Cover
Titel
Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945


Autor(en)
Gassert, Philipp
Reihe
Zeitgeschichte aktuell
Erschienen
Stuttgart 2018: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
308 S., 19 SW-Abb.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Henrik Meyer, Faculty of Humanities, University of Copenhagen / Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Im Juli 2018 versammelten sich in München unter dem Hashtag „#ausgehetzt – Gemeinsam gegen die Politik der Angst!“ circa 25.000 Menschen, um sich öffentlich gegen den in ihren Augen hetzerischen Ton führender Vertreter der CSU in der Migrations- und Flüchtlingsdebatte zu wenden. Dieser Protest traf die bayerische CSU im Landtagswahlkampf so empfindlich, dass sie mit einer Anzeigen- und Plakatkampagne ihrerseits den Protestierenden Hetze vorwarf.1 Ganz offenbar ist auch im Zeitalter der sozialen Medien Straßenprotest keineswegs ein Auslaufmodell demokratischer Auseinandersetzung. Im Gegenteil: Die Partizipation an Straßenprotesten habe sich stark verbreitert, veralltäglicht und als allgemein akzeptiertes Verhalten normalisiert, so eine der Kernbeobachtungen in Philipp Gasserts jüngst erschienenem Band „Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945“ (S. 25). Nicht mehr nur Arbeiter und Linke, sondern vermehrt bürgerliche Kreise und zunehmend auch Rechte tragen ihren Unmut und ihr Ressentiment per Straßenprotest in die Öffentlichkeit. Rechte eignen sich dabei Protestformen an, die sich spätestens seit den 1970er-Jahren auf der anderen Seite des politischen Spektrums etabliert haben.

Der Mannheimer Zeithistoriker Gassert, der selbst vor allem zu „linkem“ Protest um 1968 und gegen die Nachrüstung der 1980er-Jahre geforscht hat, legt mit seinem Band erstmals eine Gesamtdarstellung über Protest „auf der Straße“ in beiden deutschen Staaten vor. Der „rechte“ Protest der Gegenwart ist ihm dabei Anlass, diesen historisch einzuordnen, also Kontinuitäten und Vorläufer zu betrachten. Damit legt Gassert blinde Flecken in der bisher vor allem sozialwissenschaftlichen Protest-Forschung offen, zum Beispiel die Tendenz, „rechten“ Protest definitorisch als etwas fundamental Anderes zu behandeln und damit aus der analytischen Perspektive verschwinden zu lassen (S. 249f.). Gassert dagegen argumentiert, dass Inhalte und politische Zielrichtungen von Protest keine Ausschlusskriterien bei der Untersuchung sein dürften. Im Gegenteil sei es gewinnbringend, verschiedenste Stränge von Protest gegenüberzustellen (S. 263f.).

Gassert liefert nicht nur einen empirisch beeindruckend umfassenden Überblick zu mehr als 70 Jahren Protestgeschichte, sondern ist auch konzeptionell stark. Er fragt nach den Auswirkungen, Erfolgen und Erfolgsbedingungen von Protest und bedient sich des theoretischen Repertoires der Bewegungs-Forschung. Protest – so definiert Gassert in Anlehnung an die Sozialwissenschaft – trage die Ziele der Protestierenden als wichtige Themen in die Öffentlichkeit, um „kollektiven Ausdruck von Unzufriedenheit an einem bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustand“ zu geben (S. 26). Gassert unterscheidet die „expressive“, identitätsstiftende Bedeutung von Protest für die Bewegungen selbst von deren „instrumenteller“ Bedeutung und argumentiert, dass die historische Bilanz der vergangenen 70 Jahre kaum Anlass biete, Protest als wirksamstes Mittel politischen Handelns zu betrachten. Dagegen sieht er Protest als wichtigen Indikator gesellschaftlicher Krisen, auf den politische Eliten wiederum oft reagierten.

Die zentrale These des Bandes bezieht sich auf den historischen Wandel. Im Verlauf der Nachkriegszeit habe sich die Stoßrichtung des Protests verschoben: von einer linken Kritik an den bestehenden Verhältnissen – „promodern, transformierend, modernisierend“ (S. 23) –, mit der wir Protest gemeinhin verbinden, hin zu einer „bewahrende[n], konservative[n], ‚konformistische[n]‘ Grundhaltung“ (S. 25). So habe sich die Anti-AKW-Bewegung der 1970er- und 1980er-Jahre gegen eine technokratische Modernisierung gewandt, genau wie der Protest gegen Stuttgart 21 heute. Ähnlich richte sich linke und rechte Globalisierungskritik gegen eine „neoliberale“ Modernisierung. In diese zunehmend konservative Ausrichtung von Protest fügten sich auch die jüngsten rechten Proteste ein, deutet Gassert eine Kontinuitätslinie an.

Diese These provoziert zur Debatte. Vor allem Gasserts Verwendung des binären Gegensatzes von konservativ vs. modern erscheint begrifflich problematisch. So argumentiert Shmuel N. Eisenstadt2, dass es sehr verschiedene Moderne-Projekte gab und gibt, die sich auf der Ebene von Institutionen, Strukturen, Kulturen und Zielen unterscheiden. Beispielsweise war die Anti-AKW-Bewegung am Oberrhein nicht nur konservativ-rückwärtsgewandte Verteidigerin einer vormodernen Idylle von Winzern und Kleinbauern und ihrer linken Verbündeten, wie es vor allem die Befürworter der Atomkraft oft verlautbarten. Im Gegenteil, sie kritisierte primär eine bestimmte Version von Moderne, nämlich diejenige der staatszentrierten und technokratischen Industriemodernisierung. Atomkraftgegner waren offen für moderne Wissenschaft, bauten Gegenexpertise auf und legten die Grundlagen für Energiewende und Öko-Modernisierung. Auch ihre demokratische und grenzüberschreitende, europäische Ausrichtung lässt sich als gesellschaftliche Modernisierung werten.3

In neun thematischen Kapiteln verfolgt Gassert die deutsch-deutsche Protestgeschichte grob chronologisch. Ausführlich diskutiert er die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kontexte, in denen jeweils Protest stattfand, unter anderem die Implikationen fehlender Öffentlichkeit in der DDR. Der Autor beginnt mit der weitgehend vergessenen Protestgeschichte der Besatzungszeit. Zunächst protestierten nämlich die sogenannten Displaced Persons gegen deutschen Rassismus. Protest von Deutschen fing mit den „Hungerrevolten“ an, dem Widerstand gegen Demontagen und dem Protest der Flüchtlinge, Vertriebenen und Besatzungsgeschädigten. Hier zeigte sich ein – zeitlicher und kausaler – Zusammenhang von Protest und der sich entwickelnden westdeutschen Staatlichkeit als Adressat der Forderungen. Völlig verschwunden aus der öffentlichen Erinnerung sind der westdeutsche Generalstreik und der „Stuttgarter Tumult“ vom Oktober 1948 gegen die Folgen der Währungsreform. Offenbar passten diese Proteste nicht in die schon im Kalten Krieg kodifizierte lineare Wirtschaftswunder-Erzählung. Der Protest selbst war nur von kurzer Dauer und Gassert zufolge sehr effektiv: Ludwig Erhard als Wirtschaftsdirektor des Bizonen-Wirtschaftsrats sei rasch auf die Forderungen der protestierenden Arbeiter eingegangen, indem er im November die Löhne freigegeben habe (S. 50).

Einen augenfälligen Kontrast dazu sowohl auf der Ebene des Ereignisses als auch der Erinnerungskultur bildet der im zweiten Kapitel diskutierte 17. Juni 1953 in der DDR. Hier eskalierte der Protest, weil die DDR-Führung die sich zuspitzende Situation falsch einschätzte und nur mithilfe der Sowjet-Truppen in der Lage war, ihre Autorität zu behaupten. Im Gefolge versuchte die DDR-Führung jedweden Dissens mit Repression zu unterbinden, während die Bundesrepublik den 17. Juni erinnerungspolitisch ausschlachtete.

Kapitel 3 diskutiert Friedensbewegung, Arbeiter- und Jugendproteste der 1950er-Jahre und ordnet diese in den Kontext sozialen und wirtschaftlichen Wandels hin zur Konsumgesellschaft ein. Diesen Wandel hebt Gassert auch als wichtigen Kontextfaktor für „1968“ hervor, was in Kapitel 4 behandelt wird. Gassert definiert die Bedeutung dieses Jahres – und vor allem seiner Träger(innen)gruppen4 – nicht explizit, sondern verweist auf die Kulmination von Protestereignissen um 1968. Die Analyse fokussiert auf die neue Linke, den globalen Anspruch der „68er“ und den Generationenkonflikt um die NS-Vergangenheit, ein damals keineswegs neues Thema, das von der 68er-Bewegung aber bewusst provokativ eingesetzt worden sei. Gassert deutet „1968“ mehr als „Indikator“ denn „als Motor des Wandels“ (S. 130) und verweist besonders auf die veränderten medialen Bedingungen des Fernsehzeitalters, die die Protestierenden virtuos zu bedienen wussten (S. 129f.).

Der Protest der 1970er- und 1980er-Jahre ist Thema der Kapitel 5 und 6. Die von der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Forschung als solche definierten „Neuen Sozialen Bewegungen“, insbesondere die (neuen) Frauen-, Friedens- und Umweltbewegungen trugen neue Themen in die Öffentlichkeit und probierten neue Protestformen aus. Gassert diskutiert deren Innovationsanspruch durchaus kritisch und stellt ihm den ebenfalls radikalisierten Protest der traditionellen Gewerkschaftsbewegung gegenüber, vor dem Hintergrund von Ölkrisen und industriellem Strukturwandel.

Im Kapitel 7 wendet sich Gassert noch einmal „Widerstand, Protest, Bewegung“ in der DDR zu, nun für die Zeit ab den 1970er-Jahren. Im Gegensatz zur öffentlichen Erinnerung an die Ereignisse vom Herbst 1989 als „Volksaufstand“ (S. 207) schätzt er deren Einfluss auf das Ende des sozialistischen Regimes eher gering ein und hebt stattdessen die veränderte sowjetische Politik hervor (S. 204f.).

Die Kapitel 8 und 9 widmen sich den linken und rechten Protestbewegungen nach dem Ende des Systemkonflikts und damit der „Protestgeschichte der Gegenwart“. Nun richtet sich der öffentliche Widerspruch gegen den „hegemonialen Liberalismus“ und die Globalisierung (S. 210). Gassert verfolgt die Wurzeln linken Protests bis ins West-Berlin der späten 1980er-Jahre. Zudem ergründet er die längerfristigen Ursachen für fremdenfeindliche Proteste und Ausschreitungen seit den 1990er-Jahren: etwa die „Lebenslügen“ der Migrationspolitik vor und seit dem maßgeblich auch durch die Gewerkschaften geforderten Anwerbestopp von 1973 (S. 254) und die versäumte Reform des Staatsbürgerrechts, die Helmut Kohl im Sinne des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 Anfang 1991 mit dem Satz ablehnte, Deutschland sei „kein Einwanderungsland“ (S. 246).

Alles in allem liefert Philipp Gassert eine reflektierte, gleichzeitig sehr spannend zu lesende Zeit- und Sozialgeschichte öffentlichen Protests seit 1945. Gut ausgewählte Abbildungen illustrieren das im Text Dargestellte. Dieser erstklassige Überblick ist hervorragend geeignet für die Lehre, die politische Bildung und den Unterricht in der Oberstufe. Das Buch macht Lust darauf, ausgehend von den Anmerkungen weiterzulesen, um auch über einige vergessene Epochen deutscher Protestgeschichte mehr zu erfahren.

Anmerkungen:
1 Heribert Prantl, #ausgehetzt-Demo in München. Die CSU hat Angst, in: Süddeutsche Zeitung (Online), 22.07.2018, https://www.sueddeutsche.de/muenchen/csu-ausgehetzt-kommentar-prantl-1.4065028 (15.08.2018).
2 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 129, 1 (2000), S. 1–29, http://www.havenscenter.org/files/Eisenstadt2000_MultipleModernities.pdf (15.08.2018); ders., Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den „Multiple Modernities“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, http://www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3171 (15.08.2018).
3 Stephen Milder, Greening Democracy. The Anti-Nuclear Movement and Political Environmentalism in West Germany and Beyond, 1968–1983, Cambridge 2017; rezensiert von Eva Oberloskamp, in: H-Soz-Kult, 30.10.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-27781 (15.08.2018).
4 Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018.