Rezension über:

Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2019, 512 S., 54 Abb., 6 Tbl., 9 Kt., ISBN 978-3-406-72708-5, EUR 32,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Frank Becker
Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Frank Becker: Rezension von: Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München: C.H.Beck 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/11/32716.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer

Textgröße: A A A

Die Geschichte des neuzeitlichen Europas ist von einer extrem hohen Frequenz kriegerischer Verwicklungen geprägt. Über die Ursachen dieses "Bellizismus" (Jörn Leonhard) ist schon viel nachgedacht und geschrieben worden - zumeist allerdings nur am Beispiel einzelner Kriege, besonders kriegerischer Phasen oder in eher abstrakt-philosophischer Form. Eine systematische Untersuchung, die die europäische Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart konsequent aus der Perspektive des Krieges betrachtet, und dabei nicht nur die Art und Weise der Kriegführung, sondern auch die mit dem Krieg verbundenen politisch-sozialen Ziele und Folgewirkungen in den Blick nimmt, stand bisher noch aus.

Nun ist dieses Desiderat erfüllt. Mit Dieter Langewiesche ist ein Autor angetreten, wie er für eine solche Aufgabe nicht besser geeignet sein könnte - hat sich Langewiesche doch im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereichs "Krieg und Kriegserfahrung in der Neuzeit" (1999-2008) fast ein Jahrzehnt lang mit der Thematik befasst. Im Folgejahrzehnt bis zur Fertigstellung des Manuskripts hat er seine Expertise noch weiter ausgebaut: Über seinen bisherigen Arbeitsschwerpunkt im 19. Jahrhundert ins 18. und 20. Jahrhundert hinein; über die deutsche und europäische Geschichte zur Globalgeschichte, sofern europäische Staaten in weltumspannende militärische Konflikte verwickelt waren.

Diese Globalisierung der Perspektive erlaubt es dem Verfasser beispielsweise, die Geschichte der Hegung bzw. Enthegung des Krieges in Europa neu zu perspektivieren. Hatte lange Zeit der gehegte, das heißt als ein Duell von regulären Armeen unter weitgehender Schonung der Zivilbevölkerung geführte Krieg als die Normalform der Kriegführung gegolten, die Formen der Enthegung wie der Freischärlerkrieg immer wieder bedrohten, so erweist sich bei der Einbeziehung außereuropäischer Länder und Kriegskulturen, dass die Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung in den Kampf bei verwischter Grenze zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten weitaus häufiger, ja fast durchgehend zu beobachten ist. Die Entwicklung in Europa stellt also einen Sonderfall dar, einen Fall im Übrigen, der sich im 18. Jahrhundert nur langsam herausbildete, im 19. Jahrhundert gefährdet blieb und den die Weltkriege im 20. Jahrhundert schon wieder massiv in Frage stellten.

Die Studie entfaltet ihre Systematik in vier Großkapiteln. Das erste liefert eine Gesamtdarstellung der Kriege, mit denen europäische Staaten seit dem 18. Jahrhundert die globale Ordnung gestalteten; im zweiten geht es um Wechselwirkungen zwischen Revolution und Krieg - also darum, wie Revolutionen durch Kriege ausgelöst und forciert wurden, aber auch konterrevolutionäre militärische Aktionen provozierten; das dritte analysiert die Rolle des Krieges bei Nationalstaatsgründungen, die oftmals durch die gewaltsame Loslösung aus Großreichen oder die Zusammenfassung von kleineren Herrschaftsgebilden herbeigeführt wurden; das vierte demonstriert, wie sowohl der Kolonialerwerb als auch die Dekolonisation von Kriegen begleitet waren. Dieses letztere Kapitel greift auch die Frage nach den unterschiedlichen Formen der Kriegführung noch einmal auf. Was die europäischen Staaten aus ihrer eigenen militärischen Tradition kannten, funktionierte auf anderen Kontinenten oftmals nicht - wenn die Feinde offenen Feldschlachten auswichen oder nach verlorenen Gefechten nicht kapitulierten, sondern den Widerstand mit allen verfügbaren Menschen und Mitteln aufrechterhielten. Die Kolonialmächte reagierten darauf mit einer Strategie der verbrannten Erde, die in vielen Fällen auch den Genozid einschloss.

Im Kontext der Genozid-Problematik erhält auch der Krieg, den das Deutsche Kaiserreich von 1904 bis 1907 im heutigen Namibia gegen die Herero und Nama führte, ein eigenes Unterkapitel. Es verdient besondere Beachtung, weil die Debatte um diesen Krieg Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik aktuell stark beschäftigt: Handelte es sich beim Vorgehen gegen die Herero in der Schlacht am Waterberg, aber auch in deren Gefolge, um einen Völkermord? Zeigt sich hier eine besondere Gewaltbereitschaft deutscher Militärs und Kolonialbeamter, die einen Pfad bis zu den Weltkriegen, ja bis zum Mord an den europäischen Juden legte? Wie solche Fragen beantwortet werden, zeigt Langewiesche eindrucksvoll auf, hängt maßgeblich von der Beobachtungsperspektive ab, von dem Anfangs- und Endpunkt des Zeitraums also, den der Historiker in den Blick nimmt, sowie von den Räumen und Handlungsfeldern, die er vergleichend einbezieht.

So souverän, wie hier durch kluge Argumentation eine Metaebene gegenüber dem verbissenen Streit der wissenschaftlichen und politischen Kontrahenten gewonnen wird, ist auch der Umgang mit der gesamten Stoffmasse, die Langewiesche in seinem opus magnum bewältigt. 'Bewältigt' will dabei sagen, dass die historischen Ereignisse niemals nur dargestellt, sondern stets mit großem Scharfsinn analytisch durchdrungen werden. Egal, von welchem Zeitraum und welcher Weltregion die Rede ist, der Bezug zu den Argumentationsgängen und zur Systematik des Ganzen ist immer sichtbar. Zu dieser Transparenz trägt auch ein Sprachstil bei, den Langewiesche bis zum äußersten verknappt hat - man findet in seinen Sätzen kein Wort, das nicht unbedingt notwendig wäre -, der aber trotzdem noch elastisch genug ist, um auch komplexeste Gegenstände adäquat in der Sache und elegant in der Form zu fassen. Inhaltlich wird der Text zudem durch viele Zitate von zeitgenössischen Beobachtern und durch die Verarbeitung von - auch entlegener - klassischer wie aktueller Forschungsliteratur angereichert.

Wer so viel von Perspektiven schreibt, muss sich allerdings auch die Frage nach seiner eigenen Warte gefallen lassen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Langewiesche in erster Linie eine sozialgeschichtlich unterfütterte Politikgeschichte schreibt, wobei die Sozialgeschichte um mentalitäts- und wahrnehmungsgeschichtliche Aspekte erweitert ist; Aspekte wie Räumlichkeit und Symbolik, Technologie und Infrastruktur, Gender und Emotion werden allenfalls gestreift. Hier erweist sich der Autor, wie es für jedermann gilt, als das Kind einer bestimmten Generation. Und noch für einen weiteren Punkt mag diese Generationszugehörigkeit bedeutsam sein. Langewiesche legt viel Wert darauf, dass die von ihm konstatierten Wechselbeziehungen zwischen Krieg und politischen Prozessen den Charakter von historischen Gesetzmäßigkeiten haben. Gegenbeispiele werden als "Ausnahmen von der Regel" bezeichnet. Diese Apodiktik, die einem aktuellen, von der Postmoderne inspirierten Verständnis von historischen Abläufen so vollständig zuwiderläuft, wirkt befremdlich. Warum reicht es nicht aus, davon zu sprechen, dass Revolutionen, Nationalstaatsbildungen und Kolonisierungs- wie Dekolonisationsprozesse in signifikanter Häufigkeit von Kriegen begleitet werden? Stattdessen benutzt Langewiesche Formulierungen wie das martialische Wort von der "ehernen Geschichtsregel" (261). Auch dies mag mit der Generationszugehörigkeit des Autors zusammenhängen. 1943 geboren, wuchs er mit einer akademischen Generation auf, die den Krieg wegen seiner Destruktivität, die sich im 20. Jahrhundert noch exponentiell steigerte, mehrheitlich strikt und ohne Wenn und Aber ablehnte. In einem Interview zum Erscheinen seines Buches hat sich Langewiesche unlängst noch selbst einen Pazifisten genannt. Wenn er nun argumentiert, dass die wichtigsten politischen Phänomene der Gegenwart, auch eindeutig positiv zu bewertende Phänomene wie die Dekolonisation, ohne Krieg kaum zu bekommen gewesen wären, und dass dies gilt, obwohl der Krieg unsägliches individuelles Leid produziert, erteilt er sich und seinen Generationsgenossen wahrlich eine strenge Lektion - deren Strenge sich in der Rede von "ehernen Geschichtsregeln" treffend spiegelt. So ist auch das bedeutende historische Werk, das Langewiesche mit dem "Gewaltsamen Lehrer" vorgelegt hat, von Zeitbezügen geprägt - was seinen großen Wert aber nicht schmälert, sondern im Grunde noch zusätzlich erhöht.


Anmerkung:

[1] Zum ewigen Krieg? Zu Gast bei L.I.S.A. mit Dieter Langewiesche. Interview mit Georgios Chatzoudis vom 04.02.2019 (https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/kriege_dieterlangewiesche).

Frank Becker