I. d. Keghel: Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte

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Titel
Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Identitätsdiskurse im neuen Russland


Autor(en)
de Keghel, Isabelle
Erschienen
Münster 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
677 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frithjof Benjamin Schenk, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians Universität

Es ist noch gar nicht so lange her, als vielen Menschen die politische Entwicklung Russlands in Richtung einer Demokratie westlichen Typs noch möglich erschien. Nicht zuletzt die kontroversen Debatten in der UdSSR nach 1985 über die eigene Geschichte und die daraus zu ziehenden Lehren ließen bei vielen Menschen die Hoffnung auf ein Anknüpfen an die Traditionen des Parlamentarismus aus der Zeit vor 1917 aufkeimen. Angesichts der Konsolidierung der „gelenkten Demokratie“ im heutigen Russland erscheint diese Phase der noch offenen politischen Entwicklung des Landes bereits wie ein Kapitel aus grauer Vorzeit. In ihrer Studie über die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte in der Zeit der Transformation lässt Isabelle de Keghel diese kurze historische Periode wieder aufleben.

De Keghel interessiert sich in ihrer Studie für den Zusammenhang von russischen Vergangenheitsdiskursen und der Suche nach „historischer Identität“. Die Untersuchung setzt mit Gorbatschows Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution im Jahre 1987 ein und endet Mitte der 1990er-Jahre, als sich in neuen Lehrplänen und Schulgeschichtsbüchern allmählich ein revidiertes Vergangenheitsbild konsolidierte. Mit der Zeit des Bürgerkrieges (1917-1921), den Stolypinschen Reformen (1907-1910) und der ersten Phase des russischen Parlamentarismus (1906-1917) wählt de Keghel drei zentrale Kapitel der „vorsowjetischen“ Geschichte als Gegenstand ihrer diskursgeschichtlichen Analyse. Die Einbeziehung der Zeit des Bürgerkrieges in die Epoche der „vorsowjetischen Geschichte“ rechtfertigt de Keghel mit dem Hinweis, dass die Bolschewiki erst nach dessen Ende ihre Macht dauerhaft konsolidieren konnten. Ob diese Diagnose ausreicht, um die gängige Epochengrenze von 1917 zu revidieren, bleibt jedoch zu diskutieren.

Auf einer breit gefächerten Quellengrundlage fragt die Autorin nach neuen Interpretationen der genannten Schlüsselmomente der vor- und frühsowjetischen Geschichte und setzt sie in Beziehung zu divergierenden Vorstellungen über die politische Zukunft des Landes, wie sie in den Debatten zwischen den konkurrierenden politischen Lagern der „Demokraten“, Kommunisten, Zentristen und „Nationalpatrioten“ zutage traten. De Keghel stützt ihre Analyse vor allem auf drei Quellengruppen. Erstens auf Aufsätze und Monografien des historischen Fachdiskurses, zweitens auf Zeitungen und Zeitschriften überregionaler Bedeutung und schließlich auf Schulbücher aus der Zeit vor 1985 bzw. nach 1992. Methodisch verortet de Keghel ihre Arbeit in jenem Untersuchungsfeld, das sich mit Erinnerungskultur, kollektivem Gedächtnis und symbolischer Politik im Russland der Transformationszeit befasst.

In einem ersten umfangreichen Kapitel werden Grundkategorien und methodische Vorannahmen der Analyse vorgestellt und die Besonderheiten erörtert, die bei einer diskursgeschichtlichen Arbeit zum russischen/sowjetischen Fall zu berücksichtigen sind. Dabei geht de Keghel vor allem auf den Wandel der Presselandschaft, die Veränderungen innerhalb des professionellen Geschichtsbetriebes und den Umbruch im Bereich der Schulbuchproduktion im Russland der Transformationszeit ein. Dabei wird deutlich, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit in dem betrachteten Zeitraum als das Ergebnis eines komplizierten Prozesses zu analysieren ist, für den die Freigabe und Publikation neuer Quellen oder die Veröffentlichung von russischen Übersetzungen westlicher (Geschichts-)Literatur ebenso bedeutsam waren wie die Diversifizierung und Kommerzialisierung der russischen Printmedien und der Streit unterschiedlicher politischer Gruppierungen um die identitätsstiftende „Ressource“ Geschichte.

De Keghel betrachtet die Neuinterpretation der vor- und frühsowjetischen Geschichte zudem vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Menschen mit der ökonomischen und politischen Transformation nach 1985 sowie mit Blick auf die Aufarbeitung der „weißen Flecken“ und Traumata der sowjetischen Geschichte in der Zeit von Glasnost und Perestroika. Diesem „doppelten Bezugsrahmen“ der untersuchten Geschichtsdiskurse ist das zweite große Kapitel der Arbeit gewidmet. Gestützt auf umfangreiche Sekundärliteratur entwirft de Keghel zunächst einen Überblick über den Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems unter Gorbatschow und Jelzin (S. 87-121), den sie als „Erfahrungs- und Erwartungsraum“ der Menschen in der Transformationszeit beschreibt. Der Abschnitt über die Neuinterpretation der sowjetischen Geschichte stellt nicht nur eine „Zusammenfassung der Forschungsliteratur“ (S. 124) dar, wie die Autorin bescheiden behauptet, sondern beinhaltet bereits wichtige Argumentationslinien, die im Schlusskapitel der Arbeit wieder aufscheinen. De Keghel legt überzeugend dar, dass sich die Geschichtsdebatten nach 1985 relativ schnell von einem „von oben“ initiierten „systemimmanenten Diskurs“, der auf die „Erneuerung“ der historischen Legitimation des politischen Systems der UdSSR abzielte, zu einem „systemsprengenden Diskurs“ entwickelte, der zum einen die „Dekonstruktion“ alter und zum anderen die „Rekonstruktion“ neuer Mythen bewirkte. Erst gegen Ende der Untersuchungsperiode ließen sich Tendenzen beobachten, die auf eine „Reintegration“ alter (sowjetischer) und neuer (postsowjetischer) Geschichtsbilder hindeuteten.

Das Kapitel über die Neuinterpretation der sowjetischen Geschichte (S. 121-264) trägt den Charakter einer eigenständigen Studie innerhalb des Buches. Die Darstellung der wissenschaftlichen und publizistischen Debatten gewinnt insbesondere dadurch, dass de Keghel auch Werke der zeitgenössischen Literatur und Kinematografie als Quellen hinzuzieht, die den Geschichtsdiskurs in der Transformationszeit stark geprägt haben. Insgesamt beschränkt sich de Keghel nicht auf die Analyse des eingangs benannten Korpus von Textquellen, sondern nimmt die Erinnerungskultur im postsowjetischen Russland in seiner ganzen multimedialen Vielfalt in den Blick.

Im Hauptteil der Arbeit, in dem sich de Keghel der Neubewertung des Bürgerkrieges, der Stolypinschen Reformen sowie der parlamentarischen Traditionen Russlands widmet, entwirft sie das Bild einer russischen Erinnerungsgemeinschaft, die sich nach der Zeit des radikalen Ikonoklasmus Ende der 1980er-Jahre nach positiven historischen Leitbildern sehnte und aus dem Material der vorrevolutionären Geschichte neue identitätsstiftende Mythen konstruierte. Die Auseinandersetzung mit dem „roten Terror“, insbesondere mit dem Mord an der Familie des letzten Zaren im Juli 1918, habe zur einhelligen Verurteilung von Gewalt als Mittel der Politik im gesellschaftlichen Diskurs geführt. In den Debatten um Ministerpräsident Stolypin sei die reformerische Tradition und im Diskurs über die politische Landschaft nach 1906 ein parlamentarisches und liberales Erbe wiederentdeckt und aufgewertet worden. Um einige radikale Spitzen beraubt, hätten die wichtigsten Positionen dieser revidierten Vergangenheitsbilder auch Eingang in die neuen Schulgeschichtsbücher im postsowjetischen Russland gefunden.

Angesichts der zunehmenden Schwächung der demokratischen Institutionen im Russland der vergangenen Jahre drängt sich die Frage auf, ob denn in den frühen 1990er-Jahren wirklich alle Zeichen auf die Entwicklung des Landes zu einem reformorientierten, demokratisch organisierten und auf gesellschaftlichen Ausgleich ausgerichteten Gemeinwesen hingedeutet haben, wie dies das von de Keghel gezeichnete Bild suggeriert, oder ob diese Wahrnehmung nicht in einem gewissen Maß auch dem Wunschdenken westlicher Beobachter entsprach. An einigen Stellen deutet de Keghel an, dass die kontroversen Debatten über die sowjetische und die vorsowjetische Geschichte auch zur Renaissance alter Feindbilder (z.B. von der gegen Russland gerichteten jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung, S. 255, 311f., 400f., 585, 593) und zu Spaltungen der Erinnerungsgemeinschaft geführt hätten. In ihren Schlussfolgerungen spielen diese Befunde jedoch keine zentrale Rolle mehr. So wirkt die Diagnose, dass im russischen Geschichtsdiskurs über den Bürgerkrieg „Versöhnung“ „an die Stelle von bolschewistischem Klassenhass“ getreten sei (S. 337), etwas harmonisierend. Gleiches gilt für die These, dass sich „während der Perestroika die als ‚allgemeinmenschlich’ bezeichneten liberalen Werte“ durchsetzten und eine „Konsenskultur“ propagiert worden sei (S. 601). In diesem Zusammenhang müsste daran erinnert werden, dass zum „Erfahrungs- und Erwartungsraum“ Mitte der 1990er-Jahre neben den politischen und ökonomischen Umwälzungen auch der erste Tschetschenienkrieg mit allen seinen innenpolitischen Verwerfungen zählte.

Kritisch anzumerken bleibt schließlich, dass die Darstellung der Abfolge der einzelnen Phasen des Geschichtsdiskurses im Russland der Transformationszeit (von der „Erneuerung“ zur „Reintegration“) an manchen Stellen etwas schematisch wirkt. War, so möchte man fragen, der komplizierte Prozess der Aufarbeitung „weißer Flecken“, der Zerstörung alter Geschichtsmythen und der Suche nach neuen historischen Orientierungspunkten in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren nicht stärker von einem Nebeneinander und als von einem klaren Nacheinander geprägt? Und war der Chor der Stimmen im Geschichtsdiskurs im polyethnischen Russland nicht noch größer, als in der Arbeit de Keghels beschrieben? Diese Fragen sollen jedoch die Leistung dieser Pionierstudie in keiner Hinsicht schmälern. De Keghels Buch hat schon jetzt als Standardwerk zur Erinnerungskultur im Russland der Transformationszeit zu gelten.

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