D. Geyer: Das russische Imperium

Cover
Titel
Das russische Imperium. Von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion


Autor(en)
Geyer, Dietrich
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 462 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Hilbrenner, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die Herausgeber dieses Buches schreiben es selbst: Das hier zu rezensierende Buch von Dietrich Geyer „Das russische Imperium: Von den Romanovs bis zum Zerfall der Sowjetunion“ ist ein Zeitdokument. Bei seiner letzten Vorlesung, die über vier Semester von 1992 bis 1994 reichte und die Geschichte des russischen und sowjetischen Imperiums vom 17. bis ins 20. Jahrhundert umspannte, erlaubte der Tübinger Doyen der russländischen Geschichtsschreibung seinem Schüler Rainer Lindner, die Vorlesung per Audio-Kassette mitzuschneiden. Allein das ist ein Vorgang, der mediengeschichtlich zu historisieren wäre, und der heutigen Studierenden sicher kurios vorkäme. Der Mitschnitt ergab 100 Audiokassetten, die allein in ihrer Materialität viel eindrucksvoller von der Größe der Aufgabe Zeugnis geben als die MP3-Dateien, mit denen Tonaufzeichnungen derzeit abgelegt werden.

Die Sprachgewalt Dietrich Geyers ist unter Osteuropa-Historiker:innen – die Rezensentin hatte das Glück, den Autor in den 1990er-Jahren bei einem Vortrag zu erleben – legendär. Dasselbe gilt für seine analytischen Zugriffe, wie etwa der von der „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“, mit dem er das Russische Reich unter Katharina II. und ihre Reformbemühungen so kurz wie überaus treffend beschrieb. Dennoch haben sich die Herausgeber und Schüler Geyers, Rainer Lindner und Jörg Baberowski, entschieden, die Audiodateien nicht etwa (zeitgemäß) als Podcast, sondern – „ganz 20. Jahrhundert“ – als Buch herauszubringen. In Buchform liegt nun gewissermaßen die Abschrift dieses Tondokuments vor, natürlich nicht ohne redaktionelle Eingriffe, ein „Quellentext“ (S. VI) also nur insofern, als er die Sicht Dietrich Geyers auf die russländische Geschichte und seine Art, sie in eine Vorlesung zu bannen, wiedergibt. Diese Würdigung ist verdient und verdienstvoll zugleich, soviel sei vorweg gesagt. Was aber ist jenseits davon durch die Lektüre des Buches in der heutigen Zeit zu gewinnen?

Geyers Erzählung ist ebenfalls „ganz 20. Jahrhundert“ – und wie könnte es auch anders sein. Die Darstellung der russländischen Geschichte folgt den Paradigmen der Politischen Geschichte mit starken Einflüssen aus der Struktur- und Gesellschaftsgeschichte. Das wird bereits an der Organisation des gewaltigen Stoffes deutlich. Die Gliederung folgt der Abfolge der Herrscherpersönlichkeiten aus dem Hause Romanow und nach der Revolutionen von 1917 den sowjetischen Staatsführern, und ähnelt so doch ein wenig den klassischen Handbüchern der Geschichte Russlands, welche die Studierenden im 20. Jahrhundert in den Bücherregalen stehen hatten.1 Verschränkt in die nach Herrscherinnen und Herrschern geordneten Ereignisse aber ist der analytische Zugriff, der die Stärke der Geyerschen Erzählung ist und so die älteren Handbücher in den Schatten stellt. Die Leitthemen sind Herrschaftsstrukturen wie Autokratie und Absolutismus oder Praktiken wie „Reichsbildung durch Expansion“. Der aufgeklärte Absolutismus unter Katharina II. wird selbstverständlich unter der Überschrift „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“ beschrieben und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht es um das Wechselspiel von Reform und Revolution. Wichtige Themen sind etwa die Leibeigenschaft, die wechselseitige Wahrnehmung von „Russland und Europa“. Und das titelgebende Imperium zieht sich als Schlüsselbegriff durch die Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Dabei werden Außen- und Innenpolitik miteinander verwoben und etwa der russische Imperialismus als Thema beider Felder behandelt. Gegenüber der vorrevolutionären Epoche fällt die sowjetische Geschichte etwas knapper aus, vor allem gilt das für die Zeit nach Stalins Tod. Der „Late Socialism“, soviel wird ersichtlich, war in den 1990er-Jahren noch kein großes Thema, anders als heute.

Und damit wären wir bereits bei der Frage, wie die Geyersche Erzählung sich von der Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts unterscheidet. Ein Beispiel, an dem sich die Unterschiede zeigen lassen, gibt der zentrale Begriff des Imperiums. Geyer beschreibt es aus seinem Zentrum heraus, vor allem aus Moskau und St. Petersburg als den Schaltstellen der Macht. Das ist seinem politikgeschichtlichen Zugriff geschuldet, hat aber auch zur Folge, dass er weniger das Bild eines russländischen, sondern das eines russischen Imperiums zeichnet. Imperiale Bevölkerungsgruppen, wie etwa Jüd:innen oder Muslim:innen, die das Reich an den Peripherien prägten, kommen wenn überhaupt, so nur am Rande und nur als Objekte der politischen Metropole vor. Aber auch Geyers Blick auf die Metropole selbst und ihr Zugriff auf die Peripherie ist nicht mit postkolonialer Theoriebildung konfrontiert worden.

Alltag und eigensinnige Praktiken der historischen Subjekte kommen dem Narrativ ebenfalls nur selten in die Quere. Überhaupt bleibt der Kreis der beschriebenen Akteur:innen weitgehend auf einige wenige im engeren Sinne politisch Handelnde beschränkt. So deutet sich auch keine biographische Perspektive an, die etwa über historische Zäsuren oder über die Epochengrenzen hinweg erzählt werden könnte. Zudem sind die Akteure, von den Zarinnen, eigentlich fast nur von Katharina II., abgesehen, doch in aller Regel Männer. Diese Männer werden aber nicht als Männer, sondern als geschlechtslose Norm beschrieben. Die Sprache, welche die Hörer:innen in den 1990ern in ihren Bann schlug, wirkt 30 Jahre später auch wie ein Dokument aus einer anderen Zeit: So „anverwandelte“ (S. 23) sich Katharina II. die Maßstäbe und Begriffe der europäischen Aufklärung, und Nikolaj I. saß die Revolutionsfurcht „in der Blutbahn“ (S. 29).

Ist Dietrich Geyers Vorlesung über das Russische Imperium also „schlecht gealtert“?

Ich würde sagen: Nein. Das sorgfältig bearbeitete Buch ist ein wichtiges Dokument, das zeigt, wie die Historiker:innen, die heute das Fach prägen, selber Geschichte vermittelt bekommen haben. Es führt uns auf die Verdienste der historischen Osteuropaforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück und legt die Fundamente der aktuellen Forschung offen. Ob die heutigen Studierenden es lesen wollen, müssen sie selber entscheiden. Vielleicht wäre für die Verbreitung in der nächsten Generation der Osteuropahistoriker:innen ein Podcast gut gewesen?

Anmerkung:
1 Vgl. etwa den „Klassiker“: Günther Stökl, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart in sieben Auflagen zwischen 1962 bis 2009.

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