M. Niehuss: Zwischen Seifenkiste und Playmobil

Cover
Titel
Zwischen Seifenkiste und Playmobil. Illustrierte Kindheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Niehuss, Merith
Erschienen
Darmstadt 2007: Primus Verlag
Anzahl Seiten
160 S., 103 Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Mikota, Universität Siegen

Die schwedische Pädagogin Ellen Key rief zu Beginn des 20. Jahrhunderts das „Jahrhundert des Kindes“ aus. Im weiteren Verlauf war dieses Jahrhundert durch ein „kunterbuntes Kaleidoskop“ (S. 7) von (Kinder-)Einzelschicksalen charakterisiert. Merith Niehuss wagt es mit dem vorliegenden Band, für Deutschland allgemeinere (Kindheits-)Muster aufzuzeigen – sei es eine Straßenkindheit, eine häusliche Kindheit, eine bürgerliche oder eine proletarische Kindheit. Das vergangene Jahrhundert war zudem eine Epoche mit zwei Weltkriegen, schweren Weltwirtschaftskrisen und zwei Diktaturen. Kinder haben all diese Begebenheiten erlebt, doch hat sich die Forschung lange Zeit nicht die Frage nach den kindlichen Erfahrungen gestellt. Eine Kindheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts fehlt noch.1 Niehuss’ Versuch einer „illustrierten Kindheitsgeschichte“ verdient daher besondere Beachtung. Der Titel „Zwischen Seifenkiste und Playmobil“ deutet zunächst auf eine eher männliche Kinderkultur hin; im Buch selbst kommen aber Mädchen und Jungen gleichermaßen zu Wort. Niehuss definiert Kindheit als den Abschnitt bis zum 14. Lebensjahr. In ihrer Einführung moniert die Autorin das fehlende Interesse an einer Kindheitsforschung. Tatsächlich findet jedoch sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene eine rege Diskussion darüber statt, was Kindheitsforschung zu leisten habe. Dass Niehuss dies nicht näher erläutert, ist andererseits verständlich, weil es den Rahmen eines Bildbandes gesprengt hätte.2

Als Quellen hat die Autorin Bilder der unterschiedlichen Kindheiten benutzt sowie Auszüge aus Autobiografien, was den Band anschaulich macht. Niehuss verwendet die Bilder, um ihre Aussagen zur bürgerlichen oder proletarischen Kindheit zu veranschaulichen. Sie werden von ihr jedoch nicht eingehend interpretiert, sondern dienen – wie es der Untertitel des Bandes auch sagt – der Illustration. Die Kleidung der auf den Fotografien abgebildeten bürgerlichen Kinder beispielsweise unterstreicht Niehuss’ Aussage, dass Kinder als „kleine Erwachsene“ (S. 29) wahrgenommen wurden. Die Abbildungen stammen fast ausschließlich aus dem Sutton-Verlag in Erfurt. Während Kindheiten im Nationalsozialismus in Autobiografien, in Schulaufsätzen und in Tagebüchern gut dokumentiert sind, konstatiert Niehuss für die Kaiserzeit sowie für die Weimarer Republik eine dürftige Quellenlage. Hier hätte es sich angeboten, auf die unterschiedlichen Medien einzugehen und den Blick auch auf Kindheiten in Filmen oder in der (Kinder- und Jugend-)Literatur zu richten.3

Die Verfasserin teilt ihre Kindheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts in drei Hauptphasen ein: Arme Kinder – reiche Kinder 1900–1933; Kinder im Nationalsozialismus 1933–1945/48; Kindheiten in der Bundesrepublik und der DDR 1949–2000. Niehuss folgt dabei keinem Schematismus, sondern zeigt auch, dass bestimmte Kontinuitäten etwa nach 1918 oder nach 1945 zu beobachten sind und das Leben der Kinder beeinflussten. Ihre Gliederung ist dennoch etwas unklar, da Armut und Reichtum von Kindern nicht ausschließlich ein Charakteristikum des beginnenden 20. Jahrhunderts waren, sondern sich auch in den folgenden Jahrzehnten finden. Eine Abgrenzung der Jahre der Kaiserzeit und der Weimarer Republik hätte das Bild der Kindheit differenzierter entwerfen können, ohne auf bestimmte Kontinuitäten verzichten zu müssen. Dem Thema Schule als dem möglicherweise wichtigsten Abschnitt im Leben eines Kindes widmet sich Niehuss in jedem ihrer Kapitel; als weitere Themen kommen Ernährung, Familie, Spiele oder Urlaub hinzu. Auf den Bildern sind Kinder in Familien abgebildet, aber auch als Akteure der Geschichte – etwa im Kapitel zum Nationalsozialismus.

Für die Jahre 1900 bis 1933 steht die Unterscheidung zwischen proletarischen und bürgerlichen Kindheiten im Mittelpunkt. Niehuss dokumentiert anschaulich, wie sich solche Unterschiede in Bildern zeigen. Kinder aus armen Verhältnissen wurden nicht als Kinder wahrgenommen, sondern mussten bereits sehr früh arbeiten und so zum Lebensunterhalt beitragen. Das Leben derjenigen Kinder, die in bürgerlichen und großbürgerlichen Familien aufwuchsen, kannte keine bzw. nur wenig materielle Sorgen oder Hunger, doch auch diese Kinder waren „kleine Erwachsene“ (S. 29), die „in ihrer Gesellschaft funktionieren mussten“ und auf ihre zukünftigen Rollen vorbereitet wurden. Niehuss entwirft hier kein Bild der unbeschwerten Kindheit. Sie zeigt auch die Abwesenheit der Väter in den meisten Familien. Väter sorgten für den Familienunterhalt außerhalb der familiären Sphäre; daher nahmen Kinder ihre Väter erst in der Sommerfrische wahr und konnten dort einige Zeit mit ihnen verbringen.

Für die NS-Zeit geht die Autorin wiederum auf die unterschiedlichen Kindheiten ein. Eine rassistische Klassifizierung entschied maßgeblich, wie das Leben der Kinder verlaufen konnte. Den Kindheiten während des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit widmet sich Niehuss nur auf wenigen Seiten.

Ab etwa 1955 sei der Lebensraum von Kindern in den Städten immer „kinderfeindlicher“ geworden (S. 106). Spielplätze waren selten; den Kindern blieben die meist kleinen Wohnungen. Besonders die neu entstehenden Hochhaussiedlungen engten das Leben der Kinder ein: Das Grün zwischen den Hochhäusern durften Kinder nicht betreten, und auch in den Häusern selbst wurden Kinder immer mehr ermahnt, sich ruhig zu verhalten. Die Auswahl der Bilder zur Stadtkindheit in den 1950er-Jahren fängt die von Niehuss skizzierte Kargheit allerdings nicht ein. Es fehlen Bilder aus den (engen) Wohnungen. Der Stadtkindheit setzt die Autorin eine ländliche Kindheit entgegen: Die Bilder zeigen fröhliche Kinder in der Natur.

Kindheit in der DDR wird in einem eigenen Kapitel vorgestellt; dort finden sich Themen wie Jugendweihe, Schule und kirchliche Sozialisation. Insgesamt dominiert jedoch Kindheit in der Bundesrepublik. Begriffe wie „Rabenmütter“ oder „Schlüsselkinder“ werden im Kontext der Familienpolitik, aber auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Familienbilder diskutiert und erklärt. Das Buch endet mit dem Jahr 1989. Wie Kindheit am Ende des 20. Jahrhunderts aussah, welche Bedeutung Popkultur, Medien und sicherlich auch der Konsum – der lediglich für die Jahre nach 1950 diskutiert wird – in der Zeit nach der deutschen Einheit erhielten, wird in der „Illustrierten Kindheitsgeschichte“ nicht mehr dargestellt.

Niehuss attestiert der deutschen Familienpolitik der unterschiedlichen Systeme ein gemeinsames Versagen: „Die Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts hat es fast bis heute verhindert, dass Frauen Beruf und Familie miteinander vereinbaren können“, so Niehuss in ihrer Einleitung (S. 11). Und möglicherweise ist eine solche Aussage der ‚rote Faden’, der das Buch durchzieht. Damit verlässt die Autorin aber die Perspektive der Kinder, kritisiert die Politiker und verteidigt diejenigen Frauen, die arbeiten möchten und auch sollen. Insgesamt hat Merith Niehuss ein gut lesbares und interessantes Buch geschrieben, das sich an ein breites Publikum wendet und nicht zuletzt auch Lehrern die Möglichkeit bietet, Kindheitsgeschichte im Unterricht zu thematisieren.

Anmerkungen:
1 Im Siegener Zentrum für Kindheits-, Jugend- und Biografieforschung ist unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Zinnecker eine Kulturgeschichte der Kindheit des 20. Jahrhunderts geplant. Ausgewertet werden hierbei die rund 6.000 Autobiografien des Archivs. Als Vorarbeiten fanden bereits Forschungen zu Kindheit in der Kaiserzeit statt. Geplant ist zudem ein Projekt zu Kriegskindheit in Autobiografien, das 2008 beginnen soll.
2 Zur Kindheitsforschung vgl. vor allem: Honig, Michael-Sebastian; Lange, Andreas; Leu, Hans Rudolf (Hrsg.), Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung, Weinheim 1999.
3 Vgl. hierzu u.a.: Behnken, Imbke; du Bois-Reymond, Manuela; Zinnecker, Jürgen, Stadtgeschichte als Kindheitsgeschichte. Lebensräume von Großstadtkindern in Deutschland und Holland um 1900, Opladen 1989; Behnken, Imbke; Zinnecker, Jürgen, Groß werden in privaten Räumen. Vom Kinderzimmer zur Studentenbude, in: Carstensen, Jan; Düllo, Thomas; Richartz-Sasse, Claudia (Hrsg.), Zimmerwelten. Wie junge Menschen heute wohnen, Essen 2000, S. 34-41; Behnken, Imbke; Zinnecker, Jürgen, „Groß“ und „klein“. Zum Wandel einer Metapher für das Verhältnis der Generationen in der Moderne, in: Götte, Petra; Gippert, Wolfgang (Hrsg.), Historische Pädagogik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Bilanzen und Perspektiven, Essen 2000, S. 233-260.

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