M. Krüger u.a. (Hrsg.): Handbuch Sportgeschichte

Cover
Titel
Handbuch Sportgeschichte.


Herausgeber
Krüger, Michael; Langenfeld, Hans
Reihe
Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport 173
Erschienen
Schorndorf 2010: Hofmann
Anzahl Seiten
422. S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Havemann, Universität Stuttgart

Die Sportgeschichte befindet sich in einer paradoxen Situation. Einerseits wird sie im Studium und der Ausbildung von Sportlehrern kaum noch gelehrt. Der allgemeine Kahlschlag unter den geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen – allein zwischen 1995 und 2005 sank die Zahl der Professorenstellen in den Sprach- und Kulturwissenschaften in den 16 Bundesländern dem Deutschen Hochschulverband zufolge um 11,6 Prozent 1 – fiel in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Sportgeschichte erbarmungsloser aus als auf den meisten anderen Feldern. Eigenständige Professuren für dieses Fach gibt es in Deutschland daher nur noch zwei, in Potsdam und an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Es ist daher keine Übertreibung, wenn man zu dem Schluss gelangt, dass sie als wissenschaftliche Disziplin an den Universitäten eher zu einer Randerscheinung geworden ist, die zunehmend von Sportwissenschaftlern und Allgemeinhistorikern am Leben erhalten wird.

Andererseits war das Interesse der Öffentlichkeit an der Sportgeschichte noch nie so groß wie in der Gegenwart. Sportliche Großereignisse, die in den vergangenen Jahren im In- und Ausland stattfanden, gingen regelmäßig mit wissbegierigen Blicken in die Vergangenheit einher, ohne deren Kenntnis viele zur Selbstverständlichkeit gewordene Darstellungsformen im Sport – wie beispielsweise der Olympische Fackellauf – ein sinnleeres Rätsel blieben. Nicht zuletzt die zahlreichen erregten Debatten über den erinnerungspolitischen Umgang mit einzelnen Persönlichkeiten aus dem Sport verdeutlichten die gesellschaftliche Relevanz der Sportgeschichte und die Notwendigkeit, das in ihr schlummernde heuristische Potenzial zu erschließen.

Das von Michael Krüger und Hans Langenfeld herausgegebene „Handbuch Sportgeschichte“ spiegelt die sonderbare Stellung dieser wissenschaftlichen Disziplin wider. Bereits in ihrer Einführung erläutern die Herausgeber, welch enorme Herausforderung die Realisierung eines solchen Projektes war. Das ambitionierte Ziel, „alles Wesentliche zur Sportgeschichte in knappen Artikeln vorzustellen“ (S. 7), erforderte die Sichtung einer kaum noch zu überschauenden Fülle an Spezialstudien, die in den letzten Jahren zumeist „Amateure“ – Journalisten, Hobbyhistoriker oder auch Fans – geschrieben haben. Es galt, den reichen Ertrag, den diese oft mit viel Idealismus erarbeiteten Publikationen abwarfen, systematisch zu erfassen, zu strukturieren und in ein Konzept für ein wissenschaftliches Handbuch zu gießen – eine Aufgabe, für die wegen der angespannten Situation der Sportgeschichte an den Universitäten nicht mehr viele Experten in Frage kamen. Als Horst Ueberhorst vor rund vier Jahrzehnten den ersten von sechs Bänden der „Geschichte der Leibesübungen“ herausgab 2, die einen ähnlichen Anspruch erhoben wie das vorliegende „Handbuch Sportgeschichte“, waren die strukturellen Voraussetzungen für ein solches Projekt insofern komfortabler, als das akademische Netzwerk von Spezialisten in diesem Fach damals noch im Wachsen begriffen war.

Krüger und Langenfeld ist es dennoch gelungen, nicht nur fast zwei Dutzend kompetente Autoren aus dem In- und Ausland für diese Herausforderung zu gewinnen, sondern auch eine gedanklich klare Gliederung für den reichhaltigen Stoff zu finden. Der erste Teil des Handbuchs beschäftigt sich in kleinen Aufsätzen mit den Grundlagen, also mit der Entwicklung der Sportgeschichte im Rahmen der deutschen Sportwissenschaft, mit der Turn- und Sportgeschichtsschreibung vor und nach 1945, mit theoretischen Voraussetzungen und philosophischen Überlegungen sowie den Grundlagen und Methoden sporthistorischer Forschung. Der Beitrag „Sportgeschichte international“, mit dem dieser Teil des Handbuchs abschließt und für den vier Autoren verantwortlich zeichnen, unterstreicht den Versuch, sich zumindest in diesem Kapitel nicht auf eine deutsche Perspektive zu beschränken.

Mit dem großen Spektrum der verschiedenen Theorien, die dem Sporthistoriker als Rüstzeug zur Erschließung der Quellen zur Verfügung stehen, befasst sich der zweite Teil. Der Komplexität der Materie geschuldet, bietet er Stoff für fruchtbar kontroverse Diskussionen. So besteht kein Zweifel, dass sich die Autoren, die sich mit den verschiedenen Möglichkeiten des Zugriffs auf den Sport beschäftigen, bestens in ihrem Metier auskennen. Ausgewiesene Fachleute reflektieren auf der Höhe des aktuellen Stands der Forschung die Vorzüge der Sportgeschichte als Teil der Gesellschaftsgeschichte oder das verbreitete Konzept von der „Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Leibesübungen und des Sports“ (S. 114). Bedauerlich ist aber, dass neuere theoretische Annäherungen an die Sportgeschichte wie kulturgeschichtliche oder ökonomische Ansätze allenfalls gestreift werden.

Der dritte Teil, die Darstellung der Sportgeschichte in den einzelnen Epochen, ist das Herzstück des Handbuchs. Auf etwas mehr als 100 Seiten versuchen die Autoren, nicht weniger als etwa 3000 Jahre europäischer Sportgeschichte zusammenzufassen. Angesichts dieses Verhältnisses zwischen zeitlicher Breite des Themas und gebotener Kürze eines Handbuchs ist es unvermeidlich, dass einige Beiträge zu einem kühnen Parforce-Ritt mit dem Mut zur Lücke geraten. In diesem Zusammenhang stellt sich beispielsweise die Frage, warum einem mittlerweile sehr gut erforschten Bereich wie dem Sport in der Weimarer Republik nicht deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem Sport im Mittelalter, der in seiner wissenschaftlichen Durchdringung im Vergleich zu anderen Gebieten eher einem unbestellten Feld gleicht.

Ebenso auffällig ist die zunehmende geografische Verengung des Blickwinkels von einer europäischen auf eine vornehmlich deutsche Perspektive, welche die sporthistorischen Entwicklungen in anderen Ländern für die Zeit ab dem 19. Jahrhundert bestenfalls am Rande erfasst. Die Herausgeber verweisen selbst auf diese Einseitigkeit und erklären sie nachvollziehbar mit dem Kompromisscharakter des Handbuchs, der ihnen durch die beklagenswerte Situation der Sportgeschichte an den Universitäten aufgezwungen worden sei: Die „Konzentration auf den deutschen Sprachraum ist durch den defizitären gegenwärtigen Forschungsstand bedingt, der einen Überblick über die vielfach vernetzte internationale historische Entwicklung noch nicht ermöglicht“ (S. 8). Trotz dieser eingeschränkten Perspektive ist es den Autoren durchgängig gelungen, den Forschungsstand präzise zusammenzufassen, wissenschaftliche Desiderate zu benennen und vereinzelt auch auf Kontroversen einzugehen.

Ähnliches gilt für den vierten Teil des Buches, der knapp mit „Themen“ überschrieben ist. In kurzen Aufsätzen werden naheliegende Stoffe wie das Verhältnis zwischen Militär und Sport ebenso aufgegriffen wie eher entlegene, zu denen beispielsweise der Alterssport zählt. So fachkundig die Beiträge im Einzelnen sind, so sehr verblüfft bisweilen die inhaltliche Gewichtung, welche die Herausgeber vornehmen. Themen wie die olympische Bewegung oder das Doping, zu denen die Literatur mittlerweile derart angeschwollen ist, dass sie fast ein eigenes Handbuch rechtfertigen würden, wird kaum mehr Platz eingeräumt als dem aristokratischen Sport oder dem Betriebssport. Überdies verdeutlicht die Tatsache, dass hier, ähnlich wie im Kapitel über Theorien, den ökonomischen Aspekten des Sports kein eigener Aufsatz gewidmet wird, die in der Sportgeschichte verbreiteten Hemmungen, sich mit wirtschaftlichen Fragen des Sujets zu beschäftigen. Vermutlich liegt es auch hier an der ausgedünnten Personaldecke der Universitäten, dass dieses Thema, dessen Relevanz schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Eingang des Sports in die Massenkultur offenkundig geworden ist, nicht mehr kompetent besetzt werden konnte.

Abgerundet wird das Werk von einem nützlichen Anhang, der einen raschen Überblick über die wichtigsten Daten zur Geschichte des Sports in Deutschland und über die einschlägige Literatur liefert. In diesem Teil wäre bei einer Neuauflage lediglich zu überlegen, ihn um ein Personen- und Sachregister zu erweitern, was die Benutzerfreundlichkeit zusätzlich erhöhen würde.

Die kleineren Monita vermögen den großen Wert des Handbuchs kaum zu schmälern. Er besteht vor allem darin, dem Sportwissenschaftler und Sportstudierenden ebenso wie dem Geschichtswissenschaftler und Hobbyhistoriker eine durchgängig flüssig geschriebene Einführung in wesentliche Teile dieser wissenschaftlichen Disziplin an die Hand zu geben. Wer nur einen kleinen Einblick in die widrigen Verhältnisse hat, unter denen Sporthistoriker in der Gegenwart arbeiten, wird erstaunt sein, dass ein solches Projekt überhaupt realisiert werden konnte. Dass die Herausgeber es überdies verstanden haben, sowohl inhaltlich als auch konzeptionell einen würdigen Nachfolger für das verdienstvolle, aber mittlerweile in einigen Teilen wissenschaftlich überholte Werk von Ueberhorst zu entwickeln, verdient umso größeren Respekt.

Anmerkungen:
1 Vgl. DHV: Geisteswissenschaften verloren in zehn Jahren 663 Professuren, in: Bildungs-Spiegel vom 24. August 2007, <http://www.bildungsspiegel.de/aktuelles/dhv-geisteswissenschaften-verloren-in-zehn-jahren-663-professuren.html?Itemid=262> (13.03.2011).
2 Horst Ueberhorst (Hrsg.), Geschichte der Leibesübungen. 6 Bde., Berlin 1972–1989.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension