Titel
Rückkehr nach Reims.


Autor(en)
Eribon, Didier
Reihe
edition suhrkamp
Erschienen
Berlin 2016: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Onur Erdur, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Zuge öffentlicher Debatten über wichtige Fragen des Zeitgeschehens steigt erfahrungsgemäß auch die Nachfrage nach Büchern, die einem im Idealfall über die tägliche Zeitungslektüre hinaus Orientierung, Hintergrundwissen oder gar Erklärungsansätze zum jeweiligen Thema anbieten. Meistens ist dann die Rede vom „Buch der Stunde“. Die Autobiografie „Rückkehr nach Reims“ des französischen Soziologen Didier Eribon ist – gemessen an den Verkaufszahlen allein im deutschsprachigen Raum (zehnte Auflage binnen sechs Monate) – zweifellos ein solches Buch der Stunde. Die erhöhte mediale Aufmerksamkeit genießt das Buch aus gutem Grund: Der hierzulande bisher vor allem für seine Foucault-Biografie1 bekannte Eribon liefert nämlich mit der deutschen Übersetzung seines bereits 2009 in Frankreich erschienenen Lebensberichts auch einen der bemerkenswertesten Beiträge zu den aktuell aufkeimenden Diskussionen über Merkmale und Ursachen des erstarkenden Rechtspopulismus.

Bemerkenswert ist zunächst die Art und Weise, wie dem Autor der Zugang zur Debatte gelingt. Denn das Buch ist eigentlich dem klassischen Genre der Erinnerungsliteratur zuzurechnen, bei dem rückblickend die eigene Lebensgeschichte erzählt wird. Eribon schildert in insgesamt fünf Kapiteln und einem Epilog seine Kindheit im Arbeitermilieu der nordfranzösischen Kleinstadt Reims sowie die mit dieser sozialen Herkunft verbundenen Schwierigkeiten, die er bei seinem Weg ins Pariser Intellektuellenmilieu überwinden musste. Der Habitus einer armen Arbeiterfamilie und die Homophobie seines Herkunftsmilieus sind die zwei großen Lebensthemen dieser Erzählung. Beide werden vom Autor als „soziale Verdikte“ eingestuft, die ihn „gebrandmarkt“ (S. 219) und sich als schambehaftete Komplexe in sein Leben eingeschrieben haben. Um sich von beiden Fesseln zu befreien, musste er sich neu erfinden, und zwar innerhalb von „zwei wechselseitig voneinander abhängende[n] Bahnen“: „[d]ie eine in Rücksicht auf die sexuelle Ordnung, die andere in Rücksicht auf die soziale“ (S. 25). Was Eribon schließlich geworden ist, geht ihm zufolge auf die Verflechtung dieser zwei Projekte (Coming-Out und sozialer Aufstieg) zurück. Er war nämlich „mit der doppelten Hoffnung nach Paris gekommen, ein freies schwules Leben zu führen und ein ‚Intellektueller‘ zu werden“ (S. 223).

Soweit die autobiografische Rahmenerzählung, die sich über das gesamte Buch erstreckt. Eribon bleibt jedoch nie bei der bloßen Rekonstruktion seines Werdegangs stehen, sondern nimmt die einzelnen Lebensetappen immer auch zum Anlass für Reflexionen über das gesellschaftliche Leben in Frankreich. So kann er beispielsweise ausgehend von den eigenen Schulerfahrungen die These plausibel machen, dass das Bildungsschicksal von Heranwachsenden noch sehr stark von der sozialen Herkunft abhängt. Eine solche Kritik am verhärteten französischen Bildungssystem mit seinen Reproduktionsmechanismen von Ungleichheit ebenso wie der Gebrauch des Habitus-Konzeptes erinnern nicht von ungefähr an die Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, mit dem Eribon eng befreundet war. Man bekommt beim Lesen des Buches generell den Eindruck, dass hier vieles auf Bourdieu zurückgeht. Auch das Grundanliegen Eribons, autobiografisches Schreiben und soziologische Reflexion miteinander zu verknüpfen und damit „eine zur historischen und theoretischen Analyse geformte Autobiografie“ (S. 20) vorzulegen, ist von Bourdieu angeregt. In dessen Band „Ein soziologischer Selbstversuch“2 aus dem Jahre 2002 findet Eribon seine eigenen Erfahrungen „wie unter einem Brennglas vergrößert“ (S. 152).

Dass Eribon virtuos autobiografisches Schreiben und soziologische Analyse miteinander verknüpft, wird spätestens bei seiner Thematisierung des Rechtspopulismus im dritten Kapitel deutlich. Dort widmet er sich nämlich der Frage, warum große Teile der Arbeiterschaft – darunter eben auch Fabrikarbeiterinnen wie Eribons Mutter –, die ehemals immer die Kommunistische Partei (PCF) und andere linke Parteien als ihre genuinen politischen Repräsentanten ansahen, seit den 1980er-Jahren zunehmend den rechtsextremen Front National (FN) wählten.

Eribon macht dafür zunächst die Erosion der PCF, danach aber vor allem aber den Politikwandel der Sozialistischen Partei (PS) verantwortlich, da letztere sich seit der Präsidentschaft François Mitterrands zunehmend einer neoliberalen Agenda verschrieben und dabei ihr zentrales Anliegen, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen, über Bord geworfen habe. Symptomatisch ist die damit einhergehende Verschiebung des politischen Vokabulars – weg von Begriffen wie „Klasse“, „Ausbeutung“ oder „Widerstand“ hin zu Ausdrücken wie „notwendige Reformen“, „Umgestaltung der Gesellschaft“ oder „Eigenverantwortung“. Eribons These lautet nun: Wenn man Begriffe wie „Klasse“ und „Klassenverhältnisse“ einfach aus dem politischen Diskurs entfernt, verhindert man noch lange nicht, dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern real zu tun haben. Will heißen: Von den linken Verfechtern des Rückbaus sozialer Sicherungssysteme fühlen sie sich nicht länger repräsentiert. Im Umkehrschluss lässt sich dadurch auch erklären, „weshalb sich im Rahmen einer wie von selbst ablaufenden Neuverteilung der politischen Karten große Teile der Unterprivilegierten jener Partei zuwandten, die sich nunmehr als einzige um sie zu kümmern schien und die zumindest einen Diskurs anbot, der versuchte, ihrer Lebensrealität wieder einen Sinn zu verleihen“ (S. 122).

In einem wissenschaftlichen Buch würden solche simplen Erklärungsansätze kritische Nachfragen nach sich ziehen, denn man wüsste gerne, wie die „von selbst ablaufende Neuverteilung der politischen Karten“ nun genau funktionierte. Tatsächlich versucht Eribon diesen Nachweis, indem er auch hier wiederum von seinen Familienangehörigen und deren Wahlverhalten erzählt. Die offene, geradezu bekenntnishafte Unterstützung von linken Parteien, die immer mit einem einenden Stolz verbunden war, wich in Eribons kommunistischer Familie zunehmend einer anfangs verheimlichten bzw. geleugneten Wahl des FN. Trotz schlechten Gewissens meinte man mit der Wahl des Klassenfeindes still und heimlich zu verteidigen, was von der kollektiven Arbeiteridentität noch geblieben war. Eribon interpretiert die Hinwendung seiner Familie zum FN somit „als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten“. Das erscheint als eine recht mechanische und gewagte Interpretation, denn der Gebrauch des Worts „Notwehr“ suggeriert, dass der Akt des Wählens auf eine bloß affektive bzw. reaktive Verhaltensweise ohne die Übernahme von Verantwortung reduziert werden kann, ganz nach dem Motto: Meine Familie konnte nicht anders! Die Linke ist schuld!

Überzeugender sind in diesem Kapitel die Ausführungen zum Wandel der kollektiven Arbeiteridentität. Die Bedeutung des „Wir“ verändert sich dergestalt, dass nun nicht länger „Arbeiter“ den „Bourgeois“ gegenüberstehen, sondern die „Franzosen“ den „Ausländern“. Der soziale Gegensatz bekommt hier eine nationale und ethnische Komponente, „weil ‚die da oben‘ als Befürworter der Immigration wahrgenommen werden, deren Folgen ‚die da unten‘ angeblich jeden Tag zu ertragen haben, einer Einwanderung, die plötzlich für alle möglichen Übel verantwortlich gemacht wird“ (S. 125). Gleichzeitig hebt Eribon hervor, dass es im Arbeitermilieu und genauer in seiner Familie auch schon vor dem Aufstieg des FN rassistische Reflexe gegeben habe, ja dass sogar ein „tiefsitzender Rassismus“ der unteren Schichten die Eroberung der kommunistischen Wählerschaft durch den FN erst begünstigte. Hier zeigt Eribon am Beispiel seiner Familie auf eindrückliche Weise, wie der Alltagsrassismus zum dominierenden Modus der Wahrnehmung der sozialen Welt wurde.

Angesichts Eribons Wortwahl könnte man manchmal den Eindruck gewinnen, dass er für eine Rückkehr zu alten marxistischen Kategorien plädiert. Das ist aber nicht der Fall. Auf die Frage, wie man die praktische Existenz sozialer Klassen und gesellschaftlicher Konflikte berücksichtigen kann, ohne regressiv beim „Klassenkampf“ zu landen, findet er nämlich eine recht besonnene Antwort: Man muss zunächst verstehen, wie und warum es dazu kommt, dass die populären Schichten aus ihren Lebensumständen manchmal den Schluss ziehen, dass sie notwendigerweise der politischen Linken, und manchmal, dass sie der politischen Rechten angehören. Bei diesem Prozess spielen Faktoren wie die wirtschaftliche Situation oder der Wandel der Arbeitswelt eine Rolle, aber auch die Art und Weise, wie politische Diskurse und diskursive Kategorien die Selbstkonstituierung als politisches Subjekt beeinflussen. Eine nicht zu unterschätzende Funktion und Verantwortung haben hier für Eribon immer noch die Parteien inne, da sie als Fürsprecher für diejenigen fungieren, die nicht sprechen können.

Nach der Lektüre des dritten Kapitels bedauert man ein wenig, dass Eribon seine Analyse des Aufstiegs des FN nicht weiter fortsetzt und stattdessen mit der autobiografischen Erzählung weitermacht – alle anderen Kapitel enthalten zwar ebenfalls soziopolitische Analysepassagen, aber dort überwiegen eher die autobiografischen Elemente. Aber hier als Leser/in mehr zu erwarten, wäre zu viel verlangt. Es ist außerdem wichtig zu wissen, dass Eribon bei seinem biografischen Zugriff auf die politischen Themen einen eher suchenden Fragemodus wählt und nirgends den Eindruck erwecken möchte, endgültige Antworten oder systematische Erklärungen vorzulegen. Die Autobiografik fungiert hier letzten Endes als eine Art Schutzschild, das die Leserschaft vor allzu großen politischen Erwartungen bewahrt, das aber kurioserweise auch den Autor vor Kritik an seinen Behauptungen und Reflexionen immunisiert.

Alles in allem hat Eribon ein außergewöhnliches Buch über sein Leben und die französische Gesellschaft geschrieben. Für Historiker/innen ist Eribons Buch dabei in vielerlei Hinsicht wertvoll. So gewährt es unkonventionelle und innovative Einblicke in die französische Intellektuellen- und Ideengeschichte, aber auch in sozial- und kulturhistorische Zusammenhänge der französischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem zeigt Eribons virtuoser Umgang mit dem Habitus-Konzept, dass sich die von Bourdieu bereitgestellten theoretischen Konzepte wegen ihrer Offenheit und ihres hieraus erwachsenden analytischen Potenzials auch für die Geschichtswissenschaft weiterhin empfehlen können – so etwa, wenn Eribon im Habitus-Konzept nicht nur praxeologische, sondern auch dezidiert epistemische Dimensionen der Subjektwerdung miteinbezieht und damit wiederum weitere Pfade für genuin wissenshistorische Zugangsweisen bereitet. Und nicht zuletzt bietet Eribons Buch auch für alle diejenigen, die selbst mit autobiografischen Quellen arbeiten, eine sehr gute Gelegenheit, die eigene Sensibilität für die Chancen und Grenzen einer geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit Selbstzeugnissen zu schärfen.

Anmerkungen:
1 Didier Eribon, Foucault. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1999.
2 Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt am Main 2002.

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