Benedikt Korf; Conrad Schetter: Geographien der Gewalt Kriege, Konflikte und die Ordnung des Raumes im 21. Jahrhundert

Benedikt Korf; Conrad Schetter:

Geographien der Gewalt

Kriege, Konflikte und die Ordnung des Raumes im 21. Jahrhundert

[Geographies of terror. Wars, conflicts and the reorganization of national borders in the 21st Century]

2015. 246 Seiten, 23 Abbildungen, 5 Tabellen, 14x21cm, 420 g
Language: Deutsch

(Studienbücher der Geographie)

ISBN 978-3-443-07152-3, brosch., price: 29.90 €

in stock and ready to ship

Order form

BibTeX file

Keywords

TerrorismusBürgerkriegeKonflikträumeKrise

Contents

Inhaltsbeschreibung top ↑

Bürgerkriege, Terrorismus und organisierte Kriminalität stellen das herrschende Ordnungsparadigma der Nationalstaaten in vielen Regionen der Erde zunehmend in Frage. Dies führt zu gegenläufigen Prozessen der Territorialisierung und Deterritorialisierung, die sich in “Geographien der Gewalt“ niederschlagen. Die Beiträge in diesem Band beschreiben unterschiedliche Ausprägungen und Formen organisierter Gewalt und ihre Einbettung in soziale, politische und räumliche (Um-)Ordnungsprozesse. Divergierende Konflikttypen und die damit verbundene Strukturdynamik der Gewalt werden anhand von Beispielen aus Afghanistan, Pakistan, Äthiopien, Somalia, Nepal, Sri Lanka, Brasilien, dem Kongo und dem Libanon erläutert. Zudem wird die Rolle globaler Schaltstellen der Macht in virtuellen Konflikträumen analysiert.
Dieser Band richtet sich an Studierende, Lehrende und Forschende der Geographie, der Politik- und Sozialwissenschaften und der Ethnologie, wendet sich aber auch an Schlüsselpersonen in Politik und Gesellschaft, die sich mit den räumlichen Ausprägungen von Gewalt beschäftigen.

Bespr.: Welt Trends Nr. 113, März 2016 top ↑

Seit Ende des Kalten Krieges haben heiße Kriege – insbesondere solche innerstaatlicher Natur – aber auch Terrorismus und organisierte Kriminalität erheblich zugenommen. Mit Drohnenkrieg und Cyberwar sind neue Gewalträume entstanden. Der Analyse der geografischen Dimension des Krieges und anderer Formen der Gewaltanwendung widmet sich der Sammelband.
In elf Beiträgen untersuchen die Autoren anhand vieler Länderbeispiele die räumliche Dimension von gewaltsamen Konflikten (z.B. Äthiopien), Bürgerkriegen (z.B. Somalia, Nepal, Kongo) und organisierten Gangstrukturen (Brasilien). Im Unterschied zu militärgeographischen Ansätzen ist es Ziel des Bandes, verschiedene Facetten der wissenschaftlichen Erforschung von Gewalträumen zusammenzubringen und so einen Beitrag zur Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschung zu leisten.
Die einzelnen Arbeiten lassen sich im Wesentlichen vier Forschungsbereichen zuordnen. Erstens geht es um Technologien, mit denen Schlachtfelder "produziert" werden, wie der Einsatz von Drohnen als Mittel der chirurgischen Kriegsführung auf Distanz. Das Konzept der „unregierten Räume“ dient dabei insbesondere den USA zur Legitimierung solcher Interventionen. Ausgehend von der Politischen Ökologie wird zweitens die Frage der Gewalt im Zusammenhang mit der Nutzung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie auch Ressourcenknappheit (Wasser, Weideland) untersucht. Drittens werden Aktivitäten in gewaltoffenen Räumen beleuchtet, z.B. nichtstaatliche Akteure (Rebellengruppen) in afrikanischen Bürgerkriegen wie auch die Schaffung von Parastaatlichkeit in Regionen der Demokratischen Republik Kongo. Eine vierte Gruppe betrifft schließlich andere Orte mit Merkmalen gewaltoffener Räume wie brasilianische Favelas oder Flüchtlingslager im Libanon. Die angewandten Methoden reichen von Diskursanalysen über feldforschungsbasierte Ansätze bis hin zu quantitativen Analysen. Der Band trägt dazu bei, eine im deutschsprachigen Raum zu verzeichnende Lücke zu schließen. Obwohl Gewalt und Krieg als Problem wahrgenommen werden, hat die Geographie als Disziplin bisher relativ wenig zur Erklärung dieser Phänomene beigetragen. Es erscheint wichtig, diese Forschungen fortzuführen und zu erweitern.

Hubert Thielicke, Berlin

Welt Trends Nr. 113, März 2016

Bespr.: MILIEU - Abseits des Status Quo 15.03.2016 top ↑

Das Territorium als Streitpunkt internationaler Konflikte hat seine Ambivalenz: Im Zeitalter des Internets mögen Grenzen immer mehr an Bedeutung verlieren. Andererseits sind insbesondere die in einem Land vorhandenen Bodenschätze zunehmend ein Anlass kriegerischer Auseinandersetzungen (prägnantes Beispiel: Afrika).
Und das wochenlange zähe Ringen um die finalen Grenzziehungen nach dem jugoslawischen Bürgerkrieg zeigt auch, dass der geographische Raum noch immer eine Rolle im Gesamtthema Krieg und Frieden spielt.
Hier setzt der Sammelband von Korf und Schetter an. Militärische Gewalt war bis zum Zweiten Weltkrieg vom klassischen Muster der sogenannten “Alten Kriege” geprägt: Mehr oder weniger gleichstarke militärische topdogs ließen ihre Armeen in von Schlachten und Fronten geprägten Kriegen aufmarschieren. Die Zivilbevölkerung blieb von diesen militärischen Kämpfen weitgehend unberührt. Die Alten Kriege folgten einem klaren Abfolgemuster: Droh-Eskalation, gegenseitige Warnungen, Protest-Noten, Ultimaten, Mobilmachung, Kriegserklärung, Krieg, Waffenstillstand, Friedensvertrag.
Von dieser “einheitlichen” Kriegsführung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die “Neuen Kriege” seit 1950 weit entfernt: Wer jetzt Krieg führt sind meist keine Staaten mehr, die für Gewaltausübung, geschweige denn für ein Gewaltmonopol viel zu schwach sind, sondern Unabhängigkeitsbewegungen, War Lords, Drogenhändler, Söldner. Es wird auch kein klassischer Krieg mehr mit Schlachten und Fronten geführt. Der Neue Krieg ist durchweg ein Guerilla-Krieg; ein Gewalt-Scenario mit einem Mix von Verbrechen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Die Eroberung von Territorium wird abgelöst durch Zerstörung des Wohnraums des Gegners, ethnische Säuberungen und schließlich durch Genozid. Gewalt wird nicht mehr durchs Töten auf dem soldatischen Schlachtfeld ausgeübt, sondern durch Plünderungen, Schmuggel, Entführungen usw. Auch die traditionellen Waffen wie Panzer, Artillerie, Militärflugzeuge sind in den Neuen Kriegen kaum noch anzutreffen. An deren Stelle treten vor allem leichte Handfeuerwaffen und Landminen. Und auch die althergebrachte Kriegs-Chronologie ist obsolet geworden - es gibt weder Kriegs”erklärungen” noch “Friedens”schlüsse“ - der (“Neue”) Krieg ist immer da, mal weniger intensiv, dann wieder gewalttätiger. Und es gibt auch keine schlüssige Abgrenzung zwischen Soldaten und Zivilisten; die Zivilbevölkerung wird in hohem Maße Verfügungsmasse für die Kalkulationen gewalttätiger nicht-staatlicher Akteure.
Die in diesem Sammelband erschienenen Aufsätze bewegen sich in eben diesem Umfeld der Neuen Kriege. Entsprechend prägnant verweisen die verschiedenen Kapitelüberschriften mit Begriffen wie “Der allgegenwärtige Krieg”, “Staatszerfall”, “Gewaltkontrolle ohne Staat”, “Räumliche Fragmentierung” usw. auf die neue Kriegsrealität des 21. Jahrhunderts. Als Fallbespiele ziehen die Autoren afrikanische Bürgerkriege, Somalia, Libanon, Rio de Janeiro, Äthiopien und den Kongo heran.
In einem Kapitel geben die Autoren J.Prinz und C. Schetter sogar ein Ausblick auf die mögliche weitere räumliche Entgrenzung in der Zukunft der Kriegsführung im 21. Jahrhundert. Sie mag auf den ersten Blick futuristisch erscheinen, wird aber wahrscheinlich leider schon bald schlimme Realität. Der Titel dieses Aufsatzes gibt schon den Hinweis: “Unregierte Räume, “kill boxes” und Drohnenkriege: die Konstruktion neuer Gewalträume”. Die Autoren beschäftigen sich in diesem Text damit, wie über die Konstruktion bestimmter Räume die Legitimation einer trans-humanen Kriegsführung (vor allem mit Drohnen) erfolgt und wie die Schaffung zielorientierter wechselnder Gewalträume zum Merkmal gegenwärtiger und zukünftiger Kriegsführung wird. Dabei wird die klassische territorialbezogene Kriegsführung, mit dem Anspruch ein bestimmtes geographisches Gebiet beherrschen zu wollen zugunsten punktueller Vernichtungschläge (militärischer Slogan: “Fire and Forget!”) gegen einen anonymen Feind aufgegeben.
Wer sich über die verschiedenen Facetten der Neuen Kriege durch instruktive Beispiele informieren möchte, sollte dieses Buch heranziehen.

Dr. Burkhard Luber

MILIEU - Abseits des Status Quo 15.03.2016

Bespr.: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit 09.01.2016 top ↑

Bürgerkriege, Terrorismus und organisierte Kriminalität bedrohen zunehmend die staatliche Ordnung in vielen Ländern. In einem aktuellen Aufsatzband analysieren Wissenschaftler organisierte Gewalt an unterschiedlichen Orten – vom „Krieg gegen den Terror“ im Irak und Afghanistan bis hin zu Gewalt in Armenvierteln.
Herausgeber des Bandes „Geographien der Gewalt“ sind Conrad Schetter und Benedikt Korf. Schetter ist wissenschaftlicher Direktor des Internationalen Konversionszentrums Bonn (BICC) und E+Z/D+C-Autor. Korf lehrt an der Universität Zürich Politische Geographie, die den Zusammenhang zwischen Macht und Raum erforscht. Die Herausgeber führen mit zwei konträren Interpretationen von Gewalt in das Thema ein. Einige Wissenschaftler sähen Gewalt als einen „kollektiven Berauschungszustand“ und als „pure Raserei“; andere betrachteten diese als eine „rationale Art von Wahnsinn“.
Schetter und Korf schließen sich der zweiten Interpretation an: Gewalt sei für viele Kriegsherren eine einträgliche Methode, um Einnahmen zu erzielen, etwa durch den Verkauf von Rohstoffen, der Konfiszierung von Hilfsgütern oder durch erpresste Schutzgelder. Gewalt entstehe also nicht im Rausch, sondern aus rationalem Kalkül heraus. Das erklärt auch die lange Dauer bestimmter Konflikte und die Schwierigkeit, die Akteure zu einem Friedensprozess zu bewegen. Das Buch diskutiert komplexe Zusammenhänge, bietet aber verständlicherweise keine simplen Lösungen an.
Besonders seit dem 11. September 2001 hat sich laut Schetter und Korf eine neue Begründung für Interventionen des Westens herausgebildet, die davon ausgeht, dass es bestimmte Räume der Erde gibt, die eine Quelle der Bedrohung für die westliche Gesellschaft sind. Damit rechtfertige der Westen militärische Gewalt und eine Kriegsführung mit Luft- und Drohnenangriffen in Regionen wie dem Irak oder Afghanistan.
Der Politische Geograph Derek Gregory untersucht in seinem gleichnamigen Aufsatz den „allgegenwärtigen Krieg“. Damit meint er das Gefühl eines nicht enden wollenden Kriegszustands, etwa den US-amerikanischen „Krieg gegen den Terror“ oder die Konflikte an der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Beides seien „räumlich uneindeutige Gebiete“ ohne feste Grenzen.
An der US-mexikanischen Grenze bekämpfen die USA seit mehreren Jahren den Drogenschmuggel und die illegale Migration von Mexiko aus. Laut Gregory militarisierten die USA den Feldzug gegen Drogenhändler und Migranten immer weiter. Die US-Grenzpolizei arbeite seit Jahren mit dem Militär zusammen und baue eine Hightech-Grenzsicherung auf, wobei seit 2011 selbst Drohnen über Mexiko patrouillierten.
Daran anknüpfend beschäftigen sich der Philosoph Janosch Prinz und der Herausgeber des Buches, Conrad Schetter, damit, dass gewisse Staaten durch ihre technologische Überlegenheit in der Lage sind, ihre Ordnungsvorstellungen kriegerisch auf der ganzen Welt durchzusetzen. Dadurch erschufen sie neue „Gewalträume“. Als Legitimation für diese Einsätze dienten normativ formulierte politische Argumente wie die eigene Gefährdung durch sogenannte unregierte Räume, die Terroristen oder Mafianetzwerken als Rückzugsort dienten. Als Beispiele nennen die Autoren die Drohnenangriffe von US-Special Forces in Pakistan, im Jemen oder in Somalia.
Die Autoren stellen dabei eine Asymmetrie der Kriegsführung in diesen neuen Gewalträumen fest – also waffentechnisch und organisatorisch stark unterschiedliche Konfliktparteien. So werden zum Beispiel kaum kalkulierbare Anschläge von Aufständischen in Irak oder Afghanistan mit schweren Luftangriffen beantwortet, denen alle Bewohner schutzlos und ohne Vorwarnung ausgeliefert sind.
Wirtschaftsgeograph Frank Zirkl beschäftigt sich mit der Gewalt in brasilianischen Großstädten. Der Drogenhandel in den Favelas führe zu teils bürgerkriegsähnlichen Machtkämpfen zwischen Drogenbanden, der Polizei und illegalen Milizen. Viele Bewohner, so Zirkl, fühlten sich in ihrer Favela im Ausnahmezustand. Der Autor meint, dass eine „Rückeroberung“ dieser Viertel nicht nur ein Durchgreifen der Polizei erfordere. Vielmehr sei Good Governance notwendig, sprich eine Partizipation aller Beteiligter, um die Stadtentwicklung zu verbessern und den Drogenhandel einzudämmen.

Sabine Balk

E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit 09.01.2016

Bespr.: Geographische Zeitschrift Heft 2/2019 top ↑

Eine „eigentümliche Abwesenheit des Krieges in der Geographie“ konstatieren die beiden Herausgeber als Ausgangspunkt und Motivation des Sammelbandes. In nachvollziehbarer Weise argumentieren sie in ihrem Einleitungsbeitrag, dass in der geographischen Forschung eine „gewisse Zurückhaltung“ in der Erforschung der Phänomene Krieg und Gewalt festzustellen sei, die sie zurückführen auf eine Distanzierung von der „unguten Vergangenheit“ der Disziplin mit der vielfachen Beteiligung geographischen Wissens an der Legitimation und Praxis von Krieg und Gewalt.
Gleichzeitig gelte diese Zurückhaltung aber nicht nur für die Geographie: Korf und Schetter beobachten für die Sozial- und Geisteswissenschaften insgesamt eine Tendenz, Kriege und physische Gewalt als Probleme entfernter Orte und vergangener Zeiten wahrzunehmen und in der Konsequenz als „Randphänomene“. Entgegen dieser Tendenz schlagen sie in überzeugender Weise vor, eine geographische Perspektive auf Gewalt und Kriege zu entwickeln, die Gewalt (und Kriege) nicht als „Gegenteil von sozialer Ordnung“ fasst, sondern akzeptiert, dass Gewalt und soziale Ordnung „notwendiger Weise verknüpft“ sind und daher physische Gewalt auch in der Spätmoderne nicht einfach überwunden wird. Vor diesem Hintergrund sollen „Geographien der Gewalt“ danach fragen, welche räumlichen Ordnungen von Gewalt und Krieg sowie durch Gewalt und Krieg hergestellt werden. Das normative Ziel einer solchen Forschungsagenda benennen Korf und Schetter mit der Umkehrung eines Zitats von Foucault: der Frieden müsse „unter dem Krieg“ herausgelesen werden. Die Untersuchung von „Geographien der Gewalt“ könne also „die Frage nach den Möglichkeiten einer Geographie des Friedens“ stellen. Die elf Beiträge im Sammelband verbindet die von den Herausgebern geforderte Hinwendung zu Formen und Auswirkungen physischer Gewalt sowie ein Interesse für die räumlichen Ordnungen von und durch Gewalt. Gleichzeitig sind die Themen, Orte sowie die theoretisch-konzeptionellen und methodischen Zugänge aber sehr heterogen, so dass die grundlegenden Überlegungen im Einleitungs- und Schlussbeitrag zwar teilweise veranschaulicht werden, aber nicht der Eindruck eines einheitlichen Forschungsfeldes entsteht, welches von einer gemeinsamen Problemsicht und Herangehensweise getragen wird.
Es lassen sich allerdings (in Anlehnung an die Herausgeber) vier thematische Schwerpunkte abgrenzen: Zwei Beiträge diskutieren auf konzeptionell anspruchsvollem Niveau und in anregender Weise die Frage nach den räumlichen Konfigurationen, die in militärischen Praktiken hergestellt werden bzw. die militärische Praktiken legitimieren. So stellt Gregory dar, wie im Kontext neuer Militär-Technologien und damit verknüpfter neuer sozio-technischer Praktiken der Kriegsführung die Räumlichkeit von Kriegen entgrenzt wird. Anhand der Beispiele des „Drohnenkrieges“ in Afghanistan / Pakistan, des zunehmend militarisierten Grenzraums USA / Mexiko sowie militärischer Aktionen im so genannten „cyberspace“ zeigt er, wie Grenzen zwischen „hier“ und „dort“ oder zwischen „zivil“ und „militärisch“ aufgehoben werden und Kriege immer weniger lokalisierbar und damit „allgegenwärtig“ werden. Prinz und Schetter arbeiten heraus, wie die Metapher „unregierter Räume“ genutzt wird, um das Prinzip territorial souveräner Nationalstaaten punktuell aufzuheben und „chirurgische Militäreinsätze“ zu legitimieren, die mit der Sicherheit des (eigenen) Nationalstaates begründet werden.
Die Beiträge von Korf, Oßenbrügge und Rettberg schließen an ein fast schon als traditionell zu bezeichnendes Forschungsfeld der Geographie an: die Frage nach dem Zusammenhang zwischen natürlichen Ressourcen und Gewalt. Gemeinsam ist den drei Beiträgen, dass sie einerseits warnen vor den Vereinfachungen (geo-)deterministischer Ansätze, wie sie vielfach den Reden über „Klimakriege“ oder einem „Ressourcenfluch“ zu Grunde liegen, aber andererseits – wie Oßenbrügge anmahnt – das Potenzial der Geographie nicht darauf beschränkt sehen möchten, als „Exorzist gegen den vermeintlichen oder tatsächlichen Geodeterminismus“ zu Felde zu ziehen. So zeigt Simone Rettberg anhand einer Studie über Landkonflikte im Nordosten Äthiopiens, dass diese weniger als Konflikte um knappe natürliche Ressourcen, sondern vielmehr als Versuche der gegenseitigen territorialen Exklusion von Gruppen interpretiert werden müssen, die zunehmend von ethno-nationalistischen Differenzen geprägt werden. Benedikt Korf will mit dem Begriff der „frontier“ auf „umkämpfte Räume an den globalen Peripherien“ verweisen, wo die Aneigungsstrukturen (von Land und anderen natürlichen Ressourcen) nicht geregelt sind. Die Fokussierung auf Fragen der „Verregelung“ ist überzeugend – etwas unglücklich ist allerdings der Begriff der „frontier“. Diese Begriffswahl mit ihrer semantischen Nähe zum „spirit of the frontier“ (dem Voranrücken der Landnahme nach Westen durch die Siedler in Nordamerika) legt nahe, dass „frontiers“, d. h. Grenzräume existieren, welche räumlich am Rande von Zonen einer sich noch(!) nicht ausreichend weit ausgedehnten (staatlichen) Ordnung liegen. Wie Benedikt Korf anhand von drei Fallstudien allerdings überzeugend zeigt, wird die Vorstellung „unverregelter“ Räume aber an ganz verschiedenen Orten aktiv hergestellt, was auf diese Weise gewaltsame Neu-Verregelungsversuche legitimiert. Jürgen Oßenbrüge prüft systematisch die Stichhaltigkeit von Ansätzen, welche einen konfliktfördernden Effekt eines Ressourcenüberschusses (sogenannter Ressourcenfluch) bzw. eines Ressourcenmangels behaupten, anhand von Beispielen im subsaharischen Afrika. Für den zweiten Fall lehnt er „kausale Begründungen“ ab – die konfliktverursachenden Effekte von Ressourcenverknappung seien allenfalls als sehr vermittelt anzusehen. Anders beurteilt er den Ansatz des „Ressourcenkonflikts“: Obwohl er auch hier auf die Bedeutung historisch gewachsener polit-ökonomischer Strukturen verweist, wählt er Formulierungen, die eng an deterministische Argumentationsmuster heranrücken: So zeigten die Konflikte im Kongo, dass „Ressourcenvielfalt kleptokratische Regime befördert“ und „Ressourcenlagerstätten sezessionistische Bestrebungen befördern“. Selbst wenn man im Kontext eines „material turn“ (auf den sich Oßenbrügge nicht explizit bezieht) die Rolle von Materialität und Technik für die Realisierung von Handlungsvollzügen herausarbeiten möchte, laufen solche pauschalen Formulierungen Gefahr, den Blick auf die letztlich immer gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen von Gewalt zu verstellen: Edelmetalle und Kohlenwasserstoffe (alleine) handeln nicht und befördern nichts.
Eine dritte Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit dem „Geographiemachen in gewaltoffenen Räumen“. Dabei bleibt der Beitrag des Politikwissenschaftlers Klaus Schlichte auf einer vergleichenden und recht abstrakten Makro-Ebene. Er diskutiert die Mechanismen, welche die Entstehung von bewaffneten Gruppen in afrikanischen Bürgerkriegen anleiten. Die Beiträge der beiden Geographen Keck und Doevenspeck zeigen auf der Basis qualitativer Feldforschung, dass auch in Bürgerkriegssituationen vielfach das alltägliche Leben „weiter geht“. Keck diskutiert auf der Basis von Feldforschung in Nepal, wie Bewohner/innen in vom Bürgerkrieg betroffenen Regionen (eher kurzfristig angelegte) Taktiken und (eher langfristige) Strategien praktizierten, um in ihrem Alltag Sicherheit herzustellen. Martin Doevenspeck untersucht, wie eine Rebellengruppe im Bürgerkrieg im Osten des Kongo eine „Enklave der Sicherheit“ produziert hat. Auf der Basis dieser empirischen Beobachtung betont er die Relevanz des Konzepts „Territorium“ für die Politische Geographie und stellt sich damit explizit gegen eine lange Zeit dominierende Argumentation in der wissenschaftlichen Debatte in der Geographie (in gewissem Maße auch der beiden Herausgeber des Sammelbandes), welche eher auf einen Bedeutungsverlust von Territorialität und einen Bedeutungsgewinn anderer räumlicher Konfigurationen abgehoben hat.
Der Beitrag von Choinacki, Ickler und Branovic nähert sich dem Thema „Gewalt und Raum“ als einziger im Sammelband über eine quantitative Studie auf Basis der Datenbank „Event Data on Armed Conflict and Security” (EDACS) und sei daher etwas ausführlicher dargestellt: Die EDACS-Datenbank basiert auf einer Auswertung von Medienberichterstattung und differenziert unterschiedliche Formen von Gewalt. Indem die Datenbank geographische Namen mit Koordinaten verbindet, werden die Gewaltereignisse zudem lokalisiert. Grundidee des Beitrages ist es, mithilfe von EDACS den „methodologischen Nationalismus“ in der Forschung über Gewalt und Raum zu überwinden. Tatsächlich können die drei Autoren zeitliche und räumlich „hotspots“ der Gewalt innerhalb Somalias identifizieren. Allerdings bleiben die Ergebnisse zumindest teilweise banal (bspw. Konzentration der Gewaltereignisse auf die Hauptstadt, Infrastruktureinrichtungen und Bevölkerungsschwerpunkte) und weisen Probleme auf, die unweigerlich mit einem solchen quantitativen Vorgehen verbunden sind. Es zeichnet den Beitrag allerdings aus, dass einige dieser Probleme von den Autoren diskutiert werden (bspw. das Problem, dass die Medien in ihrer Berichterstattung einen „urban bias“, d. h. eine räumliche Schwerpunktsetzung produzieren). Vor dem Hintergrund des Booms digitaler Geodaten wäre es wünschenswert, wenn in der Geographie der Austausch zwischen (kritischer) Sozialgeographie und digitaler Geoinformation gesucht würde, um die Möglichkeiten, Grenzen und Fallstricke einer Nutzung solch neuer Geodaten für sozialwissenschaftliche Zwecke offensiver zu eruieren. Die Beiträge von Mousa und Zirkl belegen, dass physische Gewalt nicht nur in (Bürger-) Kriegssituationen alltäglich ist. Zirkl beschreibt, wie in Rio de Janeiro zwischen Räumen, die von staatlichen Sicherheitskräften, und Räumen, die von Drogenkartellen kontrolliert werden, differenziert wird. Dabei konzentrieren sich unterschiedliche und sich überlagernde Konflikte zwischen staatlichen Sicherheitskräften, konkurrierenden Kartellen und (illegalen) privaten Milizen v. a. in der „informellen Stadt“, den favelas. Mousa diskutiert anhand einer detaillierten Rekonstruktion der Zerstörung eines palästinensischen Flüchtlingslagers in Kämpfen zwischen einer islamistischen Miliz und der libanesischen Armee, wie der Sonderstatus des Flüchtlingslagers ermöglichte, dass die Armee weitgehend ohne Rücksicht auf die zivilen Bewohner/innen des Lagers vorging.
In einer kritischen Auseinandersetzung mit der von Agamben angestoßenen Debatte um Lager als „räumlicher Ausdruck des Ausnahmezustands“ zeigt sie einerseits die Grenzen einer „formelhaften“ Übertragung der Debatte auf konkrete empirische Situationen auf. Andererseits sensibilisieren die Überlegungen zum Ausnahmezustand und zur Rolle von Lagern aber für die subtile und die weniger subtile Gewalt, die im Kontext einer Normalisierung des Ausnahmezustandes im Lager von den Bewohner/innen erfahren wird.
Insgesamt ist der Sammelband ein erfreulicher und wertvoller Beitrag zu der zunehmend breiten und lebhaften Debatte innerhalb der deutschsprachigen Politischen Geographie. Mit der Frage nach der Rolle physischer Gewalt in der Konstitution räumlicher Ordnungen benennt der Sammelband in überzeugender Weise einen (weitgehend) blinden Fleck von Empirie und theoretischer Konzeption innerhalb dieser Debatte. Angesichts der enormen Heterogenität der theoretischen Bezüge im Sammelband stellt sich allerdings die Frage, ob „Geographien der Gewalt“ einen eigenen Forschungszusammenhang benennen oder nicht eher eine bislang vernachlässigte Dimension Politischer Geographie, die mit sehr unterschiedlichen theoretischen Brillen und empirischen Zugängen erschlossen werden sollte – so wie es die lesenswerten Beiträge in dem Sammelband tun.
Der tadellos lektorierte und sinnvoll illustrierte Sammelband ist daher weniger als Lehr- oder Studienbuch zu interpretieren (auch wenn die kurzen Einleitungen der einzelnen Beiträge durch die beiden Herausgeber die Lektüre für Studierende sinnvoll erleichtern), sondern eher als anregender „Weckruf “, der Dimension der physischen Gewalt in Studien der Politischen Geographie empirisch und konzeptionell mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Prof. Dr. Georg Glasze, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Geographie, Erlangen

Geographische Zeitschrift Heft 2/2019

Inhaltsverzeichnis top ↑

Vorwort 5
Verzeichnis der Abbildungen und der Tabellen 8
Benedikt Korf und Conrad Schetter:
Einleitung: Geographien der Gewalt 9
Derek Gregory:
Der allgegenwärtige Krieg 27
Janosch Prinz und Conrad Schetter:
Unregierte Räume, „kill boxes“ und Drohnenkriege: die Konstruktion neuer Gewalträume 55
Benedikt Korf:
Zur Politischen Ökologie der Gewalt 72
Jürgen Oßenbrügge:
Kontinuität der Ressourcenkonflikte und kommende Klimakriege 93
Klaus Schlichte:
Staatszerfall oder Staatsbildung? Zur Politik bewaffneter Gruppen in afrikanischen Bürgerkriegen 116
Sven Chojnacki, Christian Ickler und Željko Branović:
Gewaltkontrolle ohne Staat. Raumzeitliche Variationen von Konflikt und Sicherheit in Somalia, 1990–2009 128
Markus Keck:
Gewalt, Raum und Resilienz: Handeln im Kontext bewaffneter Konflikte 146
Leila Mousa:
Flüchtlingslager im Ausnahmezustand: Nahr al-Bared im Libanon 163
Frank Zirkl:
Gewalt und räumliche Fragmentierung in brasilianischen Großstädten: favelas als exterritoriale Enklaven des Drogenhandels am Beispiel Rio de Janeiros 188
Simone Rettberg:
Die Territorialisierung pastoraler Konflikte im Nordosten Äthiopiens 202
Martin Doevenspeck:
Die Territorialität der Rebellion: eine Enklave lokalen Friedens im kongolesischen Bürgerkrieg 216
Conrad Schetter und Benedikt Korf:
Nachwort: Zur Geographie des Krieges 230
Stichwortverzeichnis 241