M. Funkenberg: Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden

Cover
Titel
Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen 1964–1985. Zeitgeschichtlicher Hintergrund und emotionales Erleben


Autor(en)
Funkenberg, Merle
Reihe
Forschung psychosozial
Erschienen
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Linde Apel, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Bei dem Buch handelt es sich um die Veröffentlichung einer erziehungswissenschaftlichen Dissertation, die an der Universität Kassel abgeschlossen wurde. Die Autorin Merle Funkenberg hat sich darin einem hochinteressanten, bisher wenig beachteten Thema der Zeitgeschichte angenommen: der Betreuung von Opferzeugen in NS-Prozessen. Dies waren Überlebende der NS-Gewaltverbrechen, die sich anlässlich der Strafverfolgung solcher Verbrechen in der Bundesrepublik aufhielten und dabei von Einzelpersonen und Institutionen wie Pax Christi, dem Deutschen Roten Kreuz und den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit unterstützt wurden. Die Betreuung hatte viele Facetten. Sie bestand sowohl aus praktischer Hilfe etwa bei der Hotelbuchung und dem Weg zum Gericht, aus materieller Unterstützung (insbesondere für aus osteuropäischen Ländern eingereiste Personen), aber auch aus medizinischem Beistand. In der speziellen Situation von Überlebenden der NS-Verfolgung, die häufig erstmals (wieder) nach Deutschland kamen und vor Gericht ihren ehemaligen Verfolgern gegenüberstanden, entwickelte sich diese Betreuung in vielen Fällen zur emotionalen Unterstützung, aus der langjährige Freundschaften hervorgingen.

Funkenberg gibt an, in ihrem Vorhaben „zwei Gruppen von Menschen“ (S. 10), die Zeugen und ihre Betreuer, ins Zentrum zu stellen, um das Thema „in rechts- wie zeitgeschichtlicher Hinsicht“ (S. 11) sowie im Kontext der Entwicklung der bundesdeutschen Erinnerungskultur zu erforschen. Diesen Anspruch kann sie, soviel vorab, nur teilweise einlösen. Zur Quellenbasis gehören nicht sehr umfangreiche Akten (die innerhalb der mit der Zeugenbetreuung befassten Institutionen entstanden), der Nachlass einer Betreuerin, von der Autorin und von anderen geführte Interviews, autobiographische Veröffentlichungen von Betreuern und Zeugen, Presseartikel sowie Internetangebote. Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel sehr unterschiedlicher Länge.

Die Einleitung, in der knapp Leitfragen, Forschungsstand, Quellen und Methoden referiert werden, beginnt mit einem Zitat, an dem eine Schwäche des Bandes ersichtlich wird: Die Autorin lässt im gesamten Buch Zitate sprechen, weitgehend ohne sie zu interpretieren. In den folgenden Kapiteln stellt sie den historischen, psychologischen und juristischen Kontext der Zeugenbetreuung dar und erläutert den institutionellen Rahmen. Besonders deutlich wird ihr Umgang mit den Quellen im längsten Kapitel über „Die emotionalen Aspekte von Zeugenschaft und Betreuung“. Dieses Kapitel ist nicht ganz unproblematisch, da hier zwei sehr unterschiedliche Themenkomplexe, die Zeugenschaft und die Betreuung, sowie die beiden Personengruppen, die Betreuten und die Betreuer, zusammen abgehandelt werden. Methodisch geht es auch um Oral History, da Funkenberg Interviews geführt hat und in anderen Kontexten entstandene Interviews nutzt. Sie befragte 16 Personen (13 ehemalige Betreuer, 3 Zeugen) und führte einige Experteninterviews, unter anderem mit der ehemaligen Dachauer Gedenkstättenleiterin Barbara Distel und der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich. Funkenberg referiert in ihrem Methodenkapitel die gewählte sozialwissenschaftliche Auswertung der Interviews, die auf von ihr erarbeiteten 36 Kategorien beruht. Welche es sind, bleibt unklar.

Zu vermuten ist, dass die aus Zitaten und kurzen thematischen Begriffen bestehenden Überschriften der neun Abschnitte im Unterkapitel „Emotionales Erleben“ auf Funkenbergs Kategorien basieren. In diesem Unterkapitel wird ihre Entscheidung, Zitate nicht zu interpretieren, sondern illustrativ aneinanderzureihen, besonders deutlich. Dabei wäre hier die Gelegenheit gewesen, ihren Anspruch, die Zeugenbetreuung in den Kontext der Entwicklung der bundesdeutschen Erinnerungskultur einzuordnen, auf der Basis von biographisch-narrativen Interviews zu erfüllen. Die Überschrift „Emotionales Erleben“ und Funkenbergs Umgang mit den Zitaten verweisen aber unfreiwillig darauf, dass die Autorin das Erzählte für eine unmittelbare Abbildung des Erlebten hält, das für sich spreche. Retrospektive Erinnerungserzählungen sind jedoch vor allem deshalb interessant, weil sie in der kommunikativen Situation der Interviews aus der Gegenwart heraus eine Deutung von Vergangenem vornehmen. Diesen anregenden und gelegentlich kontroversen Aspekt der Oral History, Lesarten von Interviews anzubieten, hat die Autorin, möglicherweise aus Respekt von ihren Gesprächspartnerinnen und -partnern, weitgehend vermieden. Vorsichtige Kritik äußert sie dort, wo sie mit den Zitaten nicht einverstanden ist, enthält sich aber trotzdem einer Deutung.

Dies soll an einem Beispiel kurz erläutert werden. Funkenberg zitiert einen Auszug aus Roman Fristers Autobiographie „Die Mütze oder der Preis des Lebens“ als Beispiel eines „‚missglückten Kontakts‘“ (S. 219) zwischen Betreutem und Betreuer. Darin beschreibt Frister eine Begegnung mit einer Zeugenbetreuerin, die er als Anmaßung empfindet, der er aufgrund ihrer distanzlosen Kontaktaufnahme misstraut und unterstellt, dass sie ihr Erleiden des Krieges mit seinen Lagererfahrungen gleichsetzen wolle. Quellenkritische Überlegungen, dass es sich dabei um eine literarische Zuspitzung handeln mag, die eventuell nicht als faktengetreue Aussage gelesen werden kann, oder textimmanente Analysen der Ambivalenzen, die aus den abgedruckten längeren Zitaten hervorgehen, nimmt Funkenberg nicht vor. Sie beschränkt sich stattdessen auf den Hinweis, dass Frister „ein erfolgreicher Journalist und vielgereister Mann“ war und seine Biographie damit eine Ausnahme darstelle. Ihre knappe Einleitung schließt sie mit der Warnung, dass Fristers gesamtes Buch von „sein[em] Zynismus“ geprägt sei. Schaut man sich nun die von Funkenberg zitierten Teile in Fristers Buch an, so erweist sich die Passage als mehrdeutiger.1 Es ist weniger eine zynische als eine eher lakonische Beschreibung einer Situation, in der das literarische Ich seinem Auftritt als Zeuge entgegensah, damit sehr beschäftigt war und zugleich eine Stadtführung, ein Mittagessen und eine autobiographische Erzählung der Betreuerin, der Tochter eines Nazis, erlebte. Zeuge und Betreuerin verbrachten also viel Zeit miteinander und hatten auch nach der Abreise des Zeugen noch Kontakt. Warum Funkenberg das für missglückt hält, wird nicht ganz deutlich. Vielleicht interpretiert sie eine freundliche und sachliche Hilfestellung im Rahmen der Betreuung als Fehlschlag, weil daraus keine Freundschaft erwuchs? Da die Beteiligten dieser besonderen historischen Situation der Bearbeitung von NS-Verbrechen unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse mit den Begegnungen verbanden und sehr verschiedene Motivationen und Vorerfahrungen mitbrachten, verwundert es, dass die von Funkenberg interviewten Betreuer nichts über missglückte Kontakte erzählen. Daraus kann sicher nicht geschlossen werden, dass die Betreuung immer von allen uneingeschränkt positiv wahrgenommen wurde, und Funkenberg tut das auch nicht, weil ihre Quellenbasis zu schmal ist. Aber eine Reflexion darüber, dass diejenigen, die sich daran erinnern, eventuell Gründe dafür haben, die Kontakte als Erfolg, Bereicherung oder Horizonterweiterung zu deuten, hätte nützlich sein können.

Im anschließenden fünften Kapitel geht es um „Zeugen und Betreuer in der Öffentlichkeit“. Die Autorin kündigt an, die öffentliche Wahrnehmung der Zeugenbetreuung als Teil der sich entwickelnden bundesdeutschen Erinnerungskultur diskutieren und die Berichterstattung über NS-Prozesse ausleuchten zu wollen. Da sie aber eine „umfassende Analyse“ (S. 304) der medialen Berichterstattung für zu aufwendig hält, rezipiert sie lediglich Sekundärliteratur. Hier hätte sich die Leserin gewünscht, dass dies als Literaturüberblick am Anfang der Studie und nicht als eigenständiges, vorletztes Kapitel vor dem knappen Fazit gestanden hätte. Im letzten Kapitel vor dem Fazit setzt sich Funkenberg mit der aktuellen Zeugenbetreuung in gegenwärtigen Strafprozessen sowie im Internationalen Strafgerichtshof auseinander. Während ihre Hinweise zur Opferbetreuung durch Organisationen wie den Weißen Ring als Versuch der Aktualisierung angehängt wirken, greift ihre Auseinandersetzung mit dem nicht nur im strafrechtlichen Sinne zu verstehenden Konzept der Transitional Justice wiederum zu kurz. Das ist bedauerlich, da diese Formen, gewaltsame Konflikte, Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, stark vom Umgang mit der NS-Vergangenheit geprägt sind. Im Fazit wird deutlich, dass entgegen dem anfangs genannten Vorhaben, die Betreuer und die Zeugen in den Blick zu nehmen, doch stärker die „zivilgesellschaftlichen Initiativen“ im Fokus standen, „die es sich zum Ziel gesetzt hatten, Opferzeugen zu Gerichtsverhandlungen gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher zu begleiten“ (S. 337). Kritisch gesteht die Autorin dieses Ungleichgewicht ein. Warum sie ihr Konzept nicht zumindest für die Veröffentlichung geändert hat, bleibt eine offene Frage.

Aus der etwas mühsamen Lektüre des Buches, das vermutlich nicht lektoriert wurde, entsteht ein zwiespältiger Eindruck. Weder kann man dem Band eine übersichtliche Darstellung des komplexen Themas Zeugenbetreuung mit seinen juristischen und zeithistorischen Aspekten entnehmen, noch ordnet die zweifellos engagierte Autorin das Thema überzeugend in den Kontext der Erinnerungskultur ein. Im Anhang ist aufgelistet (wenn auch unvollständig), wann und mit wem Merle Funkenberg Interviews führte, aber es ist nicht angegeben, ob und wo diese archiviert werden.2 Es ist zu hoffen, dass die Interviews in Zukunft anderen Forscherinnen und Forschern für eine Zweitauswertung zur Verfügung stehen. Denn eine Analyse solcher mündlichen Quellen kann lohnend sein, wenn man sich für eine biographisch orientierte Erfahrungsgeschichte von Akteuren der Erinnerungskultur interessiert.

Anmerkungen:
1 Roman Frister, Die Mütze oder der Preis des Lebens, Berlin 1997, S. 188–194.
2 Weitere von der Autorin hinzugezogene Interviews stehen im Anhang nicht unter der Überschrift „Interviews“, sondern unter „Archivalische Quellen“ und „Internetquellen“.

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