Rezension über:

Mechthild Haas / David Dossi (Hgg.): Gestaltete Sehnsucht. Reiseplakate um 1900, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2016, 104 S., 65 Farbabb., ISBN 978-3-8030-3385-7, EUR 24,00
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Rezension von:
Lisa Hecht
a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Lisa Hecht: Rezension von: Mechthild Haas / David Dossi (Hgg.): Gestaltete Sehnsucht. Reiseplakate um 1900, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/30116.html


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Mechthild Haas / David Dossi (Hgg.): Gestaltete Sehnsucht

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Der vorliegende Katalog ist das Ergebnis der Ausstellung "Gestaltete Sehnsucht. Reiseplakate um 1900", die von Oktober 2016 bis Januar 2017 in der Graphischen Sammlung des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt zu sehen war. Mechthild Haas und Davide Dossi (beide HLMD) haben die Textbeiträge zu dieser Publikation verfasst. Die Ausstellung bildet den Auftakt zu einer geplanten Reihe, die sich in den nächsten Jahren unter verschiedenen Gesichtspunkten der Plakatsammlung des Hessischen Landesmuseums widmen soll (4). Als ansprechende Ouvertüre dient daher das gefällige Thema der Reiseplakate von den 1870er- bis zu den 1920er-Jahren.

Der schmale Band gibt sich im Cover sehr zurückgenommen mit einem Detail aus Jakob Friedrich Bollschweilers Plakat "Sommer in Graubünden" (1905). Der Blick der reitenden Dame in die ferne Gebirgslandschaft ist programmatisch sowohl für den Titel der Ausstellung als auch für die inhaltliche Klammer des Katalogs. Die Rückseite der Broschur überrascht indes mit einer Litfaßsäulen-Präsentation sich gegenseitig überlappender Exponate. Nach einem kurzen Vorwort leitet Mechthild Haas' Einführung in das Thema "Reiseplakate" in den ausführlichen Katalogteil über, der in chronologischer Reihenfolge die besprochenen Exponate präsentiert und analysiert. Anschließend informieren die von Monika Stöckl-Reinhard zusammengestellten Kurzbiografien über die Künstler der Ausstellung.

Sowohl der einleitende Aufsatz als auch die Katalogbeiträge zeichnen sich durch eine große Bandbreite an Informationen aus, die konzise und einleuchtend aufbereitet sind. Neben historischen, technischen und sozialen Hintergründen finden sich auch immer wieder detaillierte Beschreibungen der druckgrafischen Techniken sowie kunsthistorische Analysen und Vergleiche. Das Plakat um 1900 wird somit nicht als nostalgisches Relikt präsentiert, sondern als kulturhistorisches Objekt in seinen zahlreichen Dimensionen offen gelegt. Das kunsthistorische Interesse am Plakat, welches stets zwischen künstlerischem Anspruch und massenwirksamer Ansprache oszilliert, zeigte sich allein im vergangenen Jahr an mehreren Publikationen, die sich teils monografisch mit dem Werk einzelner Künstler befassten [1] sowie einzelne Themengebiete [2] oder Epochen [3] in den Fokus nahmen. Insbesondere die ebenfalls 2016 gezeigte Ausstellung "Der Zug der Zeit. Plakate der Deutschen Bundesbahn 1950-1980" des Kieler Stadt- und Schifffahrtsmuseums [4] stellt sicherlich eine wichtige historische Ergänzung zum Darmstädter Katalog dar.

"Alle Welt reist", zitiert Mechthild Haas Theodor Fontane zu Beginn ihrer Einführung (7). Fontanes überspitzte Beobachtung aus dem Jahr 1873 stellt somit den Ausgangspunkt für Ausstellung und Katalog dar. So begleiten die vorgestellten 40 Plakate gleichsam eine Ära rasanter technischer Innovationen vor allem im Bereich der Fortbewegung mittels Zug, Automobil oder Flugzeug. Davide Dossi trumpft dabei in seinen Katalogbeiträgen immer wieder mit detaillierten Exkursen zu Mechanik und Funktionsweisen dieser modernen Maschinen auf (25, 29). Neben den technischen Neuerungen, welche auf den Plakaten abgebildet sind, spielen auch die dem Medium eigenen Verfahren eine wichtige Rolle in den Analysen. Wiederholt wird der Leser auf die druckgrafischen Mittel der Farbverteilung in der Lithografie oder typografische Eigenheiten aufmerksam gemacht.

Daneben kommt die kunsthistorische Einordnung jedoch nur selten zu kurz. Das titelgebende Thema "Sehnsucht" wird vor allem bildkünstlerisch ausgehandelt, weshalb ikonografische Vorlagen und Vergleiche in den Katalogbeiträgen mehrfach von Bedeutung sind und dankenswerter Weise auch jeweils abgebildet werden. Manets berühmt-berüchtigtes "Frühstück im Grünen" (1863) wird dann zur Inspiration für eine Fahrradwerbung der Dresdner Firma Seidel & Naumann (18); Ferdinand Hodlers "Blick ins Unendliche III" (um 1905) zur Vorlage eines robusten Bergsteigers, der vom 'tonangebenden Haus für Sportausrüstung' in München ausgestattet ist (72). Gleich zweimal werden unterschiedliche Versionen von Anselm Feuerbachs "Iphigenie" (1862/1875) als Quelle für so manch sehnsuchtsvollen Ausblick herangezogen (54, 59). Von den teils allegorisch überhöhten Plakaten des Jugendstils vollzieht sich die "Gestaltete Sehnsucht" nach Ferne, Glück, Gesundheit, Abenteuer und Geschwindigkeit bis hin zu den schwindelerregenden Hochhäusern Düsseldorfs, welche auf dem Plakat von Hanns Herkendell lediglich für den Besuch des 52. Deutschen Gastwirtstages 1927 werben (92). Die Programmatik des Mediums, welches den öffentlichen Raum, den es zum Thema hat, gleichsam mitgestaltet, wird in dieser historischen Rundschau greifbar, in den begleitenden Texten allerdings kaum gestreift.

Nichtsdestoweniger öffnet der Darmstädter Katalog auf eindrückliche Art und Weise den Blick für das Reisen in seiner historischen Dimension sowie für das Plakatmedium in seiner Rolle als Artefakt und ästhetisches Objekt. So fährt die Werkauswahl mit Klassikern der Plakatkunst wie Alfons Mucha, Jules Chéret und Julius Klinger ebenso auf wie mit thematischen und künstlerischen Kuriositäten. Die Werbung für das gerade patentierte Dauerfrischbrot, das eine entscheidende Rolle als Proviant auf Langstreckenrallyes spielte (56), ist nur einer der amüsanten Blickpunkte dieser ansprechenden und zugleich äußerst informativen Publikation.


Anmerkungen:

[1] Karen Etingin: The Life and Art of Julius Klinger. Beyond Poster Art in Vienna, Montréal 2016.

[2] Barbara Martin: Zwischen Verklärung und Verführung. Die Frau in der französischen Plakatkunst des späten 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2016.

[3] John Christopher: British Posters of the First World War, Stroud 2016.

[4] Ausstellungskatalog Der Zug der Zeit. Plakate der Deutschen Bundesbahn aus der Sammlung des Kieler Stadt- und Schifffahrtsmuseums, Kiel 2016.

Lisa Hecht