M. Borgolte u.a. (Hrsg.): Mittelalter im Labor

Cover
Titel
Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft


Herausgeber
Borgolte, Michael; Schiel, Juliane; Schneidmüller, Bernd; Seitz, Annette
Reihe
Europa im Mittelalter 10
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
595 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst-Dieter Hehl, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz

Der Band ist aus dem Schwerpunktprogramm 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“ hervorgegangen. Er macht ernst mit der Erkenntnis, dass Europas Grenzen, dass Europa im Mittelalter keine festen Größen bilden, und beschreibt sein Europa als einen historischen und kulturellen Raum, der „durch Begegnung und Auseinandersetzung einer Pluralität von Kulturen in Europa selbst, die transeuropäische Wurzeln hat“ (S. 17), geprägt ist. Dem lateinischen Europa wird nicht allein das byzantinische und slawische, sondern auch das muslimische beigesellt. Der Vergleich und die Frage nach Interdependenzen stehen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Das jedoch wird auf eine neue Art organisiert, eben als Labor, dessen Laboranten Historiker, Kunsthistoriker, Philologen unterschiedlicher Ausrichtung, Philosophen und was auch immer sind.

Denn die 26 Autoren der 44 Detailstudien des Bandes stellen ihre Ergebnisse nicht einem Bandherausgeber oder dem Leser zur Diskussion, sondern haben diese selbst untereinander diskutiert, methodisch überprüft und in einem gemeinsamen Text zusammengefasst, der unterschiedlich als „Schlussbetrachtung“, „Ergebnisse“ oder „Epilog“ firmiert. Dazu haben sie sich in drei Arbeitsforen aufgeteilt (A. Wahrnehmung von Differenz - Differenz der Wahrnehmung; B. Kontakt und Austausch zwischen den Kulturen im europäischen Mittelalter; C. Gewalt im Kontext der Kulturen). Eine gemeinsame Einleitung zu den Foren erfüllt eine ähnliche Funktion wie die jeweilige „Schlussbetrachtung“. Wie sehr die Autoren sich als Einheit oder Arbeitsgruppe verstehen, verdeutlicht die äußere Form des Bandes. Das Inhaltsverzeichnis nennt die Autoren nur bei den Arbeitsforen, nicht bei den zugehörenden Einzelstudien. Im Text erscheinen die Namen jeweils am Ende des Einzelbeitrags bzw. mit Nennung aller Mitglieder des Forums am Ende der Ergebnisse. Die Anmerkungen sind in den drei Foren jeweils durchgezählt. Die folgenden Bemerkungen tragen dem Selbstverständnis der Autoren bzw. Arbeitsforen Rechnung, indem sie auf Namensnennungen verzichten.

Eine Stärke des Bandes liegt in der Kombination von Untersuchungen, die sich den Verstehensmöglichkeiten der Zeitgenossen und detaillierter Fallanalyse widmen. Das Forum A (Wahrnehmung) beginnt so mit einer Analyse der Theorien zu Wahrnehmung und Differenz bei Thomas von Aquin und Bonaventura, geht dann zu den Berichten und Theorien des Dominikaners Riccold von Monte Croce über (seine) Mission über und endet mit einer kunstgeschichtlichen Analyse von Bau und Malerei der Franziskanerkirche Santa Caterina in Galatina (Apulien), die sich nicht als Beleg „für eine aggressive Baupolitik der Gotisierung und Verwestlichung in Anspruch“ (S. 53) nehmen lasse, sondern eine vielgestaltige historische Tradition des Raums mit der aktuellen Situation zum Ausgleich bringe. Diese Beiträge demonstrieren, wie man im 13. Jahrhundert in der Lage war, die Differenzen in der eigenen Lebenswelt wahrzunehmen und intellektuell zu verarbeiten. Sie bilden deshalb eine eindringliche Warnung davor, ein „einheitliches Mittelalter“ zu suchen, und erfassen eine grundlegende Tendenz des gesamten Bandes. Dass sich die wahrgenommenen Differenzen im eigenen Lager durch einen Blick nach außen, speziell auf einen andersgläubigen Gegner „überwinden“ ließen, zeigen die folgenden Ausführungen zur christlich-lateinischen Sicht auf die Muslime und auf Mohammed bei den Orientkreuzzügen, auf der Iberischen Halbinsel und in der Weltchronistik. Hier wurden nicht allein eigene Wissensschätze aus der Patristik usw. wieder in das eigene Bewusstsein gehoben, sondern es modifizierten sich auch die (Vor-)Urteile über die fremde Religion. Letzteres erscheint den Autoren als eine spezifische Form der Integration. Als Beispiel dafür gilt ihnen Petrus Venerabilis, der den muslimischen Glauben „mit dem Vokabular christlicher Häresievorstellungen in unmittelbare Nähe zum Christentum rückt“, ein Versuch, diesen „durch die Überblendung mit eigenen Merkmalen in die eigene Religion zu integrieren“ (S. 167). Dem ist an sich nicht zu widersprechen. Doch hat Petrus Venerabilis die „schlechten Christen“ für schlimmer gehalten als diejenigen, die als „Ungläubige/Heiden“ dem Christentum fern standen. Die theoretische Integration konnte deshalb in praktische Exklusion durch Krieg und Verfolgung umschlagen.

Ein derartiges Umschlagen wird im Arbeitsforum B (Kontakt und Austausch) zumindest in dem Kapitel angesprochen, das die Vertreibung der Juden aus Frankreich und England behandelt. Im Kern geht es hier darum, dass die Juden in den lateinisch-christlichen Diskurs über Wucher und Zins integriert wurden, ohne dies wahrzunehmen und ohne zu bemerken, dass sich damit die Voraussetzungen für das jüdisch-christliche Zusammenleben grundlegend änderten. Im Gegenzug lässt sich beobachten, wie sich die orthodoxen Christen im mamlukischen Jerusalem nicht zuletzt deshalb behaupten konnten, weil sie sich zumindest teilweise in die islamische Rechtsordnung integrierten und ihre Rechte innerhalb dieser zu wahren wussten.

Die meisten Einzelstudien sind aus dem Arbeitsforum C (Gewalt im Kontext der Kulturen) hervorgegangen. Hier findet sich S. 305-314 ein Prolog, der die Aktualität des Themas unter den Stichworten „Gewalt - Religion - Mittelalter“ hervorhebt (unter Berufung auf die Regensburger Rede Benedikts XVI.) und die Selbstdefinition und -konstruktion einer Gesellschaft durch „ausgeübte und erlittene Gewalt“ betont (S. 310 mit Anm. 16). Als Phänomen ausgewählt wird die „Gewalt, die in der Begegnung von Kulturen entsteht und Prozesse kultureller Integration oder Desintegration motiviert“ (S. 311), kleinräumige Gewaltphänomene, wie z.B. die Auseinandersetzungen zwischen den oberitalienischen Städten, werden nicht behandelt, obwohl sich auch hier Gewalt und Selbstdefinition verknüpft haben. Nachdrücklich spricht sich das Forum für eine vergleichende Betrachtung des Euromediterraneum aus, obwohl es sich der Gefahren bewusst ist, die aus unterschiedlichem Forschungsstand und höherer Kenntnis für nur eine der verglichenen Kulturen erwachsen. Rechtssetzungen und Urkunden wollte das Forum bewusst nur sekundär heranziehen, denn es glaubt mit „(volkssprachlichen) erzählenden Quellen“ dem „Bestreben, Pluralität darzustellen“ näher zu kommen (S. 311). Mir scheint die Trennlinie zu scharf gezogen. Zu den „Rechtsquellen“ (der Begriff findet sich ebd.) müsste man nämlich auch die Rechtssammlungen und die wissenschaftliche Durchdringung des Rechts zählen. Dort finden sich aber im lateinischen Mittelalter Überlegungen, mit denen die Varianz der Gewaltphänomene begrifflich erfasst werden konnten. Etwa das Bestehen darauf, dass Gewaltanwendung als Notwehr nur in zeitlichem Zusammenhang des Angriffs erfolgen dürfe und die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten sei oder - auf das Verhalten abzielend - dass Gewaltanwendung zwar gegen die „feindseligen“ Muslime, nicht aber gegen die „friedfertigen“ Juden statthaft sei. Diese juristischen Überlegungen der Zeitgenossen würden jedenfalls eine willkommene Ergänzung zu den beiden Abschnitten des Bandes bilden, die sich mit der Rezeption und Interpretation der aristotelischen Gewaltdefinition im lateinischen Westen und griechischen Osten befassen. Mit überzeugendem Ergebnis werden schließlich in dem Unterabschnitt „Gewalt und Geschlecht“ die Strafbestimmungen der Siete Partidas zu sexuellem Kontakt zwischen Nichtchristen und Christinnen behandelt. Nur die christlichen Frauen sind von der Strafe bedroht, nicht aber christliche Männer bei analogem Verhalten, und das, obwohl die Kirche sonst in Fragen der Sexualmoral beide Geschlechter gleich behandelt wissen wollte.

Eine Detailkritik, wie eben geäußert, ist vor allem Ergänzung. Denn die Autoren entfalten in meist knappen Beiträgen ein Panorama unterschiedlichster Phänomene, die um Gewalt kreisen. Schilderungen von Gewalt wie die Plünderung Roms 410; Theorien und Normen zu Gewalt, wozu die oben angesprochenen Ausführungen zu Aristoteles gehören; das Arsenal der kriegerisch bestimmter Personennamen der verschiedenen Kulturen (hier sollte jedoch auch die Bedeutung der Jagd als notwendige Aktion zum Erwerb von Nahrung in Rechnung gestellt werden); Disputationen, die sowohl eine gewalttätige Zuspitzung vermeiden wie auch mit einer solchen enden konnten (Jan Hus); Gewalt und Geschlecht, mit dem kulturübergreifenden Ergebnis, Gewaltanwendung komme nur Männern zu; Gewalt und Persönlichkeitsideal; Gewalthöhepunkte, gipfelnd in den Schilderungen der Eroberung Bagdads durch die Muslime (1258) und Jerusalems durch die Kreuzfahrer (1099).

Offensichtlich ging des dem Forum zur Gewalt vor allem darum, ein breites Spektrum von Quellen vorzustellen. Die breit angelegte Dokumentation hat oft den Vorrang vor der Interpretation. Mustert man die Beiträge zur Gewaltfrage im Zusammenhang, dann stellt sich der Eindruck ein, dass gerade hier die geringsten Unterschiede im Untersuchungsraum „Europa“ festzustellen sind: Der männliche Held scheint ein gemeinsames Ideal zu sein. Die beiden Hochreligionen Christentum und Islam, die anders als das Judentum zu kriegerischer Aktion fähig waren, werteten dieses Heldentum durch vergleichbare religiöse Tugenden auf: vor allem durch Askese, sexuelle Enthaltsamkeit und Gehorsam gegen Gott. Möglicherweise hat Byzanz eine gewisse Reserve gegen solch religiös aufgeladenes Heldentum bewahrt, denn das als einziges Beispiel vorgestellte Heldenlied „Vom jungen Walachen“ stellt einen byzantinisierten Fremden in den Mittelpunkt. Er kämpft gegen Muslime, gegen Türken, Sarazenen und Araber. Religiöse Elemente spielen in dem wiedergegebenen Textausschnitt keine Rolle; angesichts der in Byzanz weiterlebenden römischen Militärtradition mag auch das Einzelkämpfertum des jungen Walachen Hinweis auf dessen barbarische Herkunft sein oder aus antiker Tradition stammender Topos (Achilles und andere).

Speziell im letzten Abschnitt über Gewalthöhepunkte scheint mir eine Perspektive nicht durchgehalten, die sonst den ganzen Band prägt, nämlich der Versuch, die Handlungs- und Wahrnehmungskriterien der Zeitgenossen herauszustellen. In dem Abschnitt über die Schilderungen der Däneneinfälle bei Heinrich von Huntingdon steht das noch im Vordergrund, denn Heinrichs Werk wird nicht als Tatsachenbericht, sondern als Interpretation, als „Geschichtsphilosophie“ (S. 508) gewertet. In dem Abschnitt über die Eroberung Jerusalems spielt das aber (trotz der zitierten Studie von Kaspar Elm) kaum eine Rolle. Wenn Tankred, der den Tempel erobert und die dorthin geflohenen Muslime unter seinen Schutz gestellt hatte, seine Eroberung nicht behaupten konnte, sondern die übrigen Kreuzfahrer dort eindrangen und ein Blutbad anrichteten, dann wurde nicht die „Willkür der übrigen Kreuzfahrer“ (S. 519) angeprangert, sondern die Tankreds, der auf „private“ Beute aus war, statt alles gemäß alttestamentlicher Vorschrift Gott zu weihen, das heißt zu vernichten. Die realistische Ausmalung des Blutbades ist in erster Linie die propagandistische Behauptung, den Kreuzzug im Einklang mit Gottes Gebot zu einem siegreichen Ende gebracht zu haben. An der Tatsache des Blutbades ändert sich dadurch nichts, doch das Verhalten der Kreuzfahrer, die später auf vergleichbare Massaker verzichteten, in Jerusalem als „Verblendung“ (S. 522 im Epilog) zu bezeichnen, fördert keine historische Erkenntnis.

Ähnliche moralische Urteile und Untertöne finden sich in gerade in dem Gewalt-Forum häufiger. Sie belegen letztlich, wie schwer sich die historische Forschung damit tut, sich vorbehaltlos auf ihren Gegenstand einzulassen, und wie sehr sie Kind ihrer eigenen Zeit bleibt. Der transkulturelle Vergleich, dem das „Mittelalter im Labor“ unterzogen wird, macht auch das dem Leser des Bandes deutlich. Gerade deshalb - und nicht nur, um weitere vergleichende Untersuchungen vorzunehmen - sollte man die Arbeit im Mittelalterlabor weiterführen. Wer dafür eine weitere Begründung sucht, sei auf das Schlusswort des gesamten Bandes (S. 557-566, auch mit einer Zusammenfassung der Foren und Einzelstudien) verwiesen.

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