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Fußball
Das Körperliche, das Schicksalhafte, die Schutzlosigkeit

Fußball ist in der Lage, die verschiedensten Bevölkerungsschichten zu vereinen und eine ästhetische Gemeinsamkeit zwischen Menschen herzustellen, die sich ansonsten nicht viel zu sagen hätten. In seinem neuen Buch "Das Leben in 90 Minuten" geht der Berliner Philosphie-Professor und Sportsoziologe Gunter Gebauer diesen Phänomenen auf den Grund.

Von Helmut Böttinger | 05.06.2016
    Der Deutsche Leroy Sané (l) im Zweikampf mit dem Slowaken Dusan Svento beim Länderspiel Deutschland - Slowakei
    Der Fußball wird inzwischen auch als Thema der Feuilletonisten und Sozialwissenschaftler entdeckt. (picture-alliance/dpa/ Andreas Gebert)
    Es gab vor einiger Zeit einmal einen Boom von intellektuellen und literarischen Büchern über Fußball, das war eine Phase in den 1990er-Jahren. Da wurde Fußball als ein Sujet für spielerische Diskurse entdeckt, als ein Phänomen der Pop-Kultur. Lange hielt sich diese Konjunktur aber nicht, und die pragmatischen, positivistischen und journalistisch agierenden Fußball-Experten hatten das ganze Feld wieder für sich. Der Sportteil in den Zeitungen wurde dabei aber stillschweigend ein bisschen aufgepäppt, die bloße 1:1-Berichterstattung schien niemandem mehr zu genügen. Und manchmal konnte man fast meinen, der Sport sei zum eigentlichen Feuilleton geworden. Das Buch des renommierten Philosophieprofessors Gunter Gebauer, das "eine Philosophie des Fußballs" verspricht und passgenau zur Beginn der aktuellen Europa-Meisterschaft erschienen ist, hat mit derlei Modewellen allerdings nichts zu tun. Gebauer unterscheidet sich wohltuend von dem ganzen bescheidwisserischen und insiderischen Geplänkel um Taktiksysteme, Laktatwerte und Fan-Meilen und stellt die großen, entscheidenden Fragen. Warum ist der Fußball zu solch einem weltumspannenden Phänomen geworden? Was hat ihn dazu befähigt, sich eine eigene Mythologie zu erschaffen? Gebauer, der an der Freien Universität Berlin auch als Sportsoziologe auf sich aufmerksam gemacht hat, wendet Pierre Bourdieus Thesen gegen scholastisches Denken konsequent auch auf den Fußball an.
    Fußball ist eine Erfahrung ohne Hand und Wort
    "Fußball ist eine Welt des Niedrigen. Von der Höhe des Geistes aus gesehen, hat er etwas erschreckend Direktes, den Geschmack des physischen Kampfs und den Geruch von Körpern und Erde. Kann ein solches Spiel, das sich so offensichtlich gegen die Zivilisation stellt, einen philosophischen Gehalt haben? Vielleicht liegt dieser gerade darin, dass es der schulischen Bildung so radikal widerspricht. Aus dieser Perspektive wäre Fußball ein kühner Gegenentwurf zur Philosophie, wie sie sich seit der Neuzeit, seit Descartes entwickelt hat – zu einer Philosophie, die sich ausschließlich mit dem Geist beschäftigt."
    Gebauer dekretiert deshalb Folgendes: Der Fußball stelle den Menschen vom Kopf auf die Füße. Damit folgt er mit einem ironischen Augenzwinkern Karl Marx, der den Ausdruck "Auf die Füße stellen" als Neusituierung des Denkens verstand. Dass beim Fußball der Ball mit den Füßen gespielt wird und der Einsatz der Hände mit wenigen Ausnahmen verboten ist, führt zu grundsätzlichen kulturgeschichtlichen Erwägungen. Denn die freibewegliche Hand war die erste Errungenschaft, die den Menschen vom Affen unterschied. Im Lauf der Evolution stimulierten die Hände das motorische Sprachzentrum im Gehirn. Die Hand beim Spiel also nicht zu beteiligen, bedeutet einen radikalen Kulturverzicht. Fußball ist eine Erfahrung ohne Hand und Wort, er verzichtet freiwillig auf hoch entwickelte Mittel. Auf der anderen Seite aber wird der Mensch durch den Fußball wieder fragil. Durch das Handverbot unterwirft er sich wieder stärker der Herrschaft der Sinne, und unter anderem wird auch der Einfluss des Zufalls gesteigert. Der Autor führt das Champions-League-Finale des Jahres 1999 an, als Bayern München den Sieg gegen Manchester United schon sicher zu haben schien, in den letzten Sekunden des Spiels aber noch zwei schnelle Gegentore kassierte.
    "Mit einem Schlag wird für die Spieler und ihre Anhänger die ganze Schutzlosigkeit des Menschen präsent. Es ist ein tragischer Blick in die Abgründe der menschlichen Existenz."
    Gebauer wechselt immer wieder zwischen konkreten fußballerischen Situationen, die sich ins historische Gedächtnis eingeschrieben haben, und philosophischen Termini hin und her. Das ist spielerisch und instruktiv zugleich. Im Fußball spielt man mit einem Ball zwischen den Beinen, die gewöhnliche Alltagspraxis verliert ihr Selbstverständnis, und hier ist ein Moment, in dem etwa auch Martin Heidegger eingreifen kann, mit seiner Feststellung, dass die Dinge sind nicht mehr "zuhanden" seien.
    "Als körperliche Wesen können und konnten sich die Menschen nie vollständig vom Zufall befreien; sie haben jedoch in der prekären Situation, die den Anfang der menschlichen Entwicklung kennzeichnet, Mittel erfunden, sich gegen äußere, oft auch zufällige Bedrohungen zu schützen. Ihre Errungenschaften im Kampf gegen den Zufall sind fast ausschließlich Leistungen der Hand. Offensichtlich ist der Fußball so organisiert, dass er die Unsicherheit der Existenz zeigen und den Menschen in offene Situationen stellen soll."
    Ein Ausflug in die Ethnologie zeigt, dass Objekte, die ambivalent sind, einem Berührungsverbot unterliegen. Dass der Fußball nur mit den Füßen berührt werden darf, weist darauf hin, dass es sich hier um die unreine Sphäre des Menschen handelt, dass die unteren Regionen der Psyche angesprochen sind, dass aber gerade dadurch auch die Unmittelbarkeit, die reine Präsenz kultiviert werden. Das Körperliche, das Schicksalhafte, die Schutzlosigkeit der menschlichen Existenz: Das alles wird im Fußball ausgedrückt. Und deshalb wendet sich der Autor auch radikal gegen allzu rechenhafte Taktikexempel, etwa die versuchte Ausschaltung des Zufalls durch das spanische Tiki-Taka-Kurzpassspiel. Das Spiel verliere dadurch den Charakter einer offenen Auseinandersetzung und werde zum Gemurmel einer Ingroup – auf lange Sicht könne dies das Interesse am Fußball mehr stören als der vermeintlich schädliche Zufall.
    Irrationaler Moment des Fußballs ist seine wirkliche Kraft
    Da im deutschen Fußballdiskurs seit Jahren die Faszination an Computersimulationen im Vordergrund steht, der Glaube, durch die richtige taktische Einstellung würde das Spiel zwangsläufig zu steuern sein, wirkt diese ästhetische Einschätzung durchaus befreiend. Manch deutscher Intellektuelle – früher sagte man "Fachidiot" dazu – glaubt ja, Gefallen an endlosen Videoaufzeichnungen finden zu können und auf den Moment zu warten, an dem dann der unvermeidliche Fehler im System erfolgt. Dabei geht es um etwas ganz Anderes. Gebauer schließt sich lieber Sartres "Philosophie der Emotionen" an. Gerade in einer Schlussoffensive in den letzten Minuten zeige sich abseits aller Planbarkeit, wer mental und emotional überlegen sei. Das 4:4 von Deutschland gegen Schweden, nachdem es 4:0 in Führung gelegen hatte und drückend überlegen gewesen war, ist nicht rational zu erklären. Gebauer sagt aber auch mit Nietzsche, dass der Sport beileibe kein "survival of the fittest" sei, sondern eine kulturelle Form, die bei den alten Griechen entwickelt wurde, um den Neid der Bürger der Polis eine geregelte produktive Struktur zu geben. Das irrationale Moment des Fußballs ist seine wirkliche Kraft. Es zeigt sich unter anderem darin, wie verschieden die Nationen auf diesem Feld ihre Ich-Ideale ausdrücken.
    "Unser Begehren funktioniert über Vergleiche mit den anderen. Wer seine Wahrnehmung nach dem Wettkampf-Schema strukturiert, wird immer wieder verunsichert: Du denkst vielleicht, du könnest so spielen wie die Italiener. Sie aber haben ein feines Taktikverständnis, mit dem sie das Spiel beherrschen, selbst wenn sie eine andere Mannschaft scheinbar gewähren lassen. Ihre Gegner begreifen gar nicht, dass sie in dem Moment, in dem sie angreifen, selbst die Gejagten sind. Wenn sie glauben, sie bringen mit ihrem Angriff die italienische Mannschaft in Gefahr, laufen sie in Wahrheit ins Verderben. Denn bei einem Fehlpass, der unweigerlich einmal kommen wird, spielen die Italiener mit einem langen Pass (Pirlo!) den Ball vor das gegnerische Tor, in eine Zone, die von der angreifenden Mannschaft entblößt worden ist. Immer wieder sind dir solche Dinge passiert, wenn du geglaubt hast, du seist viel stärker als sie. Wie konnte es geschehen, dass Pirlo, der Spielmacher, sich der Bewachung entzog, während du munter angegriffen hast? Pirlo, der gefährlichste, raffinierteste Spieler, der das Italienische in Reinkultur verkörpert, mit dem die Ehefrauen der Deutschen durchbrennen würden, wahrscheinlich aber doch nur in ihren Träumen. Auch wenn dies eine Fantasie deiner Einbildungskraft ist, gibt sie dir jedes Mal, wenn sie aus dem dunklen Grund deines Inneren aufsteigt, einen Stich ins Herz. Und da die Einbildungen wie eine wilde Schar vor den Ereignissen herspringen, bevor diese überhaupt angefangen haben, einzutreten, siehst du der Begegnung mit den Italienern mit größter Sorge entgegen.
    Ähnlich wie die Kunst zeigt der Fußball eine andere Version der Welt. Wie sie ist er in der Lage, die soziale Wirklichkeit genauer zu erfassen als in einer realistischen Darstellung. Und in seiner Ästhetik der Grausamkeit berührt er eine tiefere Schicht als die wie auch immer gestaltete bürgerliche Kunst. Die Fragilität des Menschen werde hier auf ein kaum noch aushaltbares Maß gesteigert, stellt Gunter Gebauer fest, und er braucht nur auf die Albträume hinzuweisen, von denen Torhüter Zeit ihres Lebens heimgesucht werden, in denen sie die entscheidende Szene immer wieder durchleben müssen: Barbosa etwa, der Torwart Brasiliens beim Schock von Maracana, 1950 im riesigen Stadion von Rio de Janeiro im Endspiel gegen das kleine Uruguay – das Gegentor machte ihn in seinem Land zur Persona non grata. Der amerikanische Ästhetik-Professor Stanley Cavell bezeichnet Fußball als eine Welt "in terms of Shakespeare". Die Sieger retten sich nämlich nur vor der Katastrophe, sie entrinnen einem bösen Schicksal. Im alltäglichen Leben bleibe dieser dunkle Untergrund meist verborgen, beim Fußball werde er unmittelbar erfahren. Gebauer zieht auch einen großen deutschsprachigen Zitatschöpfer zurate: in den Fußballstadien fühle auch ein Zuschauer, der noch nie etwas von Rilke gehört habe, dass sich das Schöne im Schrecklichen fortsetze. Bei einem Vergleich der fußballerischen mit der künstlerischen Ästhetik treten aber auch die Unterschiede zutrage. Die Schönheit des Fußballs definiert sich in erster Linie durch das Ausschalten des Gegners. Der Philosoph nimmt eine Anleihe bei Hegel und spricht dem Fußball eine Ästhetik der "dramatischen Kollision" zu.
    Die Bedrohung durch die Gegner eine wesentlich für besonderen Ästhetik
    "Im Fußball ist die Bedrohung durch die Gegner eine wesentliche Bedingung seiner besonderen Ästhetik. Unter dieser Voraussetzung bringt er das Grundprinzip des menschlichen Lebens zum Ausdruck, das sich in permanenter Konkurrenz zu anderen befindet. Der Fußball drückt etwas über uns selbst aus, das wir unter normalen Bedingungen nicht leicht erkennen. Er führt uns in eine Erfahrungsschicht unserer Existenz, die wir leben und fühlen, aber nicht begrifflich ausdrücken können. Ein Fußballspiel gewinnt hohe ästhetische Qualitäten, wenn es eine existenzielle Prüfung ist, wenn in ihm eine drohende Vernichtung überwunden wird. Schönheit im Fußball kann nicht als eine relativ bedeutungslose Variante des Schönen aufgefasst werden, die im Verhältnis zur Kunst keine echte ästhetische Dimension hat. Sie gehört vielmehr zu einer älteren Form der Schönheit als die bürgerliche Kunst: Der Fußball ist eine Welt, in der sich die Akteure extremen Selbst-Prüfungen und Verletzungen aussetzen."
    Der Autor zieht etliche namhafte Gewährsleute heran, um Fußball als die Metaphysik unserer Gegenwart definieren zu können, bis hin zu Max Webers Definition einer "charismatischen Herrschaft". Und hier kommt auch eine religiöse Dimension ins Spiel. Der Glaube hat ja auch eine performative Dimension, die Innerlichkeit drückt sich in Ritualen aus, und Rituale haben im Fußball eine gewaltige Bedeutung, von Glückspullovern, Schlachtgesängen bis hin zu ausdifferenzierten Fan-Choreografien im Stadion, das Gebauer mit Foucault eine "Heterotopie" nennt, einen Anders-Ort.
    "In Zeit und Raum grenzt sich das rituelle Geschehen des Fußballs von der Alltagwelt ab."
    An einer Stelle lässt Gebauer Michel Foucault, nach Wittgenstein und Bourdieu einer seiner wichtigsten Akteure, sogar eine glänzende Querverbindung mit Joachim Löw eingehen.
    "Beim Fußballtraining lernen die Spieler, sich auf das Handeln ihrer Mitspieler einzustellen, ihre Reaktionen zu antizipieren, gemeinschaftliche Aktionen zu vollziehen, sodass ein "blindes Verständnis" in der Mannschaft entsteht. Jeder einzelne Spieler ist darauf vorbereitet, in entscheidenden Situationen blitzschnell das Richtige zu tun. Dies ist nur möglich, wenn er sich einer umfassenden Disziplinierung aussetzt, die die Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit des Körpers ausbildet. Aus dem Training kleiner Gruppen entsteht ein arbeitsteiliger Verbund, dessen Glieder selbstständig handeln können. Sie verinnerlichen die vom Trainer vorgegebenen strategischen Grundsätze, taktischen Regeln und Ziele des Handelns. Michel Foucault nennt das Ergebnis von komplexen Prozessen praktischen Übens "Disziplinen". Erfolgreiche Mannschaften bestehen aus Spielern, die jahrelang die Inkorporierung disziplinärer Handlungsfähigkeit eingeübt haben. Schon als Assistent von Jürgen Klinsmann gab Jogi Löw 2006 die Devise aus: "Högschte Disziplin!"
    Zur Ästhetik des Fußballs gehören auch die Fehler, mit denen man über ihn spricht, bei all seinen verwirrenden Daten, Statistiken und Zitaten. Gunter Gebauer schreibt zum Beispiel das Wort, nach dem "die Wahrheit auf‘m Platz" sei, Rudi Völler zu. Dieser ist aber nur eine Person in einer langen Kette, die diesen Satz in irgendeiner Weise ausgesprochen haben. Die gängige Auffassung der Feldforscher ist, dass Adi Preißler, der legendäre Kapitän von Borussia Dortmund in den 1950er-Jahren, die Urform geäußert hat: "Entscheidend ist auf’m Platz." Aber mindestens genauso entscheidend ist, dass Gebauer den Überblick behält, dass er sich nicht in Nebensächlichkeiten verliert. Er stellt fest, dass der Fußball erst im Laufe der 1970er-Jahre begann, die nationale Erinnerung zu strukturieren. Entgegen der landläufigen Meinung erklärt der Autor, dass der WM-Titel 1954 für die Mehrheit der Deutschen noch gar nicht wichtig gewesen sei. Erst später sei er zu einem allgemeinen Kulturgut geworden. Noch in den 1960er-Jahren kam Körperliches in der Gesellschaft und im Fernsehen wenig zur Geltung, dies sei dem Kino vorbehalten gewesen. Durch technische Verbesserungen des Fernsehens kam es dann allmählich zur entscheidenden Verbindung zwischen Fußball und Fernsehen, und hier machte sich eine spezielle Überlegenheit des Fernsehens gegenüber dem Kino geltend: das Serielle, die mehrteiligen Folgen. Ein Quantensprung ereignete sich Ende der 1980er Jahre, als der Fußball zunächst bei RTL und dann bei Sat1 eine Schlüsselfunktion im kommerziellen Fernsehen einnahm. Gebauer liefert hier eingehende medien- und kulturkritische Analysen.
    "Um den Fußball begann ein heftiger Konkurrenzkampf zwischen privaten und öffentlichen Sendern zu toben, der ab Anfang der 1990er-Jahre die Finanzstruktur des Fußballs vollkommen umgestalten sollte. Schon Ende der 1980er-Jahre stiegen die Einnahmen der Liga, Vereine und Spieler deutlich an. Der ökonomische Wert des Bundesligafußballs koppelte sich allmählich von den sportlichen Fähigkeiten der Spieler ab. Auslöser dieser Entwicklung war die große Nachfrage des Fernsehens nach Fußball, die von den TV-Programmgestaltern forciert wurde. Die offenkundige Differenz zwischen ökonomischen Wert und realer Qualität begann die Entwicklung der Spielkultur zu behindern: Es war möglich, mit einem mittelmäßigen Fußball sehr viel Geld zu verdienen. Spieler wie Vereine sahen keine großen Anreize darin, eine Verbesserung ihrer Leistungen zu erreichen. Auch die Verantwortlichen im DFB waren weitgehend unfähig, den Abstand zu verringern, der sich allmählich zwischen dem deutschen Fußball und den europäischen Spitzenmannschaften auftat.
    Einst Pop-Phänomen gegen eine bröckelnde Hochkultur
    Das Wort von den deutschen "Rumpelfußballern" entstand, und die Rede von "deutschen Tugenden" wie Kraft, Ausdauer und Disziplin versuchte zu übertünchen, dass die Holländer, Franzosen und Italiener mittlerweile einen weitaus moderneren Fußball spielten. Es ist aber erstaunlich, dass noch lange nach dem erkennbaren Niedergang des deutschen Fußballs in den Medien immer noch auf seine Erfolge gepocht wurde. Noch zu Beginn der desaströsen Weltmeisterschaft 1994 schrieb die "FAZ", dass der deutsche Fußball noch nie so gut gewesen sei wie heute. Es war wohl auch die steigende kommerzielle Bedeutung des Fußballs, die dazu führte, kritische Stimmen als "Kulturpessimismus" zu denunzieren. Der Fußball wurde als Pop-Phänomen gegen eine bröckelnde Hochkultur in Szene gesetzt und daher ausschließlich affirmativ behandelt. Erst, als die deutsche Mannschaft bei der Vorrunde der Europameisterschaft 2000 gegen eine B-Elf Portugals unterlag und vorzeitig ausschied, schien Handlungsbedarf zu herrschen. Jürgen Klinsmann leitete schließlich einen Erneuerungsprozess ein, als er in der Vorbereitung auf die WM 2006 weitgehende Vollmachten an sich riss. Diese Leistung ist nicht hoch genug einzuschätzen. Yogi Löw profitiert sehr davon. Gebauer versäumt nicht, auf die Gefahren der Kommerzialisierung hinzuweisen, auf das Geschäftsgebaren und die undurchsichtigen Machtstrukturen bei der FIFA, auf die Möglichkeit, dass alles kippen könnte. Aber im Moment befinden sich die Deutschen wieder auf dem Höhepunkt einer Fußball-Euphorie. Lassen wir es den Philosophen am Schluss so formulieren:
    "Die serielle Erregung der Fußballspiele überlagert die Alltäglichkeit der Arbeitswoche. Die Routine des Lebens wird von einem Fest in Permanenz eingerahmt. Durch den Fußball hat das Fernsehen eine Dimension gewonnen, die weit über seine gewöhnlichen Sendungen hinausgeht: Es zeigt eine Wirklichkeit, die nach normalen Maßstäben unwahrscheinlich ist, aber durch seine Bilder die Botschaft vermittelt: Was du jetzt hier siehst, geschieht wirklich! In der mit Fiktionen vollgestellten Fernsehlandschaft erscheinen die Spielberichte, neben der Tagesschau und Heute, als letzte Botschaften aus der wirklichen Welt."
    Gunter Gebauer: Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs. Pantheon Verlag, München 2016. 318 Seiten, 14,99 Euro