Eine „eigentümliche Abwesenheit des Krieges in der Geographie“
konstatieren die beiden Herausgeber als Ausgangspunkt und Motivation
des Sammelbandes. In nachvollziehbarer Weise argumentieren sie in
ihrem Einleitungsbeitrag, dass in der geographischen Forschung eine
„gewisse Zurückhaltung“ in der Erforschung der Phänomene Krieg und
Gewalt festzustellen sei, die sie zurückführen auf eine Distanzierung
von der „unguten Vergangenheit“ der Disziplin mit der vielfachen
Beteiligung geographischen Wissens an der Legitimation und Praxis von
Krieg und Gewalt.
Gleichzeitig gelte diese Zurückhaltung aber nicht nur für die
Geographie: Korf und Schetter beobachten für die Sozial- und
Geisteswissenschaften insgesamt eine Tendenz, Kriege und physische
Gewalt als Probleme entfernter Orte und vergangener Zeiten
wahrzunehmen und in der Konsequenz als „Randphänomene“. Entgegen
dieser Tendenz schlagen sie in überzeugender Weise vor, eine
geographische Perspektive auf Gewalt und Kriege zu entwickeln, die
Gewalt (und Kriege) nicht als „Gegenteil von sozialer Ordnung“ fasst,
sondern akzeptiert, dass Gewalt und soziale Ordnung „notwendiger Weise
verknüpft“ sind und daher physische Gewalt auch in der Spätmoderne
nicht einfach überwunden wird. Vor diesem Hintergrund sollen
„Geographien der Gewalt“ danach fragen, welche räumlichen Ordnungen
von Gewalt und Krieg sowie durch Gewalt und Krieg hergestellt
werden. Das normative Ziel einer solchen Forschungsagenda benennen
Korf und Schetter mit der Umkehrung eines Zitats von Foucault: der
Frieden müsse „unter dem Krieg“ herausgelesen werden. Die Untersuchung
von „Geographien der Gewalt“ könne also „die Frage nach den
Möglichkeiten einer Geographie des Friedens“ stellen. Die elf Beiträge
im Sammelband verbindet die von den Herausgebern geforderte Hinwendung
zu Formen und Auswirkungen physischer Gewalt sowie ein Interesse für
die räumlichen Ordnungen von und durch Gewalt. Gleichzeitig sind die
Themen, Orte sowie die theoretisch-konzeptionellen und methodischen
Zugänge aber sehr heterogen, so dass die grundlegenden Überlegungen im
Einleitungs- und Schlussbeitrag zwar teilweise veranschaulicht werden,
aber nicht der Eindruck eines einheitlichen Forschungsfeldes entsteht,
welches von einer gemeinsamen Problemsicht und Herangehensweise
getragen wird.
Es lassen sich allerdings (in Anlehnung an die Herausgeber) vier
thematische Schwerpunkte abgrenzen: Zwei Beiträge diskutieren auf
konzeptionell anspruchsvollem Niveau und in anregender Weise die Frage
nach den räumlichen Konfigurationen, die in militärischen Praktiken
hergestellt werden bzw. die militärische Praktiken legitimieren. So
stellt Gregory dar, wie im Kontext neuer Militär-Technologien und
damit verknüpfter neuer sozio-technischer Praktiken der Kriegsführung
die Räumlichkeit von Kriegen entgrenzt wird. Anhand der Beispiele des
„Drohnenkrieges“ in Afghanistan / Pakistan, des zunehmend
militarisierten Grenzraums USA / Mexiko sowie militärischer Aktionen
im so genannten „cyberspace“ zeigt er, wie Grenzen zwischen „hier“ und
„dort“ oder zwischen „zivil“ und „militärisch“ aufgehoben werden und
Kriege immer weniger lokalisierbar und damit „allgegenwärtig“
werden. Prinz und Schetter arbeiten heraus, wie die Metapher
„unregierter Räume“ genutzt wird, um das Prinzip territorial
souveräner Nationalstaaten punktuell aufzuheben und „chirurgische
Militäreinsätze“ zu legitimieren, die mit der Sicherheit des (eigenen)
Nationalstaates begründet werden.
Die Beiträge von Korf, Oßenbrügge und Rettberg schließen an ein fast
schon als traditionell zu bezeichnendes Forschungsfeld der Geographie
an: die Frage nach dem Zusammenhang zwischen natürlichen Ressourcen
und Gewalt. Gemeinsam ist den drei Beiträgen, dass sie einerseits
warnen vor den Vereinfachungen (geo-)deterministischer Ansätze, wie
sie vielfach den Reden über „Klimakriege“ oder einem „Ressourcenfluch“
zu Grunde liegen, aber andererseits – wie Oßenbrügge anmahnt – das
Potenzial der Geographie nicht darauf beschränkt sehen möchten, als
„Exorzist gegen den vermeintlichen oder tatsächlichen
Geodeterminismus“ zu Felde zu ziehen. So zeigt Simone Rettberg anhand
einer Studie über Landkonflikte im Nordosten Äthiopiens, dass diese
weniger als Konflikte um knappe natürliche Ressourcen, sondern
vielmehr als Versuche der gegenseitigen territorialen Exklusion von
Gruppen interpretiert werden müssen, die zunehmend von
ethno-nationalistischen Differenzen geprägt werden. Benedikt Korf will
mit dem Begriff der „frontier“ auf „umkämpfte Räume an den globalen
Peripherien“ verweisen, wo die Aneigungsstrukturen (von Land und
anderen natürlichen Ressourcen) nicht geregelt sind. Die Fokussierung
auf Fragen der „Verregelung“ ist überzeugend – etwas unglücklich ist
allerdings der Begriff der „frontier“. Diese Begriffswahl mit ihrer
semantischen Nähe zum „spirit of the frontier“ (dem Voranrücken der
Landnahme nach Westen durch die Siedler in Nordamerika) legt nahe,
dass „frontiers“, d. h. Grenzräume existieren, welche räumlich am
Rande von Zonen einer sich noch(!) nicht ausreichend weit ausgedehnten
(staatlichen) Ordnung liegen. Wie Benedikt Korf anhand von drei
Fallstudien allerdings überzeugend zeigt, wird die Vorstellung
„unverregelter“ Räume aber an ganz verschiedenen Orten aktiv
hergestellt, was auf diese Weise gewaltsame Neu-Verregelungsversuche
legitimiert. Jürgen Oßenbrüge prüft systematisch die Stichhaltigkeit
von Ansätzen, welche einen konfliktfördernden Effekt eines
Ressourcenüberschusses (sogenannter Ressourcenfluch) bzw. eines
Ressourcenmangels behaupten, anhand von Beispielen im subsaharischen
Afrika. Für den zweiten Fall lehnt er „kausale Begründungen“ ab – die
konfliktverursachenden Effekte von Ressourcenverknappung seien
allenfalls als sehr vermittelt anzusehen. Anders beurteilt er den
Ansatz des „Ressourcenkonflikts“: Obwohl er auch hier auf die
Bedeutung historisch gewachsener polit-ökonomischer Strukturen
verweist, wählt er Formulierungen, die eng an deterministische
Argumentationsmuster heranrücken: So zeigten die Konflikte im Kongo,
dass „Ressourcenvielfalt kleptokratische Regime befördert“ und
„Ressourcenlagerstätten sezessionistische Bestrebungen
befördern“. Selbst wenn man im Kontext eines „material turn“ (auf den
sich Oßenbrügge nicht explizit bezieht) die Rolle von Materialität und
Technik für die Realisierung von Handlungsvollzügen herausarbeiten
möchte, laufen solche pauschalen Formulierungen Gefahr, den Blick auf
die letztlich immer gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen von
Gewalt zu verstellen: Edelmetalle und Kohlenwasserstoffe (alleine)
handeln nicht und befördern nichts.
Eine dritte Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit dem
„Geographiemachen in gewaltoffenen Räumen“. Dabei bleibt der Beitrag
des Politikwissenschaftlers Klaus Schlichte auf einer vergleichenden
und recht abstrakten Makro-Ebene. Er diskutiert die Mechanismen,
welche die Entstehung von bewaffneten Gruppen in afrikanischen
Bürgerkriegen anleiten. Die Beiträge der beiden Geographen Keck und
Doevenspeck zeigen auf der Basis qualitativer Feldforschung, dass auch
in Bürgerkriegssituationen vielfach das alltägliche Leben „weiter
geht“. Keck diskutiert auf der Basis von Feldforschung in Nepal, wie
Bewohner/innen in vom Bürgerkrieg betroffenen Regionen (eher
kurzfristig angelegte) Taktiken und (eher langfristige) Strategien
praktizierten, um in ihrem Alltag Sicherheit herzustellen. Martin
Doevenspeck untersucht, wie eine Rebellengruppe im Bürgerkrieg im
Osten des Kongo eine „Enklave der Sicherheit“ produziert hat. Auf der
Basis dieser empirischen Beobachtung betont er die Relevanz des
Konzepts „Territorium“ für die Politische Geographie und stellt sich
damit explizit gegen eine lange Zeit dominierende Argumentation in der
wissenschaftlichen Debatte in der Geographie (in gewissem Maße auch
der beiden Herausgeber des Sammelbandes), welche eher auf einen
Bedeutungsverlust von Territorialität und einen Bedeutungsgewinn
anderer räumlicher Konfigurationen abgehoben hat.
Der Beitrag von Choinacki, Ickler und Branovic nähert sich dem Thema
„Gewalt und Raum“ als einziger im Sammelband über eine quantitative
Studie auf Basis der Datenbank „Event Data on Armed Conflict and
Security” (EDACS) und sei daher etwas ausführlicher dargestellt: Die
EDACS-Datenbank basiert auf einer Auswertung von
Medienberichterstattung und differenziert unterschiedliche Formen von
Gewalt. Indem die Datenbank geographische Namen mit Koordinaten
verbindet, werden die Gewaltereignisse zudem lokalisiert. Grundidee
des Beitrages ist es, mithilfe von EDACS den „methodologischen
Nationalismus“ in der Forschung über Gewalt und Raum zu
überwinden. Tatsächlich können die drei Autoren zeitliche und räumlich
„hotspots“ der Gewalt innerhalb Somalias identifizieren. Allerdings
bleiben die Ergebnisse zumindest teilweise banal (bspw. Konzentration
der Gewaltereignisse auf die Hauptstadt, Infrastruktureinrichtungen
und Bevölkerungsschwerpunkte) und weisen Probleme auf, die
unweigerlich mit einem solchen quantitativen Vorgehen verbunden
sind. Es zeichnet den Beitrag allerdings aus, dass einige dieser
Probleme von den Autoren diskutiert werden (bspw. das Problem, dass
die Medien in ihrer Berichterstattung einen „urban bias“, d. h. eine
räumliche Schwerpunktsetzung produzieren). Vor dem Hintergrund des
Booms digitaler Geodaten wäre es wünschenswert, wenn in der Geographie
der Austausch zwischen (kritischer) Sozialgeographie und digitaler
Geoinformation gesucht würde, um die Möglichkeiten, Grenzen und
Fallstricke einer Nutzung solch neuer Geodaten für
sozialwissenschaftliche Zwecke offensiver zu eruieren. Die Beiträge
von Mousa und Zirkl belegen, dass physische Gewalt nicht nur in
(Bürger-) Kriegssituationen alltäglich ist. Zirkl beschreibt, wie in
Rio de Janeiro zwischen Räumen, die von staatlichen
Sicherheitskräften, und Räumen, die von Drogenkartellen kontrolliert
werden, differenziert wird. Dabei konzentrieren sich unterschiedliche
und sich überlagernde Konflikte zwischen staatlichen
Sicherheitskräften, konkurrierenden Kartellen und (illegalen) privaten
Milizen v. a. in der „informellen Stadt“, den favelas. Mousa
diskutiert anhand einer detaillierten Rekonstruktion der Zerstörung
eines palästinensischen Flüchtlingslagers in Kämpfen zwischen einer
islamistischen Miliz und der libanesischen Armee, wie der Sonderstatus
des Flüchtlingslagers ermöglichte, dass die Armee weitgehend ohne
Rücksicht auf die zivilen Bewohner/innen des Lagers vorging.
In einer kritischen Auseinandersetzung mit der von Agamben
angestoßenen Debatte um Lager als „räumlicher Ausdruck des
Ausnahmezustands“ zeigt sie einerseits die Grenzen einer
„formelhaften“ Übertragung der Debatte auf konkrete empirische
Situationen auf. Andererseits sensibilisieren die Überlegungen zum
Ausnahmezustand und zur Rolle von Lagern aber für die subtile und die
weniger subtile Gewalt, die im Kontext einer Normalisierung des
Ausnahmezustandes im Lager von den Bewohner/innen erfahren wird.
Insgesamt ist der Sammelband ein erfreulicher und wertvoller Beitrag
zu der zunehmend breiten und lebhaften Debatte innerhalb der
deutschsprachigen Politischen Geographie. Mit der Frage nach der Rolle
physischer Gewalt in der Konstitution räumlicher Ordnungen benennt der
Sammelband in überzeugender Weise einen (weitgehend) blinden Fleck von
Empirie und theoretischer Konzeption innerhalb dieser
Debatte. Angesichts der enormen Heterogenität der theoretischen Bezüge
im Sammelband stellt sich allerdings die Frage, ob „Geographien der
Gewalt“ einen eigenen Forschungszusammenhang benennen oder nicht eher
eine bislang vernachlässigte Dimension Politischer Geographie, die mit
sehr unterschiedlichen theoretischen Brillen und empirischen Zugängen
erschlossen werden sollte – so wie es die lesenswerten Beiträge in dem
Sammelband tun.
Der tadellos lektorierte und sinnvoll illustrierte Sammelband ist
daher weniger als Lehr- oder Studienbuch zu interpretieren (auch wenn
die kurzen Einleitungen der einzelnen Beiträge durch die beiden
Herausgeber die Lektüre für Studierende sinnvoll erleichtern), sondern
eher als anregender „Weckruf “, der Dimension der physischen Gewalt in
Studien der Politischen Geographie empirisch und konzeptionell mehr
Aufmerksamkeit zu widmen.
Prof. Dr. Georg Glasze, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Geographie, Erlangen
Geographische Zeitschrift Heft 2/2019