N. Stoltzfus u.a. (Hrsg.): Nazi Crimes and the Law

Cover
Titel
Nazi Crimes and the Law.


Herausgeber
Stoltzfus, Nathan; Friedlander, Henry
Reihe
Publications of the German Historical Institute
Erschienen
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
€ 51,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kim Christian Priemel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität Berlin

Kriegsverbrecherprozesse als Gegenstand historischer Forschung erfreuen sich in den letzten Jahren wachsender Aufmerksamkeit und dies auf breiter internationaler Ebene. Das große Interesse geht zum einen auf die politischen Brüche der 1990er-Jahre zurück, in deren Zuge zahlreiche Diktaturen und autoritäre Regime nicht nur in Ostmitteleuropa, sondern ebenso in Südafrika, Ostasien und Lateinamerika abgelöst wurden. ‚Transitional Politics‘ und ‚Transitional Justice‘ haben seither als analytische Kategorien unter Politik- und Rechtswissenschaftlern ebenso wie unter Historikern weite Verbreitung erfahren. Als zweiter Ausgangs- und Bezugspunkt der neuen Forschung dienen die in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten eingerichteten internationalen Tribunale in Den Haag und Arusha, insbesondere der in Rom begründete Internationale Strafgerichtshof. Dass sich drittens zuletzt die Jahrestage jener Institutionen drängten, welche die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen seit 1945 entscheidend geprägt haben, fügt sich da ins Bild: Mit dem Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärtribunal (1945/46) und seinem Tokioter Pendant (1946-48), mit den sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozessen unter US-amerikanischer sowie französischer Verantwortung (1946-49) und der (1958 erfolgten) Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in der Bundesrepublik jähren sich zentrale Wegmarken in der Geschichte der meist einfach als „NS-Prozesse“ rubrizierten Verfahren.1

Der vorliegende Sammelband, Ergebnis einer bereits 2003 in Amsterdam gehaltenen Konferenz, ist daher trotz der seither vergangenen Zeit von ungebrochener, im Zweifel sogar noch gewachsener Aktualität: Der Demjanjuk-Prozess in München wie auch jener des deutsch-niederländischen SS-Mannes, der sich derzeit in Aachen verantworten muss, finden in den Beiträgen des von Nathan Stoltzfus und Henry Friedlander edierten Bandes mehr als einmal ihre Entsprechung – insbesondere dort, wo es um die Schwierigkeiten geht, NS-Täter über nationale Grenzen hinweg zur Verantwortung zu ziehen, ohne dabei fundamentale Rechtsgarantien wie ne bis in idem (keine doppelte Verfolgung derselben Tat) oder nullum crimen sine lege (keine rückwirkende Illegalisierung) zu verletzen. So liest sich etwa der Beitrag von Elizabeth B. White über das Office of Special Investigation, die zentrale US-Behörde zur Erfassung immigrierter NS-Verbrecher, und dessen Anforderungen an Beweis- und Argumentationsführung, um den Entzug von Staatsbürgerschaft und Ausweisung zu erreichen, wie ein Hintergrundbericht zum Falle John Demjanjuks.

Whites Kapitel führt ebenso wie Christopher Brownings Erfahrungsbericht aus den Prozessen um Ernst Zündel und David Irving auf die Ebene „angewandter“ Geschichte, in der Historiker selbst als Akteure, nicht als Beobachter auftreten, eine seit den Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte in den 1950er- und 1960er-Jahren wesentliche Funktion geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Browning unterstreicht zudem die Metadimension akademischer Mitwirkung an den Holocaust-Leugner-Verfahren, standen doch hier nicht mehr allein die Verbrechen, sondern vor allem ihre wissenschaftliche Rekonstruktion und Analyse zur Debatte: „it was not the Holocaust but the practice of History itself that was on trial“ (S. 198). Zugleich vermag Browning die heuristischen und didaktischen Grenzen aufzuzeigen, denen – insbesondere nach dem angelsächsische Prinzip der ‚adversary proceedings‘ geführte – Gerichtsverfahren unterliegen. Ihre Dynamik werde nicht allein von der Wahrheitsfindung bestimmt, sondern ebenso von der Überzeugungskraft eines bestimmten Narrativs – eine Konstruktion, die anders als jene der „historischen Wahrheit“ nicht reflektiert werden müsse, um zum Gelingen des Verfahrens beizutragen, so Browning.

Nicht alle Beiträge des Bandes, die hier nur exemplarisch gewürdigt werden können, erreichen ein solch hohes Reflektionsniveau, zumal sich einige darauf beschränken, die bekannten Defizite der juristischen Aufarbeitung in den drei Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ zu benennen. Eine wesentliche Rolle für die Unzulänglichkeiten der westdeutschen Strafverfolgung lag dabei in der spezifischen rechtlichen Umschreibung des Tatbestandes nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Die Eckpunkte „Grausamkeit“, „Heimtücke“ und „niedrige Beweggründe“ – dies führt Michael S. Bryant eindrücklich vor Augen – bereiteten einer Wahrnehmung von Täterschaft den Boden, die vor allem den so genannten Exzesstäter – brutal, sadistisch, über erteilte Befehle hinausgehend – in den Vordergrund schob, die Komplexität von Entscheidungswegen und Befehlsketten ebenso wie die administrative Normalität der Mitwirkung an Verfolgung und Mord aber weitgehend ausblendete. Die Mörder waren somit keineswegs unter uns, sondern wurden im Wortsinne am asozialen Rand der Wiederaufbaugesellschaft verortet.

Dass indes auch für sie noch ein Platz in der Bundesrepublik blieb, macht der instruktive Aufsatz von Dirk de Mildt deutlich. Seine Fallstudie des SS-Unteroffiziers Max Täubner, der den oben genannten „Anforderungen“ an den paradigmatischen NS-Täter vollauf gerecht wurde, zeigt alle Charakteristika einer bitteren Farce. Selbst dem SS-Gericht, vor das Täubner noch während des Krieges wegen eigenmächtiger und mit entsetzlicher Grausamkeit verübter Morde an Juden gestellt wurde, erschienen seine Taten als verurteilenswerter Exzess – freilich nicht als Verbrechen sui generis, sondern wegen disziplinarischer Verstöße. Zu zehn Jahren Haft verurteilt, wurde der SS-Mann nach einem Jahr begnadigt und in der Bundesrepublik wegen des rechtskräftig ergangenen Urteils nicht mehr vor Gericht gestellt, eben weil, wie auch Joachim Perels’ Beitrag betont, die überwältigende Mehrheit des westdeutschen Juristen nach 1945 an der Behauptung prinzipiell rechtsstaatlicher Gerichtsbarkeit im „Dritten Reich“ festhielt und Rechtsbeugung als leitendes Prinzip nationalsozialistischer Herrschaft verneinte. In vergleichbaren Fällen wirkte das ne bis in idem hingegen nicht: Das Urteil gegen einen ebenfalls wegen Mord an Juden vor Gericht gestellten Wehrmachtsmajor wurde per „Führerbefehl“ aufgehoben, somit nicht rechtskräftig, der Offizier an die Ostfront versetzt und nach einem Jahrzehnt in Kriegsgefangenschaft schließlich erneut angeklagt, da die westdeutsche Justiz sowjetische Urteile nicht anerkannte. De Mildts sorgsam recherchierte Fallstudie beleuchtet nicht nur solche strafrechtlichen Widersprüchlichkeiten, sondern zeigt auch, welches heuristische Potential die Prozessanalyse eröffnet. Beispielhaft gilt dies für das Urteil des SS-Gerichts, das im Herbst 1942 vehement unterstrich, in der grundsätzlichen Vernichtung der europäischen Juden keineswegs ein Verbrechen zu sehen, und damit die Diffusion des Wissens um die „Endlösung“ belegte. Dem Vorsitzenden Richter, damit schlägt de Mildt den Bogen zurück, gelang es jedoch nach dem Krieg, seine antisemitische Rhetorik zur List umzudeuten, mit dem er dem Recht zum Sieg verholfen habe, und somit seinen Ausschluss aus der bayerischen Anwaltskammer zu verhindern.

Ähnlich vielschichtig fällt Annette Weinkes Analyse der frühen bundesdeutschen Strafverfolgung von NS-Tätern aus. In einer überzeugenden Argumentation legt Weinke dar, dass der Auftakt einer breiten und koordinierten juristischen Aufarbeitung, der gemeinhin mit der Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg verbunden wird, keineswegs Resultat eines “sudden and cathartic awakening” war (S. 161). Vielmehr war die bundesdeutsche Bereitschaft, mehr Energie und Ressourcen in die Ermittlungsarbeit zu investieren zum einen stark durch die deutsch-deutsche Konkurrenz und die in Ostberlin forcierte Dauerkampagne gegen das „braune“ Erbe der Bundesrepublik motiviert. Zum anderen blieb diese Bereitschaft zumindest zu Beginn durchaus begrenzt, wie die selbstauferlegten Beschränkungen bei der Beschaffung von Beweismaterial aus osteuropäischen Provenienzen und der 1964 ausgebrochene Streit um die Verjährungsfrage dokumentierten. Gleichwohl sollte die Bundesrepublik, gleichsam dank des Drucks aus der DDR, dauerhaft zum engagiertesten der drei Nachfolgestaaten bei der Strafverfolgung werden, während in Ostdeutschland und Österreich – so Winfried Garschas Beitrag – in den 1960er- und 1970er-Jahren NS-Prozesse praktisch ruhten.

Fällt das Resultat nach der Jahrtausendwende nun befriedigend aus? Dies mag weniger daran hängen, ob man wie Nathan Stoltzfus in seinem Kapitel zur unterbliebenen Strafverfolgung des Wehrmachtsmassakers von Kephallonia auf die bis in die jüngste Vergangenheit reichenden, frappierend unverhüllten Bestrebungen zu Beschwichtigung und Apologetik abstellt, sondern vielmehr daran, welche didaktische und moralische Erwartungshaltung sich an das strafrechtliche Instrumentarium knüpft. Die Versuche, Alternativen zum Gerichtsverfahren in Gestalt von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen zu finden, dokumentiert die schwierige, als stete Suchbewegung vorstellbare Relation von Recht, Gerechtigkeit und Geschichte.

Anmerkung:
1 Vgl. Kerstin von Lingen: Rezension zu: Futamura, Madoka: War Crimes Tribunals and Transitional Justice. The Tokyo Trial and the Nuremburg Legacy. London 2008, in: H-Soz-u-Kult, 04.11.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-111>; dies.: Rezension zu: Heberer, Patricia; Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Atrocities on Trial. Historical Perspectives on the Politics of Prosecuting War Crimes. Lincoln 2008, in: H-Soz-u-Kult, 06.05.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-086>; Claudia Steur: Rezension zu: Weinke, Annette: Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958-2008. Darmstadt 2008, in: H-Soz-u-Kult, 03.07.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-012>; Kim Christian Priemel: Rezension zu: Reginbogin, Herbert R.; Safferling, Christoph J., Hippel, Walter R. (Hrsg.): Die Nürnberger Prozesse. Völkerstrafrecht seit 1945. Internationale Konferenz zum 60. Jahrestag. München 2006, in: H-Soz-u-Kult, 17.01.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-040>.

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