert zum alleingültigen universalen Modell gemacht worden ist. Ein Historiker, der in diesem Modell sozialisiert worden ist, so könnte man das weiterdenken, kann Erscheinungsformen wie chinesischer Staatsregistratur, muslimischem hadith und indischen Epen fernvergangener Epochen letztlich nur Gewalt antun, wenn er sie dieser seiner Sichtweise unterwirft und sie in das ‚historische Modell’ pressen will. Ob die aufmerksame Leserin nach der Lektüre des vorliegenden Buchs in der Lage sein wird, klar für eine der beiden grundlegenden Thesen zu votieren, sei vorläufig dahingestellt, aber dass Völkels Buch jede Menge Argumente für eine solche Diskussion liefert, ist ein großer Gewinn und zeigt auch, dass die Fragestellungen nicht zu eng sind, dass das Korsett der europäischen Sichtweise nicht so straff geschnürt ist, dass das ‚völlig Andere’, um das es dem neugierigen Leser ja vor allem geht, nicht wenigstens ahnungsweise zum Vorschein kommt.

Für wen ist der UTB-Band geschrieben? Völkel selbst sagt, er sei „in besonderem Maße für den Gebrauch im historischen Seminar bestimmt“ (S. 9). Die Frage ist allerdings, ob das Seminarthema ‚universale Historiographiegeschichte’ an deutschen Universitäten wirklich so verbreitet ist. Der klassische (deutsche) Geschichtsstudent wird durch das Buch in Wahrheit wohl wenig vorangebracht werden. Das liegt vor allem daran, dass es selbst für den Leser schon eines einigermaßen sicheren Sitzes in einer Geisteswissenschaft bedarf, um ein Verständnis für das hier präsentierte Panorama zu entwickeln. Das heißt freilich auch, dass Völkels „Geschichtsschreibung“ nicht nur von Geschichtsabsolventen, sondern auch von praktizierenden Romanisten, Politikwissenschaftlern, Mediävisten und so fort, sicher auch von trainierten Bildungsbürgern, die den Umgang mit historischen Themen gewohnt sind, mit Gewinn gelesen werden kann. Die klare Gliederung und der oft feuilletonistische Schreibstil des Buchs leisten dem Vorschub.

Nach einer Einleitung und einem gründlichen Auftakt über das Studium der Historiographiegeschichte gliedert Völkel seinen Stoff in 11 Hauptkapitel, in denen er sich zumeist jeweils einem Kulturkreis nähert: „Jedes Kapitel befaßt sich mit einer historiographischen ‚Großformation’, die räumlich, zeitlich und funktional zusammenhängend entworfen ist“ (S. 17). Diese Definition weicht wohlweislich der Frage nach der jeweiligen Eigenständigkeit der „Großformationen“ aus. Diese ist nach inneren Kriterien sicher nicht für die byzantinische und noch viel weniger für die komplett verzichtbare amerikanische „Formation“ gegeben, welche sich als klare Epiphänomene der europäischen antiken bzw. frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung zu erkennen geben.4 Die Hauptkapitel sind so geschickt geschnitten, dass sie annähernd gleich lang sind – keine Kleinigkeit für diesen heterogenen Stoff. Der Autor gewinnt diese annähernde Ausgewogenheit freilich vor allem durch eine nachgerade brutale Beschneidung der letzten hundert Jahre, in denen fast nur die Gruppe der Annales, ein wenig Universalgeschichte und zehn Seiten afrikanischer Geschichtsschreibung Platz finden. Im Wesentlichen sind die Hauptkapitel folgendermaßen gegliedert. In einem ersten Teil umreißt der Autor den geistesgeschichtlichen Hintergrund seines Sujets, in abgelegeneren Gebieten auch Sozial- und Herrschaftsstruktur. Er tut dies mit essayistischem Geschick, forschen Zuspitzungen und Mut zur Vereinfachung, z.B. S. 206: „Humanismus ist der Versuch, die traditionellen ‚artes liberales’ aus ihrer propädeutischen Aufgabe für die Philosophie und Theologie zu befreien und zu einem lebenspraktischen, autonomen Laienwissen umzubauen.“ Diese kleinen und eleganten Einführungskapitel gehören zum Besten, was das Buch zu bieten hat. Sehr nützlich sind auch die zahlreichen Hinweise auf die praktischen Aspekte der Geschichtsschreibung, vom Problem mündlicher Vor- und Zwischenformen über das Schreibmaterial bis hin zur heutigen Überlieferungssituation. Dann folgt ein Abriss über die wichtigsten Autoren und Werke (meist „Kanon“ genannt), in dem Völkel dankenswerterweise lieber einmal in die Tiefe geht und einen herausragenden Vertreter etwas plastischer Gestalt annehmen lässt, als dass er sich allzu sehr in Breite und Fülle verlöre. Abgerundet werden diese Einheiten von reichhaltigen Bibliographie-Kapiteln, deren Titel teilweise kommentiert sind. Man hätte diese Literaturlisten freilich auch im hinteren Buchteil bündeln können.

Der abrupte Einstieg mit Herodot als dem „ersten Geschichtswerk der antiken Literatur“ (S. 43) überrascht etwas. Gewiss, der Platz ist begrenzt, auch werden später (S. 67) sehr kurz Vorläufer aus dem Nahen Osten und Ägypten nachgereicht, mit einer scheinbar einleuchtenden Abgrenzung zum eigentlichen Subjekt: „Erinnert wurde, was Gleichgewicht und Kontinuität einer Gesellschaft garantierte. Geschichtsschreibung hingegen wurde erst möglich, als Veränderung positiv erlebt und Geschichte als Motor einer angestrebten Entwicklung begriffen werden konnte.“ (S. 67) Ein schöner Satz, aber stimmt er wirklich? Und wird Völkel seiner eigenen Definition gerecht? Haben die chinesischen Beamten Veränderung überwiegend „positiv erlebt“, desgleichen alle Kirchenhistoriker oder die muslimischen Interpreten von Mohammed und seinen Getreuen? Ob antike Historiker einen Entwicklungsgedanken verfolgten, ist notorisch umstritten, dass ihre Kollegen des europäischen Mittelalters es nicht taten, sagt Völkel ausdrücklich (S. 118). Der Autor selbst hat andere Auswahlkriterien gesetzt. Aber wenn man die altindischen Großepen Mahabharata und Ramayana oder das japanische Eiga Monogatari (entfernt vergleichbar vielleicht dem Tatenbericht des Augustus) mit einbezieht, hätte man auch vom Gilgamesch, von Hesiod und ausführlicher von Homer reden können, wenn nicht müssen. Angesichts dessen ist übrigens der Klappentext, der von „3000 Jahren Geschichtsschreibung“ spricht, auch dann noch eine Übertreibung, wenn man den kurzen Verweis auf die Annalen des Staates Lu mit einbezieht, dessen Existenzbeginn mit 722 v. Chr. angesetzt wird (S. 165).

Wie passen diese verschiedenen Literaturformen überhaupt zusammen? Der überregional vergleichende Historiker stößt sehr schnell auf das Problem von Gattungsdefinitionen, und dass der Historiographiehistoriker hier im Gegensatz zum Spezialisten zu äußerster Großzügigkeit geradezu gezwungen ist, weiß Völkel genau.5 Prompt fällt es dem Althistoriker auf, dass Caesars Bellum Gallicum – eng funktionsgebundene, wenn auch literarisch ambitionierte Kriegsberichterstattung (commentarii) – ohne Einschränkung als „Geschichtswerk“ klassifiziert oder Sallusts Bellum Iugurthinum, dessen Gegenstand 20 Jahre vor Geburt des Historikers stattfindet, noch als „Zeitgeschichte“ bezeichnet wird (S. 55 und 56). Vermutlich werden Japanologen und Islamforscher ähnliche Ungenauigkeiten bemerken, und es wird schnell klar, wie mutig es war, dieses Buch zu schreiben. Zumal man aus europäischer Sicht sagen muss, dass Völkel um die wirklich anderen Kulturen ernsthaft bemüht ist. Dass dagegen die Wege und Verzweigungen der (deutschen) Nachkriegslandschaft, Debatten um „Struktur“, „Alltagsgeschichte“, „Geschlechter“ etc. höchstens en passant erwähnt werden, ja dass selbst der Marxismus nicht viel mehr ist als eine Fußnote zum Historismus, das mag im ersten Moment etwas enttäuschen, bis man merkt, dass der Autor zu den kleinräumigen geistigen Verstrickungen seiner Heimatnation absichtlich Distanz hält und dass hier ernsthaft ein internationaler Ansatz verfolgt wird. Und die Vertreter der Annales waren eben wirkungsmächtiger als Droysen, Schieder oder Wehler. Hingegen finden wir die vor zwanzig Jahren so angefeindeten Thesen Ernst Noltes zum „europäischen Bürgerkrieg“ nun lapidar eingereiht in den internationalen Strom „revisionistischer“ Arbeiten zum Zweiten Weltkrieg (S. 327).

Die abschließenden zehn Seiten zu Afrika lassen zunächst einen gut gemeinten Versuch erwarten, den Kontinent auf der Karte der Historiographiegeschichte nicht gar so weiß zu lassen, sie entpuppen sich aber als eine Fallstudie erster Güte, als ein Labor gleichsam, das noch in der Gegenwart erkennen lässt, wie Geschichtsschreibung zustande kommen kann und welche Bedingungen dafür nötig sind. Mit der altchristlich-äthiopischen Geschichtsschreibung, mit benachbarter arabischer Literatur, mit Berichten portugiesischer Kolonisten seit dem 15. Jahrhundert und mit mündlichen Überlieferungen vor allem in Zentral- und Südafrika sind es vier sehr verschiedene Traditionsstränge, die dem neuzeitlichen europäischen Geschichtsmodell entgegengesetzt sind. Wo soll ein afrikanischer Historiker ansetzen, wie die Traditionen vereinen, was für einen Referenzrahmen hat er überhaupt? „Das Schreiben der Geschichte [stellt] den afrikanischen Historiker vor zwei heute noch kaum lösbare Probleme [...]: Er darf der historischen Methode nicht entsagen, muß sie aber von allen explizit eurozentrischen Bestandteilen reinigen [...]. Er verfügt weiterhin in der Regel noch über keinen deutlichen hermeneutischen Horizont, weil er noch nicht weiß, für welches historische Subjekt er überhaupt tätig sein will. Soll er beispielsweise für ‚Nigeria’ schreiben oder die dort lebenden Fulbe oder Haussa, für die christlichen oder islamischen Gruppen, für eine westafrikanische kulturelle Großregion oder für ‚ganz Afrika’?“ (S. 369f.) Man möchte dem widersprechen, aber die Argumente fallen nicht vom Himmel. Was wir unter Geschichtsschreibung verstehen, ist substanziell an Könige und Völker, an Reiche und Nationen, an Stände und andere Gruppierungen oder doch an Städte oder Landschaften gebunden. Selbst eine Geschichte des Strohhalms kann wohl ohne ein sicher voraussetzbares Raster an bekannten Räumen und sozialen Strukturen nicht funktionieren. Klar wahrgenommene und nachvollziehbare politische und soziale Identitäten sind die Basis jeder Geschichtsschreibung. Oder stoßen wir hier nur wieder auf die Bedingtheit und Begrenztheit unseres europäischen Modells?

Wer sich nach Lektüre des Buchs dann doch zwischen den beiden eingangs formulierten grundlegenden Thesen – Geschichtsschreibung als reales universales Phänomen oder als europäisches Konstrukt – positionieren will, wird nicht umhinkommen, die Frage nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller einschlägigen Phänomene zu stellen. Dieser könnte folgendermaßen lauten: Viele differenzierte Kulturen (längst nicht alle!), die zur Schriftlichkeit gelangt sind, haben herausragende politische Ereignisse oder biographische Eckpunkte historischer Persönlichkeiten zumindest in knapper Form festgehalten. Vieles davon wurde in späterer Zeit kommentiert und neu interpretiert, meistens mit einem moralischen Anspruch gegenüber der Gegenwart. Überall steht ein im Detail freilich sehr unterschiedlich gehandhabter Wahrheitsanspruch dahinter. Wichtige Dienste leisteten dabei verschiedenste Philologien, die Argumente für den Gehalt zentraler Schriftstücke bereitstellen mussten. Die Interpretationshoheit lag allerdings fast immer bei der politischen Macht.

Welche äußerlichen Gemeinsamkeiten gibt es noch? Geschichtsschreibung war immer und überall eine Geschichtsschreibung der Männer, das Tagebuch der Agrippina ist ebenso die Ausnahme, wie es das Werk der byzantinischen Kaisertochter Anna Komnena war (S. 88f.) oder der Einfluss, den japanische Hofdamen über die Prosa zeitweilig auf die japanische Geschichtsschreibung genommen haben mögen (S. 186). Für bemerkenswert mag man es dennoch halten, dass in den folgenden Jahrhunderten bis heute nicht einmal mehr diese Ausnahmen in der Historiographiegeschichte stattzufinden scheinen. Geschichtsschreibung war eine elitäre Veranstaltung, allein schon deshalb, weil die Autoren selbst neben hoher Bildung erst einmal wirtschaftliche Unabhängigkeit brauchten. Auch zu Zeiten, in denen schon ein großer Prozentsatz der Bevölkerung lesen konnte, waren Geschichtsbücher die Kost von adligen und großbürgerlichen Kreisen. Das würde erst anders, wenn man konsequenter nach mündlichen Traditionen fragte, zu denen dann etwa auch die Lesungen Herodots auf dem Athener Marktplatz zu zählen wären – auch dies insgesamt wohl eher die Ausnahme.

Die Erinnerung an früher dient fast überall dazu, Ansprüche der Gegenwart zu legitimieren: Die Perserkönige wollen ebenso wie Augustus mit ihren Tatenberichten die Herrschaft für sich und ihre Familie sichern. Chinesische Chronisten verklären den ‚guten Herrscher’, der die Dynastie begründete, und lassen Konfuzius noch nach Jahrtausenden das Maß aller Dinge sein, ebenso wie die Worte und Handlungen des Propheten Mohammed die islamische Geschichtsschreibung komplett vorstrukturieren. Auch die christlichen Kirchen nutzen natürlich die Vergangenheit weit überwiegend dazu, ihre inhaltliche Autorität zu sichern. Im 19. Jahrhundert war die Legitimierung und Historisierung der eigenen Nation eine zentrale Antriebsfeder für die ganze europäische Historiographie. Nach all dem erstaunt es nicht, dass Geschichtsschreibung überhaupt meist in der Nähe der politischen Macht angesiedelt war. Senatoren und Wesire, Lords und Königsberater, Kanzleichefs und Gouverneure, siegreiche Generäle und Exkaiser, manchmal gar die Herrscher selbst sind es, die in doppelter Hinsicht Geschichte schreiben. In der frühen Neuzeit Europas sind weltliche oder geistliche Herrscher meistens die direkten Auftraggeber, und in China war die unmittelbare kaiserliche Kontrolle über das Archivwesen fest institutionalisiert. Noch in der Frühen Neuzeit „galt die antike Forderung, dass der Täter, der Berater des Herrschers oder der Hüter des Archivs der beste Historiker sei, dabei aber unparteiisch bleiben müsse“ (S. 221). Erst zu Zeiten von Schiller, Ranke und Mommsen wurde klar, dass dies ein unlösbarer Widerspruch ist und dass die wahre Mutter einer unparteiischen Geschichtsschreibung die politische Freiheit ist. Diesen Gedanken freilich hat schon Tacitus vorweggenommen, und der Althistoriker wird nach der Lektüre von Völkels Buch überhaupt mit Genugtuung vermerken, dass Griechen und Römer im internationalen Vergleich erstaunliches geleistet haben und dass sie nicht umsonst auch in der Geschichte der Geschichtsschreibung eine ganz zentrale Rolle spielen.

Völkels Schreibstil ist flott, dabei üppig und ausdrucksstark. Die Großzügigkeit der Gedankengänge gebiert zuweilen Sätze, die man zweimal lesen muss. Für einen seriösen Wissenschaftsverlag ist die Fehlerquote vor allem in den hinteren Teilen des Buchs deutlich zu hoch, und das Debakel, das die Akzentuierung der griechischen Wörter auf ganzer Linie erlebt hat, lässt sich nicht alleine auf Konvertierungsprobleme schieben. Man fragt sich auch, warum ein moderner Verlag immer noch die alte Rechtschreibung favorisiert. Alles in allem haben wir dennoch ein vortreffliches Buch vorliegen, das gut lesbar ist, dabei zum Nachschlagen taugt, zum Nachdenken anregt und das seinem Kernanliegen, nämlich den Horizont des europäisch geprägten Historikers zu erweitern, vorzüglich nachkommt.

Literatur:
Bentley, Michael (Hrsg.), Companion to Historiography, London 2002.
Boyd, Kelley (Hrsg.), Encyclopedia of Historians and Historical Writing, 2 Bde., Chicago 1999.
Bruch, Rüdiger vom; Müller, Rainer A. (Hgg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München, 2. Aufl. 2002 (1992).
Dizionario di Storiografia, Mailand (Mondadori) 1996.
Gooch, George P., History and Historians in the Nineteenth Century, London 1913 (dt. Frankfurt am Main 1964).
Reinhardt, Volker (Hrsg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997.
Wachler, Ludwig, Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa, 2 Bde in fünf Teilen, Göttingen 1812-1820.
Wegele, Franz Xaver, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München 1885.
Woolf, Daniel R. (Hrsg.), Global Encyclopedia of Historical Writing, 2 Bde., New York 1998.

Anmerkungen:
1 Völkel selbst weist auf diesen Trend hin (S. 341); mehrere neue deutsche Lehrpläne (z.B. Gymnasium NRW 2007) spiegeln dies wider.
2 Unter anderen: Wachler 1812-1820, Wegele 1885, Gooch 1913; aktuelle Standardwerke dazu, die Völkel selbst vorstellt und kommentiert (S. 23ff.), u.a. Bentley (Hrsg.) 2002, vom Bruch und Müller (Hrsg.) 2. Aufl. 2002 (1992), Boyd (Hrsg.) 1999, Woolf (Hrsg.) 1998; Reinhardt (Hrsg.) 1997; Dizionario di Storiografia 1996.
3 „Ein Gesamtzusammenhang der bisher weltweit erzeugten Historiographie läßt sich begründet herstellen, das heißt mit klaren Kriterien äußerlich abgrenzen wie auch intern organisieren.“ (S. 12) Vgl. S. 14: „Es gibt in der Tat geschlossene 'Großformationen', die sich wie paßgenaue Bauelemente bei der Konstruktion einer globalen Historiographiegeschichte verwenden lassen.“
4 Die vorkolonialen chronikalischen und halbschriftlichen Rudimente von Maya, Inka und Azteken, die noch nicht die Komplexität altägyptischer Relikte erreichen, als „Geschichtsschreibung“ zu bezeichnen, wäre wohl doch etwas übertrieben (S. 253).
5 S. 21f.; paradigmatisch dazu auch seine Ausführungen zum Mittelalter S. 120ff.

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