S. Mau: Transnationale Vergesellschaftung

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Titel
Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten


Autor(en)
Mau, Steffen
Reihe
Staatlichkeit im Wandel
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Christian Denzin, Global and European Studies Institute i.G., Universität Leipzig

Die sozialwissenschaftliche Diskussion globaler Interaktionen wird durch eine Reihe von Konzepten geprägt, die darauf abzielen, dem veränderten Raumbezug (post)nationaler Gesellschaften gerecht zu werden: Dazu zählen u. a. Denationalisierung (Zürn) und Deterritorialisierung (Appadurai), aber auch Weltgesellschaft (Luhman) und transnationale/ transstaatliche soziale Räume (Pries; Faist). Letztere haben vor allem im Kontext der Migrationsforschung starken Auftrieb bekommen. Konzepte der Transnationalisierung sind jedoch keineswegs ausschließlich mit Migrationsbewegungen verbunden. Sie sind im Wesentlichen gekennzeichnet durch die partielle Loslösung sozialer Netzwerke von nationalen Rahmenbedingungen auf der einen und ihre Einbindung in transnationale Zusammenhänge auf der anderen Seite und bilden somit einen Ausgangspunkt für die Analyse von Entgrenzungsprozessen allgemein.

Diesem Ansatz folgend untersucht Steffen Mau, Professor für politische Soziologie und Direktor der Graduate School of Social Science der Universität Bremen, anhand von Statistiken und einer empirischen Studie in dem Buch „Transnationale Vergesellschaftung – Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten“ die soziale Integration der bundesdeutschen Bevölkerung in transnationale Netzwerke. Ausgehend von der These, dass „wir in den vergangenen Dekaden eine massive Veränderung gesellschaftlicher Interaktionsstrukturen und Vernetzungen erfahren haben, welche die nationalstaatliche Binnenkommunikation relativiert und das Ausmaß der Außenkommunikation erhöht haben“ (S. 9), legt Mau den Schwerpunkt auf die „Transnationalisierung von unten“. Sein Augenmerk richtet sich dabei einerseits auf die charakteristischen Ausprägungen transnationaler Strukturen auf der bis dato wenig beachteten individuelle Ebene, andererseits auf die Wirkungszusammenhänge von Transnationalisierung und individuellen Einstellungen gegenüber Fragen der Globalisierung.
Das Buch gliedert sich in fünf aufeinander aufbauende und klar strukturierte Hauptkapitel: Die theoretische Grundlage in Form einer allgemeinen Einführung in verschiedene Raumordnungsmodelle (I) wird durch eine Charakterisierung transnationaler sozialer Beziehungen (II) vervollständigt. Es folgen drei weitere Kapitel, die der Darstellung und Diskussion der Ergebnisse der empirischen Studie (Erhebungszeitraum: März/April 2006) gewidmet sind. Dazu gehören die detaillierte Beschreibung transnationaler sozialer Beziehungen der Bundesdeutschen (III), die Untersuchung von Transnationalisierung und einer vermuteten Verbindung mit neuem Kosmopolitismus (IV) und schließlich die kategoriale Fragestellung, welche Teile der Bevölkerung inwieweit in transnationale Netzwerke eingebunden sind (V).

In der theoretischen Einführung unterstreicht Mau zunächst in Bezug auf das so genannte Container-Modell des Nationalstaats, dass dieses als Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Analyse nicht mehr sinnvoll sei. In der theoretischen Einführung betont Mau zunächst, dass das klassische Container-Modell des Nationalstaats als Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Analyse nicht mehr sinnvoll sei. Mau stützt sich vielmehr auf das Konzept der Transnationalisierung, da dieses über die Anerkennung des nationalstaatlichen Bedeutungsverlustes hinaus eine Reihe weiterer Vorteile gegenüber alternativen Konzepten – wie etwa Wallersteins World-System-Analysis, Meyers Neoinstitutionalismus und Luhmanns singuläres weltweites Gesellschaftssystem – aufweise: „die zentrale konzeptionelle Innovation [sei], [dass] Transnationalisierung auf die durch grenzüberschreitende Transaktionen und Austausche entstehenden Beziehungen, Netzwerke und Praktiken Bezug [nehme]“ (S. 37). Da der hier verwendete Ansatz der „Transnationalisierung von unten“ handlungs- und subjektbezogen sei, stehe die Transnationalisierung im Kontrast zu den markt-fokussierenden, weltgesellschaftlichen und globalen Ansätzen und gehe auch über die Denationalisierung Zürns hinaus. In Anlehnung an Pries wird betont, dass ein enges Verständnis von Transnationalisierung eine Dauerhaftigkeit und Institutionalisierung von Austauschprozessen voraussetzt.
Der Autor arbeitet weiterhin seine These vom Wandel gesellschaftlicher Interaktionsmuster heraus. Die Veränderungen des nationalstaatlichen Rahmen durch die zunehmende Durchlässigkeit von Grenzen ziehe auch eine Erweiterung der „räumlichen und sozialen Horizonte breiter Schichten“ nach sich (S.51). Individualisierungstendenzen und die Transformation sozialer Umgangsformen, ausgelöst beispielsweise durch neue Kommunikationsmedien, wirken diesbezüglich unterstützend. Den Besitz der notwendigen Kompetenzen - wie technisches Know-how, Fremdsprachenkenntnisse, Anpassungsfähigkeit - vorausgesetzt, wird es möglich, die Schrumpfung von Raum und Zeit – dieser kann überwunden werden, jene wird verkürzt – im Einklang mit der eigenen sozialen Praxis für sich zu nutzen: verschiedene soziale (transnationale) Räume existieren parallel zueinander, Mobilität und Kommunikation machen eine Verbindung möglich.
Das vom Autor angelegte Kriterium zur Identifikation transnationaler Netzwerke ist der regelmäßige Kontakt mit mindestens einer im Ausland lebenden Person. Demzufolge haben knapp die Hälfte aller Befragten (46,5%) regelmäßigen Kontakt ins Ausland. Ein Blick auf die räumliche Dimension verdeutlicht allerdings die starke Konzentration der Kontakte auf Nordamerika, Europa, Australien, die Türkei und Russland. Transnationale Netzwerke nach Afrika, Asien und Südamerika finden sich kaum. Eine Pauschalisierung von weltweiter Vernetzung im Zuge der Globalisierung sei daher unangemessen.
Anhand familiärer Netzwerke werde deutlich, das Transnationalisierung kein von zugewanderten Ausländern getragenes Phänomen sei. Binationale Ehen mit deutschen Kindern, mindestens acht Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund sowie die wachsende Emigration deutscher Bundesbürger indizieren die „Überwindung kultureller und geographischer Räume“, da diese Phänomene mit transnationalen sozialen und ökonomischen Aktivitäten einhergehen.
Dennoch sei die Binnentransnationalisierung von wichtiger Bedeutung. So zeigen Statistiken, dass sich der familiäre und berufliche Kontakt zu Ausländern in Deutschland veralltägliche. Hatten 1980 noch 22,9% bzw. 5,3% der Bundesbürger Kontakt zu Ausländer, waren es 2002 ganze 53,1% bzw. 30%. Trotz der Wahrnehmung als Fremde seien Ausländer ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft.
Einen weiteren wesentlichen Faktor der transnationalen Vergesellschaftung identifiziert Mau in der allgemeinen Mobilität. Zwar emigrieren Promovierte zehnmal häufiger als der Rest der Bevölkerung. Doch stehe der Nationalstaat auch für deutsche Gast- und Facharbeiter bei positiven beruflichen Perspektiven durchaus „zur Disposition“ (S. 134). Ebenso belegt die Studie eine hohe Studentenmobilität, mit 31% aller Studenten, die einen Teil ihres Studiums im Ausland verbracht haben. Im institutionellen Rahmen der EU ergäben sich so neue Möglichkeiten: Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU oder studentische Austauschprogramme trügen zur grenzüberschreitender Mobilität und damit zum Abbau nationalstaatlicher Schwellen bei.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Mau der Annahme, dass transnationale Erfahrungen sowohl Kosmopolitisierung als auch Lokalismus auslösen können. Es zeige sich eine breite Zustimmung zur Öffnung des Nationalstaates und zur Übertragung der Kompetenz an supranationale Organisationen zur Lösung globaler Probleme. Je höher der Status einer Gruppe, desto stärker sei die supranationale Orientierung.
Einen klaren Zusammenhang sieht der Autor zwischen Transnationalisierung und transnationalem Vertrauen, also der Bereitschaft zur Kooperation und Solidarität mit einzelnen Nationen und deren Bürgern. Während Schweden und Franzosen das meiste Vertrauen der deutschen Bevölkerung genießen, schneiden US-Bürger mittelmäßig ab. Den Türken, Polen, Russen werde hingegen nur wenig Vertrauen entgegengebracht. Die Ergebnisse bestätigen Maus Annahme, dass je höher der individuelle Grad der Transnationalisierung ist, umso größer das transnationale Vertrauen ausfalle.
Weiterhin behandelt die Studie die wenig überraschenden Auswirkungen der Transnationalisierung auf die Identitätsbildung: Je höher die individuelle Transnationalisierung, desto größer sei die Identifikation als Deutscher und Europäer sowie nur als Europäer. Die europäische Identität resultiere somit aus und führe zu transnationalen Handlungen.
Nach der Beschreibung der Ausmaße der Transnationalisierung und der Analyse der Auswirkungen auf bestimmte Einstellungsmuster lenkt Mau den Blick auf die Struktur der Transnationalisierung von unten. Dabei orientiert sich der Autor anhand von fünf Kategorien, innerhalb derer Divergenzen im Ausmaß der Transnationalisierung anzunehmen sind.
Die Frage, ob Transnationalisierung als ein Massen- oder Elitenphänomen einzustufen ist, lässt sich anhand der Daten klar beantworten. Obgleich ein Gros der Bevölkerung transnationale Kontakte habe, finden sich erhebliche Unterschiede in der Ausprägung. Mit steigender Bildung wachse sowohl die Wahrscheinlichkeit transnationaler Sozialbeziehungen als auch der Grad der Identifikation mit Europa sowie die Kontaktdichte mit Ausländern innerhalb Deutschlands. Auch innerhalb Deutschlands können deutliche Unterschiede festgestellt werden. Haben in Westdeutschland knapp 50% der Befragten Kontakte ins Ausland, reduziert sich die Zahl im Osten auf ein gutes Drittel.
Da Städte als „heterogene Milieus“ und „Ort der Begegnung mit dem Fremden schlechthin“ gelten können (S. 261), liegt die Vermutung einer Konzentration transnationaler Räume in Städten nahe. Auf der einen Seite zeige sich, dass mit höherer Einwohnerzahl die Wahrscheinlichkeit interethnischer Kontakte steige, vor allem in den Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern. Doch seien die Unterschiede in Bezug auf transnationale Beziehungen im Vergleich zu weniger urbanen Milieus „eher gradueller“ Natur (S. 268). Hierin sieht Mau am deutschen Beispiel ein Gegenargument zu der u. a. von Taylor vertretenen These der global cities, nach der diese stärker untereinander als mit der Peripherie innerhalb ihres Landes verknüpft seien. Auch in Bezug auf generationelle Unterschiede zwischen den Generationen bestätigen sich vermutete Diskrepanzen. In der Generation der bis 30 Jährigen pflegen fast 50% regelmäßige private Kontakte ins Ausland, dicht gefolgt von der Generation bis 50 Jahre. Wird das Material nach der Kategorie Geschlecht hin befragt, lassen sich insgesamt keine bedeutsamen Diskrepanzen erkennen.
Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl Zuwanderung als auch horizontale Vernetzungen der Deutschen mit anderen Ländern einen Transformationsprozess der Gesellschaft bewirken. Dieser kennzeichne sich vornehmlich durch Entgrenzung und Heterogenisierung, da die nationale Sozialstruktur den Rahmen des Nationalstaates verlassen habe und nun grenzüberschreitend verflochten sei. Trotz dieser Verflechtung konstatiert Mau: „Integrationskern ist und bleibt die nationale Gesellschaft, aber ihr Ausfransen berührt nicht nur jene Teilbereiche, die am Rande liegen, sondern dringt inzwischen bis zu diesem Kern vor“ (S. 288). Zwar umfasse die Transnationalisierung alle gesellschaftlichen Schichten, dies allerdings in höchst unterschiedlichen Ausmaßen. Daher sieht er die inhärente Gefahr einer sozialen Fragmentierung entlang von Lokalismus/Nationalismus und Kosmopolitismus. Dennoch überwiege auf der individuellen Ebene ein positiver Zusammenhang zwischen Transnationalisierung und der Entstehung neuer kosmopolitischer Horizonte, obgleich nicht alle möglichen Einflussfaktoren, so zum Beispiel die Medien, in der Studie berücksichtigt werden. Grundsätzlich sei eine weitere Flexibilisierung des Nationalstaats in Sicht.

Mit seiner Studie zur transnationalen Vergesellschaftung erschließt Mau ein bisher vernachlässigtes Feld in der deutschen Transnationalisierungsforschung. Die Erfassung der räumlichen und gesellschaftlichen Dimensionen von Transnationalisierung erweitert die Forschung, indem sie ein erstes empirisches Bild der individuellen Verwicklungen bundesdeutscher Bürger in transnationale Kontexte zeichnet. Die Studie zeigt, dass die fortschreitende individuelle Transnationalisierung einerseits mit dem Anstieg der weltweiten Vernetzungen einhergeht. Zugleich tritt das Individuum andererseits als eigenständiger zentraler Akteur im Prozess der Transnationalisierung auf und wird somit zur treibenden Kraft weiterer nationalstaatlicher Entgrenzung. Da die Intensität dieser transnationalen „Initiative“ innerhalb der verschiedenen sozialer Kategorien stark variiert, ergibt sich ein ebenso heterogenes wie komplexes Bild der transnationalen Vergesellschaftung von unten.
Trotz der sehr fundierten und aktuellen theoretischen Grundlage, die es ihm ermöglicht, einzelne Erkenntnisse mit den einschlägigen Theorien in Verbindung zu setzen, beschränkt sich Mau zunächst weitestgehend auf eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation. Dennoch wird die Studie ihrem Selbstverständnis, eine erste Grundlage für weitere Forschungen zu sein, gerecht. Mau gelingt eine überaus interessante und zugleich wegbereitende – wenn auch sehr deskriptive – Einführung in die Thematik, die sich durch eine innovative Perspektive und den immer wiederkehrenden direkten Bezug zu aktuellen Forschungsansätzen auszeichnet.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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