Titel
Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933


Autor(en)
Bergien, Rüdiger
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 35
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Benjamin Ziemann, Department of History, University of Sheffield

Diese Studie setzt sich das Ziel einer Neuinterpretation der geheimen Rüstungsbemühungen in der Weimarer Republik. Sie wendet sich gegen einen in der Historiographie etablierten Konsens, der die geheime Aufrüstung der Reichswehr und Anstrengungen zur „Wehrhaftmachung“ der Bevölkerung und Gesellschaft entweder als Ergebnis einer Strategie des Militärs ansah, das ohne zivile Kontrolle und Einsichtnahme als „Staat im Staate“ handelte, oder als eine „Expansion des Militärs in Staat und Gesellschaft“ interpretierte (S. 17). Letzteres war die 1980 von Michael Geyer vertretene Deutung, und es ist bezeichnend für den Stand der Historiographie, dass es seitdem praktisch keine substanzielle Forschung zu diesem Themenfeld gegeben hat. Umso mehr ist der substanzielle Beitrag zu begrüßen, den Bergien zur Neubestimmung des Verhältnisses von Militär, Staat und Gesellschaft in der Weimarer Republik macht. Seine Studie beruht auf den erhaltenen Quellen von Reichswehr, Reichskabinett und Reichsministerien. Dazu kommt die (erstmalig umfassend erfolgte) Auswertung preußischer Ministerialakten sowie Akten der preußischen Ostprovinzen. Mit der Auswertung dieser heute in Wrocław, Szczecin und Poznań befindlichen Quellen hat der Verfasser seine Studie um die wichtige und oft vernachlässigte Dimension der Verhältnisse im preußischen Osten ergänzt.

Aus der Auswertung dieser Archivquellen leitet Bergien seine Kernthese ab. Demnach handelte es sich bei der personellen Geheimrüstung in Weimar um das Ergebnis einer umfassenden Kooperation zwischen zivilen und militärischen Behörden. Jene waren gerade im preußischen Osten an der Grenze zu Polen intensiv damit befasst die Geheimrüstung vor der bis Ende 1926 bestehenden Kontrolle durch die Interalliierte Militär-Kontrollkommission (IMKK) oder vor den Ermittlungen einiger emsiger Polizeibehörden abzuschirmen. Durch die Einbeziehung von paramilitärischen Gruppen, in erster Linie des Stahlhelm, später dann auch der SA, entwickelte sich die personelle Geheimrüstung zu einem „Scharnier zwischen Militär, Staat und Gesellschaft“ (S. 20). Diese breite gesellschaftliche Verankerung der Geheimrüstung, so Bergien, war aber nicht möglich ohne einen die politischen Lager übergreifenden „Wehrkonsens“, der die Sicherung der Republik gegen äußere Feinde, das Unterlaufen der Kontrollbestimmungen des Versailler Vertrages und die notwendige „Wehrhaftmachung“ der Bevölkerung durch Wehrsport und die praktische Betätigung mit handgeführten Waffen als notwendige Praktiken zur Stabilisierung des Weimarer Staates akzeptierte (S. 18). Dieser Konsens schloss, so Bergien, die (Mehrheits-) Sozialdemokratie ausdrücklich ein, und neben Gustav Noske spielt so der preußische und Reichsinnenminister Carl Severing eine entscheidende Rolle für seine Argumentation.

Mehr noch: Bergien zufolge beruhte dieser Konsens auf der weiten Verbreitung eines Denkstiles, den er, sich zu Recht von der inflationären Verwendung des Militarismus-Konzepts abgrenzend, als „Bellizismus“ bezeichnet. Damit wird ein Denken bezeichnet, das den Krieg als „gesamtgesellschaftliches“ Projekt ansah, die Sicherung der „Kriegsbereitschaft“ als zentral für die „Überlebensfähigkeit“ der Nation betrachtete und politische Legitimität mit „Sicherheit“ verknüpfte (S. 36). Diese sehr weit gehende Verknüpfung von doch eher disparaten Elementen – so eine erste Kritik – erlaubt es dem Verfasser, überzeugte Republikaner wie Joseph Wirth und Carl Severing als Vertreter eines „republikanischen Bellizismus“ zu bezeichnen (S. 37). Gewiss, Severing unterstützte die Stärkung der „Machtmittel“ des Staates als Vorsorge gegen mögliche „polnische Einfälle“, und befürwortete deshalb auch Maßnahmen der Geheimrüstung (S. 128). Eine solche auf die Sicherheit des Staates fokussierte Politik machte Severing aber noch nicht zu einem Befürworter des totalen Krieges als „Volkskrieg“ in einer Weise, wie es etwa Joachim von Stülpnagel in der Reichswehr vertrat (S. 25). Nur die diese Differenzen verschleifende und inflationäre Verwendung des Terminus „Bellizismus“, die auch zu unschönen Wortprägungen wie „Bellifizierung“ führt (S. 226), erlaubt es Bergien, ihn als Kernbegriff einzusetzen.

Die mit zahlreichen Querverweisen nicht immer einfach lesbare Studie ist in vier große Teile gegliedert. Der erste erläutert die gewählten Kernbegriffe und gibt einen ideengeschichtlichen Aufriss des Konzepts der „Landesverteidigung“. Der zweite analysiert in chronologischer Folge die „Entwicklungslinien der Wehrpolitik“ und die verschiedenen Etappen, die der Weimarer Wehrkonsens durchlief (S. 75–190). Eine zentrale Stelle für die Neuninterpretation der ersten, von 1918 bis 1920/22 reichenden Phase nehmen für Bergien die seit dem Herbst 1918 aufgebauten Einwohnerwehren ein. Er interpretiert sie nicht als „Instrumente der Besitzstandswahrung“, sondern vielmehr als „Ausdruck einer republikanischen Wehrpolitik“ (S. 92). Bergien macht viel aus wenigen Hinweisen darauf, dass ab Ende 1919 an einigen Orten in Thüringen und der Provinz Brandenburg, einem Aufruf der SPD-Spitze folgend, Arbeiter in die Wehren eintraten. Dies wird von Bergien dahingehend interpretiert, dass die im preußischen Innenministerium betriebenen Versuche, die Einwohnerwehren als zu einer „klassenübergreifenden Volkswehr“ auszubauen, „ernst gemeint“ und nicht gleich „zum Scheitern verurteilt“ waren (S. 391). Diese Deutung geht jedoch über das Faktum hinweg, dass gerade die reichsweite Steuerung der Wehren nie funktionieren konnte, da die parochialen Schutzinteressen vor allem der ländlichen Wehren jede über den Kirchturm hinausweisende Koordination ad absurdum führten. Ohnehin existierte, wie etwa das Oberpräsidium in Magdeburg im Dezember 1919 feststellte, „ein großer Teil“ der Einwohnerwehren „nur auf dem Papier“.1

Bereits 1920 erfolgte dann der Übergang zu einem „nationalistisch-etatistischen Bellizismus“, der in den im Juni 1923 zwischen Reichswehr und preußischer Regierung vereinbarten „Richtlinien über den Grenz- und Landesschutz“ seinen formalen Niederschlag fand (S. 127). Damit band sich der preußische Innenminister an den nun entstehenden Komplex der personellen Geheimrüstung, und die Landesverteidigung war fortan auch eine Sache der Zivilbehörden. In der politischen Krise seit 1930 nahm die Reichswehr dann „Abschied“ von einer „das republikanische Lager einbeziehenden ‚Wehrhaftmachung‘“ und setzte stattdessen auf eine systematische Heranziehung der personellen Ressourcen der SA, zumal nun bereits im Weltkrieg ausgebildete Kader nicht mehr zur Verfügung standen und deshalb auch die Wehrertüchtigung der Jugend intensiviert werden musste. Diese Bemühungen der Jahre 1932–1934, den rechtsradikalen Paramilitarismus zu verstaatlichen, werden im abschließenden vierten Teil geschildert (bes. S. 376–385).

Der ausführliche dritte Teil widmet sich der „Praxis der Wehrhaftmachung“ (S. 193–351). Ausgehend von einer Analyse der finanziellen und institutionellen Rahmenbedingungen und der Abschirmung der Geheimrüstung durch die Zivilbehörden zeigt Bergien in drei überaus dichten und äußerst instruktiven regionalen Fallstudien auf, wie sich die personelle Geheimrüstung im Kontext von ländlicher oder kleinstädtischer Lebenswelt, Mobilisierung des Stahlhelm und mit Unterstützung der Landräte vollzog. Dazu schildert er den Grenzschutz im hinterpommerschen Kreis Stolp, der sozial auf der Einbindung der Deputanten in die Gutswirtschaft basierte; den Landesschutz im brandenburgischen Kreis Prignitz, in dem der Jungstahlhelm den Kern der aktiven Wehrübungen trug; und den Feldjägerdienst im hessischen Kreis Kirchhain, der hier wie andernorts bis zur Kirchhainer Affäre des Jahres 1928, die nach Presseberichten zur Auflösung dieses Zweiges der Landesschutz-Organisation führte, als eine Art terroristische Guerilla für den Fall einer militärischen Besetzung des Reiches gedacht war.

Fazit: Mit diesem Buch legt Rüdiger Bergien eine empirisch dichte Analyse der personellen Geheimrüstung in Weimar vor, die mit dem Aufweis der zivil-militärischen Kooperation im Landesschutz einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der deutschen Militärgeschichte von 1918 bis 1933 leistet. Der Leitbegriff des „republikanischen Bellizismus“ scheint allerdings deutlich überzogen, zumal Bergien die Motive führender Sozialdemokraten nur in einem ideengeschichtlichen Exkurs, aber nicht in praxi am Beispiel der jeweiligen Rüstungskompromisse erläutert (S. 401–405). Ebenso überzogen ist die These, dass der Wehrkonsens nicht nur die Eliten, sondern auch „die politischen Lager“ inklusive der SPD zumindest bis 1929/30 einte (S. 187). Die Quellenlage zur SPD bleibt sehr fragmentarisch, ein in Paris-Vincennes befindliches und schwer situierbares Dokument aus dem Jahr 1932 trägt hier sehr viel Beweislast (S. 63). Bergien selbst weist für das Jahr 1923 darauf hin, dass Severing den „Erwartungen seines eigenen politischen Lagers“ zuwiderhandelte, wenn er die Landesverteidigung unterstützte, und widerspricht damit seiner eigenen These (S. 218).

Anmerkung:
1 Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001, S. 79.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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