Rezension über:

Christoph Kienemann: Der koloniale Blick nach Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 310 S., 5 Farb-, 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78868-9, EUR 69,00
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Rezension von:
Dieter Langewiesche
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Rezension von: Christoph Kienemann: Der koloniale Blick nach Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 1 [15.01.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/01/31374.html


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Christoph Kienemann: Der koloniale Blick nach Osten

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Der Autor will fünf Fragen beantworten: Lässt sich der Osteuropadiskurs im Kaiserreich als ein kolonialer Diskurs verstehen? Welche Elemente prägten ihn? Wie hing er mit den kolonialen Überseediskursen zusammen? Welchen Einfluss übte der Osteuropadiskurs auf die politischen Entscheidungen im Kaiserreich aus? Welche Bedeutung besaß er für "die nationale Identität der Deutschen"? (11)

Zu den ersten drei Fragen bietet das Buch reiche Auskünfte, die über den bisherigen Forschungsstand weit hinausgehen. Die vierte würde eine eigene Studie mit anderen Ansätzen und anderen Quellen erfordern, um das Handeln politischer Akteure in Bereichen, auf die Kolonialdiskurse vermutlich Einfluss ausübten, in den Blick zu bekommen. Am besten gelingt das hinsichtlich der preußischen Germanisierungspolitik gegenüber den Polen, da hierzu eine breite Forschung vorliegt. Zudem kann Kienemann den I. Weltkrieg als eine Zäsur ausweisen. Erst danach wurden deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa zu einem Objekt deutscher Regierungspolitik. Das hatten die gesellschaftlichen Diskurse bis 1914 nicht zu erreichen vermocht. Die fünfte Frage nach "der" nationalen Identität "der" Deutschen benennt den problematischen Teil dieser Studie - die Annahme, die Bevölkerung eines Staates, der sich als Nationalstaat versteht, verfüge über eine gemeinsame Identität. Doch zunächst zum starken Teil der Dissertation (Carl von Ossietzky, Universität Oldenburg).

Nach einer ausführlichen methodologischen Einführung in die Diskurs- und Stereotypenforschung bietet Kapitel 3 den Hauptteil: die Analyse der diskursiven Konstruktionen des östlichen Europas als kolonialer Raum. Die Quellengrundlage besteht aus einer Vielzahl von Zeitschriften (Fach- und Bildungszeitschriften) und wissenschaftlichen Monografien, die im Untersuchungszeitraum erschienen sind. Auswahlkriterium ist der wissenschaftliche Anspruch in der Beschäftigung mit Osteuropa.

Kienemann zielt stets darauf, das Koloniale im deutschen Osteuropadiskurs herauszuarbeiten. Das gelingt ihm überzeugend, indem er Ansätze, Methoden und Ergebnisse der Kolonialismusforschung aufnimmt und sein Quellenmaterial damit erschließt. Wichtige Elemente des Kolonialen sind die "Leere" und die "Herrenlosigkeit" des Raumes. Die Menschen, die in ihm leben, nutzen ihn nicht produktiv oder lassen das, was einst bereits erschlossen worden war, vor allem durch deutsche Siedler, wieder verfallen. Der Kolonialraum im Osten Europas, den die Diskurse mit dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität entwerfen, erscheint als ein chaotischer Raum, der auf seinen Herrn wartet, um durch dessen überlegene Kulturfähigkeit erschlossen zu werden. Die Geografie leistete ihren Beitrag, wenn sie "Naturräume" entwarf, die den Staatsräumen der Gegenwart entgegenstanden, oder Karten zeichnete, die deutschsprachige Siedlungen im östlichen Europa als koloniale Pioniere erscheinen ließen. Historiker legitimierten mit ihren Mitteln diesen kolonialen Anspruch, indem sie frühere Siedlungsbewegungen in eine direkte Kontinuität zum zeitgenössischen Kolonialismus stellten. Die Deutschen wurden so zu einem Volk mit langer historischer Kolonialerfahrung. Ihren eigenen Nationalstaat erreichten sie zwar erst spät, doch ihre koloniale Tradition reiche weiter zurück als die der meisten anderen Kolonialmächte. Das wurde als historische Begründung für den Anspruch verstanden, nun auch im Überseekolonialismus eine wichtige Rolle spielen zu können. Auch Veit Valentin argumentierte in seiner "Kolonialgeschichte der Neuzeit" (1915) so. Historiker begründeten aus der Geschichte koloniale Erwartungen an die Zukunft. Vor allem wurde ein Wissen produziert, das über politische Gräben hinweg geteilt werden konnte. Dazu gehörten die "Vorstellungen eines deutsch-polnischen Kulturgefälles" (120), das man der Vergangenheit entnahm und in der Gegenwart bestätigt wähnte. Daraus konnte ein kultureller Missionsauftrag im Sinne eines Zivilisierungskolonialismus abgeleitet werden, aber auch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verstärkt ein rassistisch begründeter Kolonialismus, der von einem unüberbrückbaren Gefälle ausging.

Welcher Raum jeweils mit Osteuropa gemeint war, erschließt Kienemann so präzise wie es die Quellen zulassen. Wenn der Osten als ein Raum misslungener Staatsbildung gesehen wurde, spielte der Begriff Deutsche Arbeit wie auch im Überseekolonialismus eine zentrale Rolle. Doch im Afrikadiskurs war die Kulturgrenze hermetischer als im Osteuropadiskurs, wenngleich auch hier die Biologisierung eine Rassenschranke errichten konnte, die das koloniale Programm einer kulturellen Assimilierung "nach oben" verwarf.

Ein Abschlusskapitel "Perspektiven und Ausblicke" erörtert differenziert, was die eigenen Ergebnisse bedeuten für die kontroversen Debatten über Kontinuitäten in der Genozidgeschichte ("Von Windhuk nach Auschwitz?"), über Hitlers Pläne zu den deutschen Minderheiten in Osteuropa und zur Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa nach dem II. Weltkrieg als einer Form der Dekolonisierung.

Zu den Leitfragen des Autors gehört, wie der Osteuropadiskurs eine koloniale Identität als eine spezifische Form "der nationalen Identität der Deutschen" erzeugt habe. Der Identitätsbegriff gehört zu den schillerndsten Begriffen, mit denen wissenschaftlich gearbeitet wird. In der Sozialpsychologie wird er ausgehend von Henri Tajfel präzise und eng definiert, in vielen Fächern, auch in der Geschichtswissenschaft, ist er eher eine Metapher für die unterstellte Einheit eines Kollektivs. So auch bei Kienemann. Er verweist zwar auf Lutz Niethammer, beherzigt aber nicht dessen Mahnung, auf dieses "Plastikwort" lieber zu verzichten. Wenn ich auf meine lange Beschäftigung mit der Nationsforschung zurückblicke, ist mir nirgendwo "die" nationale Identität im Singular begegnet. Es sei denn als Kampfbegriff. Nationsbildung war immer ein umkämpfter Prozess, der nie endet. Die Wortführer des Osteuropadiskurses konnten ihre kolonialen Identitätskonstruktionen nicht in "die" nationale Identität "der" Deutschen einschreiben. Sie mussten sich mit einer Vielfalt von Identitätsentwürfen auseinandersetzen, mit ihnen konkurrieren, sie zu ersetzen oder zu ergänzen suchen. Diese Konkurrenz ist bislang für Deutschland nicht systematisch erforscht worden. Kienemanns Studie trägt dazu einen wichtigen Baustein bei. Seine durchgehende Annahme, es hätte "die" deutsche Identität gegeben, verdeckt jedoch die Schwierigkeit, den Ort der kolonialen Osteuropadiskurse in der politischen Arena der Vielfalt nationaler Selbstbilder und ihres Wandels zu bestimmen.

Dieter Langewiesche