S. Grüner u.a. (Hrsg.): Wirtschaftsräume und Lebenschancen

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Titel
Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischem Wandel in Deutschland 1945–2000


Herausgeber
Grüner, Stefan; Mecking, Sabine
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 114
Erschienen
Berlin 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 331 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Eiben, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Historische Studien zum sozialökonomischen Strukturwandel besonders der 1970er-Jahre und seinen mannigfaltigen Effekten füllen mittlerweile nicht nur Fußnoten und etliche Regalmeter, sondern auch den Tagungskalender. Auf eine solche Tagung, veranstaltet im März 2013 von Stefan Grüner und Sabine Mecking, geht der hier zu besprechende Sammelband zurück, dessen Untersuchungszeitraum die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist.1 Im Zentrum der Konferenz wie des Buches stand bzw. steht eine Historisierung des Strukturwandels im Hinblick auf die „Träger, Deutungen und Instrumente von Strukturpolitik jenseits und unterhalb der nationalen staatlichen Ebene“ (S. 2, dortige Hervorhebung). Mit dieser Perspektive sowie ihrer Anwendung auf die Entwicklung in beiden deutschen Staaten sollen, so Grüner und Mecking, bis dato eher vernachlässigte Bereiche erschlossen werden. Diesem Ziel wird der Sammelband zwar durchaus gerecht, allerdings sei vorab bereits kritisch bemerkt, dass die versammelten Einzelstudien eher schwach miteinander verschränkt sind. Daran ändert auch die Einführung nichts, in der die Herausgeberin und der Herausgeber die übergreifenden Fragen und Forschungslücken systematisieren. Neben dem bereits genannten Mangel an Historisierung von Strukturpolitiken unterhalb der gesamtstaatlichen Ebene fehle es auch an Arbeiten, die den Strukturwandel in Beziehung zu Wirtschaftsregionen setzten, sowie an Forschungen in Richtung einer „vergleichenden Regionalanalyse“ (S. 11).

Neben der Einleitung umfasst der Band sechzehn Beiträge, von denen jeweils vier einen eigenen Abschnitt bilden. Der erste Teil betrifft die „Rahmenbedingungen“ strukturpolitischen Handelns in beiden deutschen Staaten und eröffnet mit einem Beitrag Michael Rucks, der auf zahlreichen früheren Publikationen des Autors beruht, und über diese insofern hinausweist, als er nunmehr sechs (statt der bisherigen fünf) Phasen des bundesrepublikanischen Planungsdiskurses identifiziert. Rucks Ausführungen wie auch die Periodisierung sind plausibel und für weitere Arbeiten anschlussfähig, werden allerdings im Sammelband an keiner Stelle wieder aufgegriffen. Stefan Grüner und Jörg Roesler erläutern dann strukturpolitische Praktiken am Beispiel der Industriepolitik für die Bundesrepublik und die DDR. Für den Westen legt Grüner überzeugend dar, dass es sich bei der „bundesdeutsche[n] Industriepolitik“ vorwiegend um „Krisenpolitik“ gehandelt habe, „die sich mit den vom strukturellen Wandel besonders schwer betroffenen Branchen“ befasste (S. 41). Im Unterschied dazu zielte die Strukturpolitik der DDR bis zum Fünfjahresplan 1976–1980 vor allem darauf ab, sektorale und räumliche Strukturen zu harmonisieren, um eine „Überwindung ungerechtfertigter wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede zwischen den Gebieten“ zu erreichen, wie Roesler ohne Angabe der Belegstelle zitiert (S. 73). Die regionale Ebene Westdeutschlands mit ihren Verwaltungs- und Gebietsreformen steht im Fokus Sabine Meckings, die anhand von Strukturplanungen der 1960er- und 1970er-Jahre ganz ähnliche Ziele aufzeigt – aber dies leider nicht mit Roeslers Befunden vergleicht. Bei der Neuordnung von Verwaltungsverhältnissen spielten sowohl administrative und fiskalische Überlegungen als auch „Leitbegriffe wie Chancengerechtigkeit und Stärkung der Demokratie eine wichtige Rolle“ (S. 89).

Im zweiten Abschnitt werden unternehmerisches und politisches Handeln anhand konkreter Beispiele näher betrachtet. In einem eher deskriptiven Beitrag schildert Stefan Goch die Geschichte verschiedener Strukturprogramme im Ruhrgebiet von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart. Für weitere Forschungen sind seine Randbemerkungen zum Ruhrgebiet als einer Art Labor für nordrhein-westfälische Strukturpolitiken anregend. Mit dem Klöckner-Konzern, der Stahlwerke in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen unterhielt, stellt Karl Lauschke anschließend ein sehr gut gewähltes Beispiel für interregionale Vergleiche von Standortbedingungen und Strukturpolitiken vor. Sein Befund, dass makroskopische Begründungsmuster für Branchenwandel nicht hinreichend sind, sondern „gerade in Zeiten der Krise auch maßgeblich von politischen Kräften nicht zuletzt auf der Mesoebene beeinflusst“ werden (S. 118), ist nur zu unterstreichen. Dass in diesem Zusammenhang allerdings auch branchenspezifisch zu differenzieren ist, zeigt der folgende Beitrag Karl Ditts zur westdeutschen Textilindustrie, die durch die Bundesebene einer „passive[n] Sanierung“ (S. 147 und Aufsatztitel in Anführungszeichen) ausgesetzt wurde und seitens der Länder ebenfalls wenig Unterstützung erhielt. Den Abschnitt beschließt Rainer Karlschs Beitrag über Entstehung und Wandel von drei industriellen Standorten in der DDR: die Warnowwerft in Warnemünde, das Eisenhüttenkombinat Ost in Eisenhüttenstadt und das petrochemische Werk Leuna II. Seine Schwerpunkte legt er dabei auf die 1940er- und 1950er-Jahre sowie auf die Zeit nach dem Ende des ostdeutschen Staates.

Der dritte Teil ist den bis zu diesem Punkt ausgeblendeten „Wahrnehmungen und Deutungen“ strukturpolitischer Diskurse gewidmet; hier geht es ausschließlich um bundesdeutsche Beispiele. Thomas Schlemmer untersucht das Verhältnis zwischen „Strukturwandel und Kommunikationsstrategien“ (S. 172) in Bayern und Baden-Württemberg. Neben den im Einzelfall interessanten Beobachtungen zu Gemeinsamkeiten und (dahinter zurücktretenden) Unterschieden ist vor allem ein Befund bemerkenswert: Schlemmer zeigt, dass in einigen Regionen dieser beiden Bundesländer sehr viel länger an die „Versprechungen der industriellen Moderne“ (S. 188) geglaubt wurde als in anderen Teilen der Bundesrepublik, was, so schließt er, neue Fragen zur Periodisierung des „Booms“ und seines „Danach“ aufwirft. In den beiden folgenden Beiträgen von Veit Damm sowie von Lu Seegers und Christoph Strupp stehen wirtschaftspolitische Persistenzen im Zentrum. In seiner Beschäftigung mit der saarländischen Montanindustrie argumentiert Damm, dass die Auseinandersetzungen über deren „Neugestaltung“ ihre Beschränkung in der „beschäftigungspolitischen Abhängigkeit von der Montanindustrie“ gefunden hätten (S. 205). Seegers und Strupp skizzieren für die kurze Phase der Hamburger Industrieansiedlungspläne der 1960er-Jahre den wirtschaftspolitischen Balanceakt zwischen traditionellem hanseatischem Selbstbild und Forderungen nach „einer breiteren wirtschaftlichen Basis“ (S. 208). Den Abschnitt beschließt Thorsten Harbekes Auseinandersetzung mit touristischen Strukturpolitiken anhand des küstennahen schleswig-holsteinischen Städtchens Burg. Neben seiner überzeugenden „Mikro-Analyse“ (S. 225) eines Architekturwettbewerbes, bei der er auch visuelle Quellen einbezieht, ist sein Befund zur ungleichen Verteilung von Handlungsmacht interessant: Die Strukturpolitiken des schleswig-holsteinischen Tourismus seien in erster Linie von wirtschaftlichen Akteuren vorangetrieben worden, denen die „Politik in den ersten Jahren nur wenig entgegenzusetzen hatte“ (S. 248).

Der vierte und letzte Teil ist „Arbeitsgesellschaft und Unternehmen“ gewidmet. Für die Beziehungen zwischen „Urbanisierungspolitik“ und der „ideologischen Leitfigur des Arbeiters in städtischen Kontexten“ zeigt Christoph Bernhardt, dass die DDR-Strukturpolitik „raumwirtschaftlich und legitimationspolitisch“ (S. 266) durchaus erfolgreich war. Wesentlicher ist indes seine Beobachtung einer sich vergrößernden „Kluft“ zwischen „Urbanisierungsideologie und -politik“ auf der einen und der „vielfältigen, sozial heterogenen Sphäre des Urbanen“ auf der anderen Seite (S. 267). Mit Blick auf die Versorgung von Rentnern und Rentnerinnen sowie von Menschen mit Behinderung schildert Dierk Hoffmann anschließend die Schattenseiten der Privilegierung von Arbeiterinnen und Arbeitern. Anhand von Eingaben Betroffener legt er dar, dass und wie diese Gruppen durch die DDR-Politik systembedingt marginalisiert wurden. Sebastian Voigt zeichnet strukturpolitische Themen in den Programmen des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die Jahre zwischen der bundesrepublikanischen Konjunkturkrise 1966/67 und dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 nach. Von Bedeutung erscheint dabei unter anderem, dass sich die Ausrufung von Krisen jeweils mit neuen Forderungen nach wirtschaftspolitischer Steuerung verband. Den Band beschließt Susanne Hilgers Auseinandersetzung mit mittelständischen Unternehmen in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen. Obwohl es sich, wie sie mehrfach betont, um erste Überlegungen für eine interregionale Vergleichsperspektive handelt, kommt Hilger doch zu einigen belastbaren Ergebnissen. So zeigt sich, dass alle drei Bundesländer in der Fläche „stark mittelständisch geprägt“ (S. 318) und mittelständische Unternehmen alles andere als „‚strukturkonservativ‘ und ‚globalisierungsuntauglich‘“ (S. 319) waren.

Mit dem Band liegt eine facettenreiche Sammlung sehr unterschiedlicher Einzelstudien vor, an der es aus meiner Sicht zumindest zwei Kritikpunkte gibt. Erstens beschäftigen sich lediglich vier der sechzehn Beiträge mit der DDR, was bei einem Buch, das sich einer deutsch-deutschen Perspektive verschreibt, etwas erstaunt. Zweitens taucht der Begriff der Krise immer wieder auf, ohne dass geklärt wird, worum es sich dabei genau handelt – und aus wessen Perspektive jeweils. Dies ist in vielen Fällen sicher lässlich, aber für einen Band, der sich bereits im Titel auch der „Wahrnehmung“ von Wandel verschrieben hat, ist es problematisch, denn gerade der Krisenbegriff verweist deutlich auf die Ebene der Wahrnehmungen.2 Positiv ist hervorzuheben, dass viele Beiträge gut recherchiert sowie für das Nachdenken über den Strukturwandel erhellend und weiterführend sind. Der Band ist auch deshalb ein Gewinn, weil die Autorinnen und Autoren regionale und lokale Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche aufdecken.

Anmerkungen:
1 Siehe auch den Bericht von Viktoria Durnberger, Stefan Grüner und Sabine Mecking, in: H-Soz-Kult, 15.06.2013, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4858 (25.07.2017).
2 Siehe zuletzt: Rüdiger Graf / Konrad H. Jarausch, ‚Crisis‘ in Contemporary History and Historiography, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 27.03.2017, http://docupedia.de/zg/Graf_jarausch_crisis_en_2017 (25.07.2017).