I. Fees u.a. (Hrsg.): Papsturkunden des frühen und hohen Mittelalters

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Titel
Papsturkunden des frühen und hohen Mittelalters. Äußere Merkmale – Konservierung – Restaurierung


Herausgeber
Fees, Irmgard; Hedwig, Andreas; Roberg, Francesco
Erschienen
Leipzig 2011: Eudora
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Engel, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

Die Bedeutsamkeit der äußeren Merkmale mittelalterlicher Urkunden für ihre diplomatische Beurteilung einschließlich des discrimen veri ac falsi steht seit den ersten Anfängen der historischen Urkundenlehre im 17. Jahrhundert außer Frage. Angesichts der geringen Zahl erhaltener Papsturkunden bis in das hohe Mittelalter hinein können Neubewertungen einzelner päpstlicher Dokumente anhand ihrer äußeren Merkmale offenkundig besonders weite interpretatorische Kreise ziehen. Wenn dem hier zu besprechenden, aus einer Marburger Tagung vom April 2008 hervorgegangenen Aufsatzband also an sich schon die Aufmerksamkeit des mediävistischen Publikums sicher sein sollte, so verdient er zusätzliches Interesse durch die Einbeziehung der archivfachlichen Thematik von Konservierung und Restaurierung. Spätestens seit dem Kölner Archiv-Einsturz vom 3. März 2009 ist die archivische Bestandserhaltung für Historiker ein Thema von geradezu tagesaktueller Brisanz. Die Organisatoren der Marburger Tagung haben sich im Übrigen schon vor der Katastrophe und unbeeinflusst von massenmedialen Konjunkturen erfolgreich darum bemüht, Archivwissenschaft und Historische Hilfswissenschaften miteinander ins Gespräch zu bringen.

Nach den einleitenden Beiträgen von Andreas Hedwig – aus der Sicht des Archivars – und Irmgard Fees – aus der Sicht der Diplomatikerin – ist denn der erste Teil des Bandes auch dem Thema „Aktive und passive Bestandserhaltung am Beispiel von Papsturkunden“ gewidmet. Die sechs Beiträge dieses Teils sind jeweils aus der praktischen Arbeit an der Bestandssicherung erwachsen. Sie beginnen konsequenterweise mit Anna Haberditzls Referat zur Urkundenrestaurierung, in dem die Autorin ausführlich über die materiellen Besonderheiten des Beschreibstoffes Pergament handelt. Johannes Burkardt und Walter Trier berichten aus ihren „Heimat-Staatsarchiven“ Münster bzw. Marburg über laufende Umlagerungsprojekte, während Maria Magdalena Rückert und Lisa Dieckmann zusammen mit Jürgen Nemitz jeweils über ein Digitalisierungsvorhaben referieren: die Online-Ausgabe des Württembergischen Urkundenbuches sowie des Marburger Lichtbildarchivs älterer Originalurkunden.

Bereits zum zweiten, dem hilfswissenschaftlichen Teil des Bandes leitet der Beitrag von Francesco Roberg über. Seine Überlegungen dazu, „wie man [unter den Bedingungen insbesondere der digitalen Datenverarbeitung] mit der Gattung Urkunde bzw. ihren äußeren Merkmalen in Zukunft verfahren könnte“ (S. 119), sind der Zielpunkt des Referates, das ausführlich die Entwicklung von Urkunden-Abbildungen bzw. Teilabbildungen seit den Anfängen der Diplomatik und die Vorgehensweise der großen papstgeschichtlichen Quellenwerke Philipp Jaffés, August Potthasts und Julius von Pflugk-Harttungs darstellt. Kritisch gewürdigt werden namentlich die Arbeiten Pflugk-Harttungs. Roberg zeichnet auch das ‚bellum diplomaticum‘ zwischen diesem und seinen Hauptgegnern Theodor von Sickel und Harry Bresslau in den einzelnen Phasen nach (S. 125–128).

Den zweiten Teil des Aufsatzbandes eröffnet der Beitrag Mark Mersiowskys. Er ordnet die überlieferten elf Papsturkunden auf Papyrus aus der Zeit bis 911 in die „graphische Welt“ (vgl. S. 139) der karolingerzeitlichen Originalurkunden ein.1 Auch wenn die verschwindend geringe Zahl erhaltener, obendrein größtenteils nur fragmentarischer Papyrusurkunden zur Vorsicht gegenüber Verallgemeinerungen mahnt (was etwa auf S. 165 von Mersiowsky betont wird), so gelingt es dem Autor doch herauszuarbeiten, dass ein nennenswerter Einfluss der karolingerzeitlichen Papsturkunden auf die Gestaltung anderer zeitgenössischer Dokumente nur im Erzbistum Ravenna erkennbar wird. Mersiowsky bezieht diesen Befund auf das „lange als eher distanziert zu bezeichnende Verhältnis der fränkischen Kirche zur Autorität des Papsttums“ (S. 172) sowie im Falle Ravennas auf gemeinsame Tradition und die zeitweise bestehende Rivalität zwischen den Päpsten und Ravennas Erzbischöfen. Zudem unterstreicht Mersiowskys Beitrag die beeindruckende „graphische Stetigkeit“ (S. 166) der Papsturkunden und dementsprechend die offenbar größere „Bindungskraft des Kanons wie der Tradition“ (S. 173) im Vergleich zu den Herrscherurkunden.

Karl Augustin Frech, durch seine Arbeit an den Regesta Imperii2 ausgewiesener Kenner der einschlägigen Quellenüberlieferung, widmet sich in seinem Beitrag der „Gestaltung des Papstnamens in der Intitulatio der Urkunden Leos IX.“ und insbesondere dem bislang von der Forschung wenig beachteten Namensmonogramm Leos, das in ungefähr der Hälfte der überlieferten Originale vorkommt, und zwar in vier Varianten. Als wahrscheinliche Funktionen des Monogramms benennt Frech: die äußere Angleichung an das Chrismon der Kaiser- und Königsurkunden und überhaupt die „ästhetische Aufwertung der Papsturkunde“ (S. 207); die Unterscheidung Leos von seinen gleichnamigen Vorgängern; eine theologische Aussage, vermutlich über die Christusbeziehung bzw. das Amtsverständnis des Papstes.

Otfried Kraffts Beitrag über das Benevalete, ein Seitenstück zu einer mittlerweile erschienenen Monographie3, hat seinen Schwerpunkt in der gründlichen Auseinandersetzung mit den späten Arbeiten Peter Rücks über den althergebrachten, seit Leo IX. monogrammatisch gestalteten päpstlichen Schlussgruß. Krafft arbeitet deutlich die methodischen Probleme und Schwächen der Rückschen Deutungsversuche4 heraus und widerlegt die von dem bedeutenden Marburger Hilfswissenschaftler vorgeschlagenen Lesarten des Monogramms (Iubilate bzw. Beate Petre). Er plädiert für die schon von den mittelalterlichen Zeitgenossen bezeugte Lesart Bene valete.

Der Beitrag von Joachim Dahlhaus („Rota oder Unterschrift“) über die Unterfertigung der Papsturkunden von Leo IX. bis zu Urban II. einschließlich der Gegenpäpste knüpft an frühere Arbeiten des Autors zur Rota5 an und geht „vor allem der Frage [nach], welche Personen zwischen 1055 und 1099 die Rotae hergestellt haben“ (S. 252). Leo IX. hatte deren Beschriftung, wie die erhaltenen Original-Rotae zeigen, ganz überwiegend selbst übernommen (vgl. S. 251). Die Untersuchung der päpstlichen bzw. gegenpäpstlichen Originalurkunden von 1055 bis 1099 ergibt zudem, dass Rota und Papstunterschrift einander in diesem Zeitraum ausschlossen, nicht jedoch Rota und andere Unterschriften. Von großem Nutzen für die weitere Forschung ist nicht zuletzt der Anhang des Beitrags, der sämtliche Originalurkunden des genannten Zeitraums einschließlich der Zweifelsfälle aufführt, unter Angabe von Regesten und Abbildungen sowie gegebenenfalls mit weiteren Informationen und einer Problemdiskussion. Nicht nur zur Echtheitskritik einzelner Papsturkunden kann Dahlhaus hier mehrfach neue Einschätzungen und Beobachtungen liefern.

Besondere Hervorhebung verdient der Aufsatz „Nicht nur Seide oder Hanf!“ von Andrea Birnstiel und Diana Schweitzer, ist dieser gründliche und innovative Beitrag doch aus einer Seminararbeit erwachsen. Die Autorinnen untersuchen die bislang in der Literatur nur wenig beachtete Entwicklung des Erscheinungsbildes der päpstlichen „Litterae“ von 1130 bis 1216. Die Datengrundlage hierfür lieferten die Sammlungsbestände der Pius-Stiftung für Papsturkundenforschung (Arbeitsstelle Göttingen) und des Marburger Lichtbildarchivs älterer Originalurkunden. Birnstiel und Schweitzer arbeiten deutlich heraus, dass die Idealtypen Litterae cum serico bzw. cum filo canapis im gewählten Zeitraum nur selten vorliegen und außer der Siegelbefestigung noch weitere Kriterien angewendet werden müssen.

Die Reihe der Aufsätze beschließt ein Beitrag von Thomas Frenz über kuriale Urkundenfälschungen. Dem (hier beibehaltenen) Charakter eines öffentlichen Abendvortrags angemessen, behandelt Frenz vor allem zwei spektakuläre Fälle aus den Jahren 1198 und 1489; er tut dies in weitgehend deskriptiver Weise und mit großer Anschaulichkeit und Lebendigkeit.

Der sehr sorgfältig lektorierte Band spricht als Hardcover mit 136 (!) Abbildungen und Tabellen auch optisch an. Neben einem Personen- und Ortsindex sowie Abbildungsnachweisen umfassen die verlässlichen Indizes angemessenerweise ein Verzeichnis der erwähnten Papsturkunden. Angesichts der vielbesprochenen Krise der Historischen Hilfswissenschaften zeigt dieser Tagungsband einmal mehr, dass es jedenfalls nicht an relevanten Untersuchungsgegenständen, neuen Erkenntnismöglichkeiten und schon gar nicht an Akribie, Scharfsinn und Engagement bei den Bearbeitern fehlt.

Anmerkungen:
1 Ausführlich dazu: Mark Mersiowsky, Die Urkunde in der Karolingerzeit. Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation (im Druck).
2 Karl Augustin Frech (Bearb.), Papstregesten 1024–1058. 2. Lieferung: 1046–1058, Köln 2011; vgl. dazu: Jochen Johrendt: Rezension zu: Frech, Karl A.: J. F. Böhmer: Regesta Imperii III. Salisches Haus 1024–1125. 5. Abt.: Papstregesten 1024–1058. 2. Lieferung: 1046-1058. Köln 2011, in: H-Soz-u-Kult, 16.05.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-114> (16.05.2012).
3 Otfried Krafft, Bene Valete. Entwicklung und Typologie des Monogramms in Urkunden der Päpste und anderer Aussteller seit 1049, Leipzig 2010.
4 Vgl. zur Kritik an Rücks semiotischem Ansatz auch: Theo Kölzer, Diplomatik und Urkundenpublikationen, in: Toni Diederich / Joachim Oepen (Hrsg.), Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln 2005, S. 7–34, hier S. 20–22; dazu: Harald Müller: Rezension zu: Diederich, Toni; Oepen, Joachim (Hrsg.): Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung. Köln 2005, in: H-Soz-u-Kult, 22.03.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-192> (22.03.2006).
5 Insbesondere zu nennen: Joachim Dahlhaus, Aufkommen und Bedeutung der Rota in den Urkunden des Papstes Leo IX., in: Archivum Historiae Pontificiae 27 (1989), S. 7–84.

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