Donnerstag, 18. April 2024

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Zeugnisse der NS-Zeit
Das Unsagbare zeichnen

In den Zwangs- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten wurde viel gezeichnet: um die Schrecken zu bewältigen oder um sich von der leidvollen Gegenwart zu distanzieren. Ganze Bildserien sind entstanden, einige von ihnen hat der Kunsthistoriker Jörn Wendland im Band "Das Lager von Bild zu Bild" zusammengestellt.

Von Henry Bernhard | 18.12.2017
    Das Buchcover der Neuerscheinung "Das Lager von Bild zu Bild - Narrative Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern" von Jörn Wendland. Im Hintergrund der Blick in einen leeren Raum des ehemaligen Konzentrationslagers Theresienstadt. rechts im Bild nur eine Reihe hölzerner Bettgestelle.
    Auch die Selbstbehauptung und Distanzierung vom Lager-Alltag und vom täglichen Sterben motivierte Häftlinge, sich mit ihrer Umwelt kreativ auseinanderzusetzen, trotz der Gefahr entdeckt zu werden. (Buchcover: Boehlau Verlag /Hintergrundbild: Imago /ZUMA press)
    "Zeichne, was du siehst!", forderte Otto Weiss seine 12-jährige Tochter Helga kurz nach der Ankunft im Ghetto Theresienstadt auf. Und Helga Weissová zeichnete. Ganze Bildserien. Mit Buntstiften, Bleistift und Wasserfarben. Die Erinnerung an das Zuhause der jüdischen Familie in Prag, Kinder beim Schneemannbauen in der Freiheit.
    Dann die Ankunft in Theresienstadt: Kinder, Frauen, Greise. Der kollektive Waschraum, die enge Schlafstatt. Die 12-Jährige skizziert den Alltag, das Schlangestehen fürs Essen, die Arbeit, das Wühlen im Abfall nach Essbarem, Kinder beim Spiel. Sie zeichnet Transporte, die in andere Lager gehen, in düsteren Farben. Und die, die gehen müssen, haben gar keine Gesichter mehr. Ausradierte Biographien. Sie zeichnet den Alltag im Ghetto, nüchtern und ohne Anklage.
    In ihrer Gesamtheit schildern die Bilder nicht nur eine Situation, sondern erzählen die ganze Geschichte von Helga Weissovás Zeit im nationalsozialistischen Ghetto Theresienstadt, wo sie mit ihren Eltern ab 1941 fast drei Jahre lang leben musste. Mehr als 100 Einzelbilder von ihr sind erhalten, die sich zu einer Erzählung verbinden.
    15 Bildserien und ihre Geschichte
    Der Kunsthistoriker Jörn Wendland hat mit seinem üppig ausgestatteten und bildreichen Band "Das Lager von Bild zu Bild. Narrative Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern" erstmalig einen umfassenden Blick auf diese besondere Art der Lagerbilder geworfen.
    "Gemeinsames Merkmal dieser Arbeiten ist, dass sie aus einer Sequenz bestehen, die mindestens zwei Bilder enthält. Angefertigt wurden die narrativen Bildserien sowohl von künstlerisch ausgebildeten Häftlingen als auch von Amateuren sowie Laien, die nie zuvor - und häufig auch nie mehr danach - gemalt und gezeichnet haben."
    Wendland stellt viele Fragen an die 15 Bildserien, die Häftlinge in verschiedenen nationalsozialistischen KZs, Ghettos und Internierungslagern hergestellt haben. Er beleuchtet ihre Entstehungsgeschichte, ihre Materialität, ihre Ästhetik, ihren Gehalt an Realismus, ihre Funktion sowohl für die Künstler als auch für die Rezipienten.
    Zeichnen als selbstbestimmtes Handeln
    Den meisten der zeichnenden Häftlinge ging es laut Wendland darum, Zeugnis abzulegen vom Geschehen, gerade angesichts der Tatsache, dass das Überdauern des Bildes wahrscheinlicher sein konnte als das eigene Überleben. Aber auch die Selbstbehauptung und Distanzierung vom Lager-Alltag und vom täglichen Sterben motivierte Häftlinge, sich mit ihrer Umwelt kreativ auseinanderzusetzen - trotz der Gefahr für Gesundheit oder gar Leben durch ein mögliches Entdecktwerden. Der entpersonalisierte, zur Nummer degradierte und aus der Zeit geworfene Häftling konnte so etwas Selbstbestimmtes schaffen und Kontakt zu seiner kulturellen Herkunft aufnehmen.
    "Allerdings war nicht nur der Rückgriff auf die frühere kulturelle Identität ein Zeichen der Selbstbehauptung, sondern auch der Akt des Malens oder Zeichnens selbst, die selbstbestimmende Auswahl des Bildthemas, der Komposition und des Zeichenstils. Denn der gesamte kreative Prozess des künstlerischen Schaffens bewirkte für einen kurzen Moment eine Kontrolle über das eigene Leben, die der Häftling normalerweise nicht mehr besaß. Neben der Funktion als Selbstbehauptung war die künstlerische Produktion für die Häftlinge ein wichtiges Mittel, sich von der lebensgefährlichen Realität des Lagerlebens zu distanzieren."
    Helga Weissová etwa malte neben dem Ghetto-Alltag bunte Träume von Freiheit, von Reisen um die Welt, von Zukunft. Auf einer von ihr gemalten Geburtstagskarte schleppen die Gäste fette Braten und üppige Torten zum Fest. Glückwunschkarten wiederum wurden in vielen Lagern bei den Künstlern regelrecht bestellt und mit Lebensmitteln bezahlt. Künstlerische Bildproduktion wurde hier zum Überlebensmittel - für den Käufer wie für den Künstler.
    Wendland schildert auch die Möglichkeiten der Bildproduktion in den verschiedenen Lagertypen - differenziert zwischen Auftragswerken etwa der SS, halblegalen und verbotenen Bildern. Er berichtet von Situationen, in denen das von der SS entdeckte Malen Häftlingen zum Todesurteil geriet. Er beschreibt raffinierte Verstecke, in denen Bilder ihren Maler und die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten überdauern sollten.
    Die Darstellung von Zeit
    Vieles hier Gesagte ist auch für andere künstlerisch-kreative Produktionen in Lagern gültig, für das Malen wie das Musizieren, das Theaterspielen wie das Singen. Spezifisch für die Bildserien aber, so der Autor, ist die Darstellung der Zeit. In einer Umwelt, die die Kontrolle über die Zeit weitgehend entzieht, haben die Bildproduzenten Zeit visualisiert und strukturiert. Die Zeit im Lager aber, so führt Wendland eingehend aus, verschwimmt, verliert an Konturen durch die Unmöglichkeit zu planen und durch die ständige Wiederholung des Immergleichen. Dies findet er auch in den Bildserien wieder.
    Selbst eine Serie, die explizit den Vorgang des industriellen Massenmords thematisiert, die Ankunft, Selektion, Entkleiden usw. präzise in einzelnen Bildern schildert, am Ende auch das Verbrennen in den Öfen, beschreibt keine bestimmte Zeit, sondern die tägliche Abfolge des Mordens. Und alle Bildserien, die den Massenmord thematisieren, lassen einen Schritt aus: Den Akt des Tötens. Selbst in Auschwitz war das draußen Unvorstellbare und drin Alltägliche unzeigbar. Die Vernichtung gerät zur "narrativen Leerstelle".
    Eine alptraumhafte Landschaft, die die sogenannte "Endlösung" darstellt. Illustration von Alessandro Lonati.
    Eine alptraumhafte Landschaft, die die sogenannte "Endlösung" darstellt. Illustration von Alessandro Lonati. (imago stock&people)
    "Eng verbunden mit dem mangelhaften Wissensstand war auch das psychologische Motiv, angesichts des Grauens die Fakten zu leugnen. Eine weitere Ursache dieser Bildlosigkeit war, dass die Häftlinge angesichts der Einzigartigkeit der massenhaften Ermordung auf keine bildnerischen Traditionen zurückgreifen konnten."
    Jörn Wendland nimmt die Bildserien ernst und auch deren Schöpfer. Als Historiker und als Kunsthistoriker. Dies tut den Werken gut. Und rückt sie uns näher, macht sie zum Teil unserer Welt und nicht zu Botschaften von der fernen Außenstelle des Bösen, die nichts mit uns zu tun hat.
    Am stärksten wird dies an einer Bildserie des Breslauer Juden Horst Rosenthal deutlich: Der zeichnete im Lager Gurs einen regelrechten Comic: ein 16-seitiges gebundenes Heft mit dem Titel "Mickey im Lager Gurs". Mickey Mouse von Walt Disney kommt ins Lager und betrachtet und kommentiert alle Zustände betont naiv, ironisch. Seine Essensration betrachtet er durch ein Vergrößerungsglas. Spätestens hier, in der Form der amerikanischen Popkultur im nationalsozialistischen Lager, wird dem Leser die Welt drinnen und draußen als unteilbar offenbar.
    Jörn Wendland: Das Lager von Bild zu Bild. Narrative Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern
    Böhlau Verlag, 409 Seiten, 70 Euro