T. Horstmann u.a. (Hrsg.): An den Grenzen des Rechts

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Titel
An den Grenzen des Rechts. Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von NS-Verbrechen


Herausgeber
Horstmann, Thomas; Litzinger, Heike
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 14
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Krause, Wissen für Entscheidungsprozesse, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war und ist ein konstituierendes Element der deutschen Gesellschaft nach 1945 – im Westen wie im Osten. Man mag diese Auseinandersetzung als unzureichend bewerten und auf Versäumnisse hinweisen, aber ihre gesellschaftliche und politische Bedeutung bleibt unbestritten. Eine wesentliche Arena dieser Auseinandersetzung war das Recht, genauer gesagt das Strafrecht und die Praxis der Prozesse gegen NS-Täter. Akteure in dieser Arena waren neben den Angeklagten und Zeugen vor allem die beteiligten Juristen. Somit trugen Richter, Staatsanwälte und Verteidiger in erheblichem Umfang dazu bei, die Regeln und Verfahren zu bestimmen, nach denen in der Bundesrepublik mit NS-Verbrechen und NS-Tätern umgegangen wurde. Dass die Rolle der Justiz hier nicht immer eine glückliche war und wiederholt der Eindruck entstand, dass man sich insbesondere auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden sehr schwer tat, die Täter zu benennen, vor Gericht zu stellen und abzuurteilen, ist oft und auch nicht zu Unrecht beklagt worden. Auf der anderen Seite gab es aber durchaus eine Reihe engagierter Juristen, die sich um einen angemessenen Umgang mit Verantwortung und Schuld bemühten.

Hier setzen Thomas Horstmann und Heike Litzinger an. Der Historiker und die Juristin haben in den letzten Jahren eine Reihe von Gesprächen mit einschlägigen Juristen geführt, die bereits seit den 1950er-Jahren maßgeblich an der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit beteiligt waren. Der vorliegende Band dokumentiert sieben dieser Gespräche. Die Auswahl der Interviewpartner, unter ihnen auch Nicht-Juristen bekannte Persönlichkeiten wie der Strafrechtler Herbert Jäger und der leider bereits 2003 verstorbene Jürgen Baumann, orientiert sich an einer Veranstaltung des Deutschen Juristentages vom April 1966 in Königstein bei Frankfurt am Main. Zu diesem Treffen waren 17 Juristen zusammengekommen – unter ihnen der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und Adalbert Rückerl, der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von nationalsozialistischen Verbrechen in Ludwigsburg – sowie der Historiker Hans Buchheim. In nicht-öffentlicher Runde diskutierten sie über den angemessenen strafrechtlichen Umgang mit den NS-Verbrechen und erarbeiteten Empfehlungen. Die Ergebnisse dieser Tagung, die nicht zuletzt unter dem Eindruck des Jerusalemer Eichmann-Prozesses (1961/62), des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963/65) und der Verjährungsdebatten stand, wurden im September 1966 auf dem 46. Deutschen Juristentag in Essen präsentiert.

Horstmann und Litzinger ist es gelungen, mit sieben Teilnehmern dieses „Kreises von Königstein“ zu sprechen und sie sowohl zu grundlegenden rechtlichen Problemen der „Vergangenheitsbewältigung“ als auch zu ihren persönlichen Erinnerungen an den juristisch-strafrechtlichen sowie den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 1950er- und 1960er-Jahren zu befragen. Dies bildet die Hintergrundfolie, um darüber hinaus auch das Problem des rechtlichen Umgangs mit der DDR-Vergangenheit anzusprechen und insbesondere nach Unterschieden und möglichen Parallelen zwischen beiden Versuchen der „Vergangenheitsbewältigung“ zu fragen. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem strafrechtlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit.

Herausgekommen sind hochinteressante Gespräche, die uns einen besonderen Einblick in die Debatten um ein wichtiges Thema bundesdeutscher Rechts- und Zeitgeschichte geben. Zu den Befragten gehören neben Baumann und Jäger auch die Professoren für Strafrecht Ernst-Walter Hanack, Claus Roxin und Karl Lackner sowie die Rechtsanwälte Konrad Redeker und Gerhard Hammerstein. Alle sieben haben die Zeit des Nationalsozialismus als Jugendliche oder junge Erwachsene – zum Teil auch als Soldaten – bewusst erlebt und sich nach dem Ende des Krieges als Juristen mit den NS-Verbrechen intensiv auseinandergesetzt. Und auch wenn sie in ihren diesbezüglichen Vorstellungen nicht immer auf einer Seite standen, war und ist ihnen gemeinsam, dass sie die Art und Weise der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik als ebenso unzulänglich empfanden wie die Rolle, die die Justiz hierbei spielte.

In den Gesprächen wird dieses Unbehagen deutlich benannt und mit anschaulichen Kommentaren und Beispielen gestützt. Es wird von dem Schweigen berichtet, das nach 1945 an den juristischen Fakultäten der jungen Bundesrepublik herrschte. Obwohl es genügend Gerüchte gab, sprach niemand offen über die Beteiligung von Ordinarien, Richtern und Staatsanwälten am Unrechtssystem des „Dritten Reiches“. Das „kommunikative Schweigen“, wie es Hermann Lübbe genannt hat, prägte auch die Justiz der frühen Bundesrepublik. So ist Konrad Redeker, der nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in Hamburg Jura studierte, überzeugt, dass von seinen Professoren „mit Sicherheit fast alle in der Partei“ gewesen seien (S. 107). Und Gerhard Hammerstein berichtet aus seiner Studienzeit im Nachkriegsfrankfurt, dass Antisemitismus unter Professoren wie unter Studenten auch nach 1945 nicht unüblich gewesen sei (S. 179). Über die Vergangenheit habe man jedoch geschwiegen, das heißt die Professoren hätten „den Mund gehalten“ (S. 180). Ein solches Verhalten wurde nicht zuletzt dadurch unterstützt, dass die Alliierten die belasteten Schriften der Professorenschaft in „Giftschränken“ verschlossen hielten, damit die Studierenden nicht auf falsche Gedanken kämen – eine Vorsichtsmaßnahme, die aber auch den Nebeneffekt hatte, dass man lange nicht nachlesen konnte, was der eine oder andere bis 1945 geschrieben hatte. So konnte die juristische Beteiligung am Unrechtssystem des NS-Staats unter den Teppich gekehrt werden. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten in der juristischen Ausbildung keine Rolle spielten.

Aber es waren nicht allein die personelle Kontinuität und die mentalen Erblasten in der Justiz, die der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Wege standen. Darüber hinaus gab es grundsätzliche strafrechtliche Probleme, die dies erschwerten oder gar verhinderten. Es waren wichtige, nicht selten grundsätzliche Fragen, um die gerungen wurde: Konnten und sollten diejenigen bestraft werden, die „nur“ auf Befehl gehandelt hatten? Gab es einen „Befehlsnotstand“? War der staatlich befohlene Massenmord Mord im „üblichen“ Sinne? Wo verlief die Grenze zwischen Mord und Totschlag, wo die Grenze zwischen Täter und Gehilfe? Wie sollte die Beweiserhebung erfolgen, zumal wenn die Taten bereits viele Jahre zurücklagen und zum Teil außerhalb des Reichsgebiets begangen worden waren? Wie stand es mit dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit?

Die aufgezeichneten Gespräche machen deutlich, dass die Antworten auf diese Fragen nicht leicht zu finden waren. Sie geben uns spannende Einblicke in die Beweggründe und Denkstrukturen der befragten Juristen und die (juristischen) Debatten der 1950er- und 1960er-Jahre. Die zum Teil recht unterschiedlichen Antworten zeigen, wie schwer es war, dem Grauen des staatlich angeordneten Massenmordes mit den Mitteln des Rechts zu begegnen. Die über allem stehende Erfahrung der Unzulänglichkeit des überkommenden Strafrechts bei Verbrechen derartigen Ausmaßes – Verbrechen, die von einem selbst kriminell gewordenen Staat organisiert worden waren (S. 17) – zieht sich wie ein roter Faden durch die Erinnerungen dieser engagierten Juristen.

Dass die beiden Herausgeber, Thomas Horstmann und Heike Litzinger, uns diese Gespräche – nach der Freigabe durch die Befragten – ohne eine weitere Analyse und Interpretation zugänglich machen, sie quasi für sich stehen lassen und sich nur auf die notwendigen Informationen zum Hintergrund des jeweiligen Gesprächs, den zeitgeschichtlichen Kontext und die wichtigsten biografischen Angaben zu ihren Gesprächspartnern beschränken, ist nicht nur kein Nachteil, sondern ein Pluspunkt des Bandes. Auf diesem Wege können die Leser weitgehend unverstellt auf die – zum Teil recht temperamentvollen – Berichte der Befragten blicken und sich von dem Gesagten anregen lassen. So wird dieses Buch zu einer interessanten Sammlung von Zeitzeugengesprächen, die man wiederholt zur Hand nehmen wird, wenn man sich mit den „Grenzen des Rechts“ beim Umgang mit der Vergangenheit auseinandersetzen will.

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