A. Wegner: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste

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Titel
Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag, hrsg. v. Andreas Meier


Autor(en)
Wegner, Armin T.
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
215 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Christian Werkmeister, Imre Kertész Kolleg, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Mehr als neunzig Jahre nachdem Armin T. Wegner seine Lichtbildvorträge über die Verbrechen an den Armeniern im Ersten Weltkrieg gehalten hat, ist eine kommentierte Ausgabe seiner Ausführungen erschienen. Der vom Wuppertaler Germanisten Andreas Meier herausgegebene Band enthält nicht nur die letzte Fassung des von 1919 bis 1924 von Wegner gehaltenen Vortrages, sondern auch ein Kapitel mit den Alternativfassungen des Textes. Außerdem gibt es neben einem ausführlichen Stichwortregister ein Verzeichnis der einzelnen Bilder und deren Entstehungsgeschichten. Abgerundet wird das Buch durch ein Essay des Hamburger Publizisten Wolfgang Gust.

Armin Theophil Wegner (1886–1978), der 1915 als Sanitäter am deutschen Orientfeldzug in der Türkei teilnahm, verfügte über große Reisefreiheit im osmanischen Staatsgebiet, wodurch er Aufzeichnungen und vor allem Fotografien zum türkischen Vorgehen in Armenien anfertigen konnte. Sein Vortrag "Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste", der von Meier für den Band um den Großteil der sorgfältig recherchierten Abbildungen ergänzt wurde, beginnt zwar mit einer allgemeinen Einführung zur armenischen Kultur, Landschaft und Religion, entwickelt sich aber rasch zu einer Anklage der jungtürkischen Verbrechen. Als Mittel zur Vertiefung bisheriger Erkenntnisse zu den Verbrechen von 1915/1916 dienen die Darstellungen selbstverständlich nicht, da Wegner auf die frei verfügbaren zeitgenössischen Dokumente zugriff. Eine direkte Mitschuld Deutschlands am jungtürkischen Vorgehen verneinte er und zog vielmehr Analogien zwischen deutschem und armenischem Schicksal (S. 89).

Der Vortrag dient vor allem als Quelle der zeitgenössischen Debatte und dokumentiert, wie tiefschürfend die Diskussion nach Kriegsende war. Die öffentliche Auseinandersetzung beschäftigte sich mit zwei exponierten Aspekten der Verbrechen. Zuerst ging es um die Frage der deutschen Mitschuld an den nach dem Ende der Kriegszensur auch in Deutschland verstärkt bekannt gewordenen Verbrechen. Hierzu hat nicht zuletzt der Theologe Johannes Lepsius mit seiner bereits 1919 erschienenen und sogleich umstrittenen Aktenedition ausgewählter Dokumente des Auswärtigen Amtes beigetragen.1 Ein zweiter Höhepunkt der kritischen Aufmerksamkeit wurde erreicht, als der Armenier Soghomon Tehlirian 1921 vom Berliner Landgericht freigesprochen wurde, obwohl er nachweislich den ehemaligen osmanischen Innenminister Talat Pascha auf der Hardenbergstraße erschossen hatte. Bei erwähntem Strafprozess ist Wegner bereits als Zeuge geladen gewesen, anschließend veröffentlichte er die Prozessakten und versah diese mit einem Vorwort.2 Das von Wegner gewählte Medium des Lichtbildvortrages verstärkte mittels expliziter Gewaltdarstellungen die beabsichtigte Wirkung auf die Zuschauer: Aufnahmen von Leichen, Waisen und verlassenen Orten gingen mit Wegners emotionalen und detaillierten Schilderungen ausufernder Gewaltanwendung einher.

Der Vortragstext zeugt von einem hohen Grad der Politisierung, die über das Interesse für das armenische Schicksal hinausgeht: So warnte Wegner vor Militarismus und Antisemitismus, da auch Deutschland im Krieg "finstere Taten auf sich geladen" (S. 88) hatte. Darüber hinaus weigerte er sich, das türkische Volk pauschal anzuklagen. Vielmehr betonte er, dass einzelne "Einwohner mohammedanischen Glaubens" (S. 56) den Armeniern sogar zur Seite standen. Diese Differenzierung gilt jedoch nur für Türken: Die kurdische Bevölkerung bezeichnete Wegner hingegen generalisierend als "roh und ungebildet" (S. 60) und Araber als "schmutzig" (S. 80). Die Hinweise auf alternative Passagen, Ergänzungen oder Auslassungen sind in diesem Zusammenhang sehr interessant: Das Besondere an der im Band abgedruckten Wiener Fassung von 1924 sei laut Meier, dass "chauvinistische Vorurteile getilgt" (S. 95) wurden. Der Provenienz und der weiteren Verwendung der in Wegners Vortrag dokumentierten Bildaufnahmen widmet der Band ein eigenes Kapitel. In diesem Zusammenhang wird auch die Intensität der Debatte um die Verwendung nicht authentischer Bilder bei der erstmaligen Präsentation des Vortrages 1919 greifbar, in dessen Folge es im wissenschaftlichen Theater der Berliner Uraniagesellschaft zu einer emotionalen Auseinandersetzung kam.

Das Nachwort von Andreas Meier betont das besondere Spannungsfeld, in dem Armin Wegner sich bewegte und stellt dessen armenophile Motive pointiert in Frage. So bezeichnet er dessen Engagement "im Kontext des Vortrags [als] propagandistische [...] Phase für die armenische Sache" (S. 168). Seine Fähigkeit armenische Interessen zu vertreten und trotzdem den Austausch mit der deutsch-muslimischen Gesellschaft zu pflegen unterscheidet Wegner, so Meier, von Akteuren wie Johannes Lepsius oder Martin Niepage.

Als wichtigstes Element in Wegners Berichten macht Meier die "schleichende Literarisierung" (S. 173) der eigenen und allgemeinen Armenienerfahrung aus. Hierzu war Wegner der Rückgriff auf das Medium Bild eine willkommene Verstärkung, auch wenn der "journalistische Bericht in die realitätsgesättigte literarische Fiktion kippt" (S. 174). Die von Meier ausgemachte Spannung zwischen der Fiktionalisierung des Erlebten und dem Anspruch, das historisch Erlebte weitestgehend korrekt weiterzugeben, muss daher auch kein Widerspruch sein, zumindest wenn Wegner vorrangig als Zeitzeuge begriffen wird.

Am Nachwort ist überraschend, dass längere italienische Passagen nicht übersetzt und englische Zitate mitunter unglücklich eingefügt werden. Ein Beispiel: "Die zumindest indirekte Verstrickung des deutschen Heeres in die Massaker wurde hingegen in der amerikanischen Presse früh und kritisch vermerkt: 'Sees German Officers everywhere in Turkey', nämlich zum Beispiel im Straßenbau und überall dort, wo die Dinge 'must not go wrong'." (S. 166)

Schwerer wiegt indes, dass eine Kontextualisierung der Begriffe Genozid und Völkermord, die sowohl von Meier als auch von Wolfgang Gust wechselseitig verwendet werden, grundsätzlich nicht erfolgt. Es wäre begrüßenswert gewesen, auf die besondere Problematik der Bedeutung des Genozidbegriffs für den Fall Armenien hinzuweisen, auf die politische Debatte diesbezüglich einzugehen oder zumindest zu verdeutlichen, welche Funktion die Begriffe in diesem Zusammenhang besitzen. Selbstverständlich ist es nicht möglich, die weiterhin andauernde Debatte um die Bewertung der Verbrechen als Völkermord in einem vorrangig als Quellenedition konzipierten Band vollständig abzubilden. Andererseits hätte ein Verweis auf wichtige Veröffentlichungen und die Einordnung in diesem Kontext eine differenziertere Sichtweise der komplexen Thematik erleichtert.3

Wolfgang Gusts Essay hat die schwierige Aufgabe, dem Leser auf wenigen Seiten einen Überblick der jungtürkischen Verbrechen zu vermitteln. Sein Hauptanliegen ist die Schilderung sich kontinuierlich steigernder Gewaltanwendung gegen die armenische Bevölkerung: "Was Armin T. Wegner in der 'Urania' berichtete und mit Photos demonstrierte, war grausam, doch die Wirklichkeit war oft noch grausamer." (S. 195)

Es ist trotzdem überraschend, dass sein Essay mit einer bildhaften Quelle zur Darstellung brutaler Foltermethoden, die wenig zum strukturellen Verständnis, wohl aber zur allgemeinen Emotionalisierung beitragen, beginnt. Eine Gefahr dieses Ansatzes liegt darin, die so zahlreich vorhandenen Quellen für sich selbst sprechen zu lassen, ohne sie einer erforderlichen Kontextualisierung zu unterziehen. So fügt Gust einen zwei Seiten umfassenden, empörten Augenzeugenbericht ein, lässt ihn dann aber unkommentiert stehen (S. 201–203). Das zweite Problem liegt in der Verlockung, in die Sprache seiner Quellen zu verfallen. So schreibt Gust unter anderem von der "mörderische[n] Hauptroute" (S. 200), der "Vernichtungsmaschinerie" (S. 204) sowie dem "archaische[n] Hass vieler Türken auf die Armenier" (S. 207), was seinen Ausführungen unfreiwillig die analytische Präzision nimmt. Dies ist sehr schade, da Gust hätte untersuchen können, wie und weshalb sich Wegners Vortrag im Laufe der Zeit veränderte – eine hochrelevante Frage, die Rückschlüsse auf die öffentliche Wahrnehmung der Ausführungen erlaubt.

Auch die schlüssig verneinte Frage nach armenischer Mitschuld an den Verbrechen gegen sie (S. 206f.) tritt dadurch in den Hintergrund. Die von Gust konsultierten Belege aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts zeugen jedoch eher von der Vehemenz seines Anliegens, der "Hartnäckigkeit der Genozidleugnung" (S. 207) eine entschlossene Argumentation entgegenzusetzen, als nach der zeitgenössischen öffentlichen Debatte und dem Bewusstsein um das armenische Schicksal zu fragen.

Literarische Zeugnisse, und hierzu zählen die Lichtbildvorträge Armin Wegners zweifelsfrei, haben einen unschätzbaren Beitrag zur Bekanntmachung der Verbrechen an den Armeniern geleistet.4 Als ernsthafte Quelle in der gegenwärtigen Debatte über das Ausmaß der Verbrechen und deren Einordnung in die großen Gesellschaftsverbrechen des 20. Jahrhunderts sind sie allerdings ungeeignet. Jedoch erweitert der Band das Wissen um den deutschen Armeniendiskurs der Zwischenkriegszeit um eine weitere Perspektive.

Anmerkungen:
1 S. Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien 1914–1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Potsdam 1919.
2 Die Prozessakten sind in einer Neuauflage verfügbar, s. Tesa Homann (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozess Talaat Pascha, 3. Auflage, Göttingen 1985.
3 Als Beispiele hierfür seien erwähnt: Richard G. Hovannisian (Hrsg.), Looking Backward, Moving Forward. Confronting the Armenian Genocide, New Brunswick 2003; Ronald Grigory Suny / Fatma Müge Göçek / Norman M. Naimark (Hrsg.), A Question of Genocide. Armenians and Turks at the End of the Ottoman Empire, Oxford 2011.
4 S. beispielsweise Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, Berlin 1953.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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