Rezension über:

Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955 (= Bd. 6), München: Oldenbourg 2012, 872 S., 128 s/w-Abb., 8 Tabellen, ISBN 978-3-486-70592-8, EUR 49,80
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Rezension von:
Otto Wenzel
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Otto Wenzel: Rezension von: Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955, München: Oldenbourg 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/10/21039.html


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Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich

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Am 19. April 1945 wurde von den Sowjets auf Befehl Stalins der Sozialdemokrat und ehemalige Staatskanzler Karl Renner mit der Bildung einer provisorischen österreichischen Regierung beauftragt. Zuvor hatte der Sekretär der KPÖ, Johann Koplenig, sein Einvernehmen erklärt. Erst am 26. April wurden die Geschäftsträger der USA und Großbritanniens in Moskau davon unterrichtet. Die Westmächte befürchteten, dass die Sowjets wie in Bulgarien, Polen, Rumänien und Ungarn eine Marionettenregierung installieren könnten, zumal die Kontrolle über die Staatspolizei in kommunistischen Händen lag.

Erst am 20. Oktober 1945 wurde die österreichische Regierung von den Westalliierten anerkannt. Dass die Entwicklung in Wien anders verlief als in Ost-Berlin, lag auch daran, dass der sowjetische und der britische Sektor kein geschlossenes Gebiet umfassten, und an der Schaffung eines Internationalen Sektors, dem I. Bezirk, in dem die österreichische Regierung ihren Sitz hatte, was ihr einen Freiraum gegenüber jeder Besatzungsmacht verschaffte. Die Nationalratswahlen am 25. November 1945 marginalisierten die KPÖ, die nur 5,4 % der Stimmen und vier Mandate erhielt (ÖVP 85, SPÖ 76).

Die sowjetischen Truppen in Österreich bildeten die Zentrale Gruppe der Streitkräfte (CGV), deren Oberbefehlshaber einer der vier Militärkommissare des Alliierten Rats war, dem die Alliierte Kommission als Exekutivorgan unterstand. Der sowjetische Teil der Alliierten Kommission (STschSK) war für die Verwaltung der Besatzungszone und die Kontrolle über die Tätigkeit der österreichischen Behörden zuständig. Für jede Abteilung der Alliierten Kommission bestand ein Gegenstück innerhalb der STschSK, deren Leiter vom Sekretariat des ZK der KPdSU(B) ernannt wurde.

Ziel der sowjetischen Propaganda war die "Stärkung des sowjetischen Einflusses in Österreich". Die "feindliche Propaganda" hatte allerdings den Vorteil, dass das Staats- und Gesellschaftsmodell, das von den USA, England und Frankreich, der Regierung von SPÖ und ÖVP und der katholischen Kirche vertreten wurde, der Bevölkerung vertraut war (237, 240), was auch die Repräsentanten der UdSSR einräumen mussten.

Die Verschlechterung der Beziehungen der Sowjetunion zu den Westalliierten in den Jahren des Kalten Krieges spiegelte sich in ihren Publikationsorganen für die sowjetischen Besatzungstruppen und für die Bevölkerung ("Österreichische Zeitung") wider. Die österreichische Regierung war seit den Wahlen vom 25. November 1945 von der Kritik nicht ausgenommen. Die STschSK hatte die Aufgabe, "den demokratischen Organisationen in Fragen der demokratischen Entwicklung" die "erforderliche Unterstützung" zukommen zu lassen (263), womit ausschließlich die KPÖ und UdSSR-freundliche Organisationen gemeint waren.

Das sowjetische "Wirtschaftsimperium" bestand aus der sowjetische Mineralölverwaltung (SMV) und dem Sowjetischen Vermögen in Österreich (USIA), Einrichtungen, die als vormals "deutsches Eigentum" betrachtet wurden. Das waren bis 1955 insgesamt 263 Betriebe, die in acht spartenspezifischen Aktiengesellschaften zusammengefasst waren, 3000 Wirtschafts- und Wohngebäude sowie die Sowjetische Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft (DDSG). 1955 betrug die Zahl der Beschäftigten 45000. Davon waren 19000 KPÖ-Mitglieder, weswegen "die sowjetischen Betriebe eine wichtige Stütze für die Tätigkeit der demokratischen Kräfte Österreichs" darstellten, wie in Moskau selbstzufrieden festgestellt wurde (281). Mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrags vom 15. Mai 1955 wurde das Wirtschaftsimperium durch einen überhöhten Preis abgelöst.

Der zweite Teil des Buches beschreibt die sowjetische Lebenswelt in Österreich. Der weit höhere Lebensstandard der Österreicher löste bei den Besatzungssoldaten Zweifel an der Überlegenheit des sowjetischen Systems aus. Die Politorgane standen bis zum letzten Tag vor unlösbaren Aufgaben, auf die sie mit Disziplinarstrafen und einer Intensivierung der marxistisch-leninistischen Schulung reagierten. Als Beispiele für die Strafverfolgung von Spionage, Desertion und anderen Verbrechen zitiert Stelzl-Marx Gnadengesuche von zum Tode Verurteilten an das Präsidium des Obersten Sowjets. Die Klassengesellschaft der Roten Armee war bei der Differenzierung zwischen Mannschaftsdienstgraden, Offizieren und Generalen beim Transport von Beutegut in die Sowjetunion sichtbar.

Die Vergewaltigungen während der Eroberung von Ostösterreich bewegten sich in der Größenordnung dieser Ausschreitungen im Osten Deutschlands. Stelzl-Marx zitiert Äußerungen Stalins in Interviews 1945, in denen er sie bagatellisierte. Dieses Thema unterlag in der Sowjetunion in der Nachkriegszeit einem Tabu. Die Trias Vergewaltigungen, Liebesbeziehungen, Besatzungskinder nimmt einen breiten Raum ein. Im Abschnitt "Als Russenkind war ich das Letzte" werden die erschütternden Erinnerungen dieser unschuldigen Kinder zitiert, denen ein normales Leben versagt war und die immer wieder Demütigungen erfuhren. Manche Österreicherinnen nahmen die Wahrheit über die Herkunft ihres Kindes mit ins Grab. Ausführlich beschreibt Stelzl-Marx die Trunksucht der sowjetischen Soldaten, die vielfach zu Vergiftungen führte, wenn Methylalkohol getrunken wurde, wobei das NKWD untersuchte, ob es sich um Sabotage von "Faschisten" handelte.

Der Alltag der sowjetischen Soldaten in Österreich war streng reglementiert, vom Aufstehen um 6.30 Uhr bis zur Nachtruhe ab 23.00 Uhr. Zwischen den Mahlzeiten lagen Morgensport, Politinformation, zwei Gefechtsübungen, Waffenreinigung, "politische Massenarbeit" und Vorbereitung auf die Übungen des nächsten Tages. Die Soldaten sollten möglichst wenig Zeit für "sinnloses und unnötiges Herumschlendern" haben. Ihre Freizeit, 40 Minuten, verbrachten sie in der Bibliothek oder im Klub. Für die Offiziere war Deutschunterricht obligatorisch.

Zur Freizeitgestaltung der Besatzungsangehörigen gehörten Jagd und Fischerei, sportliche Aktivitäten, Ausflüge und kulturelle Betreuung. In der sportlichen Ertüchtigung sah der Militärrat der CGV eine Form der politischen und militärischen Ausbildung. Alle sowjetischen Soldaten wurden aufgefordert, "Träger des Abzeichens GTO" ("Bereit zur Arbeit und Verteidigung") zu werden. Die besten Sportler wurden über Wand- und Armeezeitungen der CGV "popularisiert". Sowjetischen Musikveranstaltungen mit Ensembles aus der Heimat wurde besondere Bedeutung beigemessen. Das Gesangs- und Tanzensemble der CGV veranstaltete Konzerte für die österreichische Bevölkerung und die sowjetischen Besatzungsangehörigen. Das "Haus der Offiziere" in der Wiener Hofburg offerierte ein reges Kulturprogramm. Für die Soldaten und Unteroffiziere wurden "Leninzimmer" eingerichtet, in denen sie die Möglichkeit erhielten, ihr Wissen in der Freizeit zu vervollständigen.

Besonders informativ sind im dritten Teil des Buches mündliche und schriftliche Erinnerungen ehemaliger Besatzungsangehöriger, darunter Auszüge aus den erst 2005 veröffentlichten Erinnerungen des Lyrikers Boris Sluzki, der eine Reihe von Themen ansprach, die in der Sowjetunion tabuisiert waren.

Stelzl-Marx zieht zum Schluss ein überzeugendes Resümee aus ihren hier vorgelegten Forschungsergebnissen, denen man auch in Deutschland viel Beachtung wünscht. Die an mehreren Stellen auftretende Verwechslung des Stellvertreters des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Andrei Wyschinski, mit dem Marschall Kliment Woroschilow will der Rezensent dem Lektorat anlasten. Die Aufnahme eines Sachregisters neben dem Orts- und Personenregister erleichtert die Arbeit mit diesem Buch.

Otto Wenzel