M. Kaufhold (Hg.): Politische Reflexion des späten Mittelalters

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Titel
Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Political Thought in the Age of Scholasticism. Essays in honour of Jürgen Miethke


Herausgeber
Kaufhold, Martin
Reihe
Studies in Medieval and Reformation Traditions: History, Culture, Religion, Ideas 103
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 387 S.
Preis
€ 126,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Schulte, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Der von Martin Kaufhold herausgegebene Sammelband „Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters“, der auf einer Tagung aus Anlass des 65. Geburtstages von Jürgen Miethke beruht, besitzt zwar ein Register, aber keine inhaltliche Einleitung. Dies fällt vor allem vor dem Hintergrund der Verengung der Fragestellung im Klappentext auf, der „neben ausgewählten Fallstudien zu den Werken prominenter Autoren wie Marsilius von Padua, William von Ockham oder Baldus de Ubaldis“ Beiträge zum „Phänomen politischer Beratung von der späten Antike bis zur Reformation“ bzw. zu dessen „Wirkungsbedingungen“ verspricht.

Der Begriff der Politikberatung wird leider nicht problematisiert. In unserer Zeit subsumieren wir hierunter die Expertisen von Forschungs- und Beratungsinstitutionen, die der Information ebenso wie der Legitimation von Politik und Verwaltung dienen sollen, gleichzeitig aber mit den Problemen etwa der mangelnden Transparenz des Verfahrens, der Einseitigkeit der Ergebnisse und der fehlenden Verpflichtung ihrer Veröffentlichung behaftet sind. Nicht zuletzt aufgrund des unterschiedlichen politischen Systems hatte die Politikberatung im Mittelalter einen anderen Charakter. Überzeugend umreisst Georg Wieland in seinem Aufsatz „Praktische Philosophie und Politikberatung bei Thomas von Aquin“ (S. 65-83) letztere als Gegenstand mediävistischer Forschung. Nicht als solche verstanden werden dürfe die „theoretische Behandlung des Themas unter den verschiedenen denkbaren Aspekten, etwa dem der Identifizierung des politischen Handelns im Unterschied zu anderen menschlichen Aktivitäten oder dem der Verfassung eines Gemeinwesens.“ Kommentare zur aristotelischen Politik oder auch zu den Digesten oder Dekretalen seien deshalb keine Beratungstexte (S. 66f.). Ferner könne auch „die praktische Tätigkeit eines politischen Amtsträgers welcher Stufe und welchen Ranges auch immer […] selbst dann nicht Beratung genannt werden, wenn diese Aktivität ein Resultat gründlicher Überlegung und tiefen Nachdenkens“ darstelle. Politikberatung setze „die Unterscheidung von verantwortlichem politischen Akteur und Berater voraus“ (S. 67). Gälten diese Überlegungen grundsätzlich, sei bei der Definition positiver Merkmale das Politikverständnis der zu untersuchenden Zeit zu berücksichtigen. Über Form und Inhalt der Politikberatung bleibt folglich immer wieder neu nachzudenken. Die Ausführungen Wielands weisen den Weg für weiterführende Arbeiten zum Thema der Politikberatung im Mittelalter, die sich auch der Frage stellen müssen, ob der Begriff in jeder Situation tauglich ist.

Man würde den insgesamt überzeugenden und gut geschriebenen Beiträgen allerdings nicht gerecht, verharrte man an diesem Punkt. In dem Sammelband geht es auch um Politikberatung, häufiger aber wesentlich allgemeiner, wie es in der Einleitung kurz zusammengefasst wird, „um die Geschichte und genuine Tradition der politischen Theorie“ sowie „um ihren Gegenstand, die sozialen und politischen Verhältnisse und […] die konkrete Lebenserfahrung der Menschen, die die diskutierten theoretischen Entwürfe formulierten “ (S. IX).

Die Aufsätze sind weitgehend chronologisch angeordnet. Verena Postel präsentiert unter dem Titel „Communiter inito consilio: Herrschaft als Beratung“ (S. 1-25) ihr DFG-Projekt zu den Funktionsweisen von Herrschaft im frühen Mittelalter, die sie in „konkreten politischen Entscheidungssituationen“ und als „Kommunikationsprozess von Herrschern und Beratern“ (S. 1) in den Blick nimmt. Es folgen – neben dem bereits genannten von Georg Wieland – Beiträge zu „Prophetie und Politik bei Joachim von Fiore“ (Alexander Patschovsky, S. 27-42) sowie zu den gelehrten Erzbischöfen von Canterbury und der Magna Carta im 13. Jahrhundert (Martin Kaufhold, S. 43-64). Mit der Rezeption aristotelischen Gedankenguts beschäftigen sich die Texte von Francisco Bertelloni über „Die Anwendung von Kausalitätstheorien im politischen Denken von Thomas von Aquin und Aegidius Romanus“ (S. 85-108) und von Roberto Lambertini über „Politische Fragen und politische Terminologie in mittelalterlichen Kommentaren zur Ethica Nicomachea“ (S. 109-127). Während Francisco Bertelloni aufzeigt, wie die in der Nikomachischen Ethik formulierte Idee vom Endziel des Menschen in ein natürliches und übernatürliches Endziel aufgelöst und in Bezug auf das Verhältnis zwischen der höchsten geistlichen und weltlichen Gewalt unterschiedlich diskutiert wurde, weist Roberto Lambertini anhand des Begriffs der „timocratia“ (S. 113-116) sowie der Themen „Monarchie und Natur“ (S. 116-122) und „Zum Wesen des Gesetzes“ (S. 122-127) nach, dass weniger „politische Positionen als vielmehr Begriffe, Definitionen, Argumente“ (S. 127) und Problemstellungen aus der Nikomachischen Ethik übernommen und in die eigene Zeit übertragen wurden. Karl Ubl (Die Genese der Bulle Unam Sanctam: Anlass, Vorlagen, Intention, S. 129-149) und Helmut G. Walther (Aegidius Romanus und Jakob von Viterbo – oder: Was vermag Aristoteles, was Augustinus nicht kann?, S. 151-169) widmen sich der intellektuellen Wegbereitung der Bulle Unam Sanctam, Robert E. Lerner schreibt über „Ornithological Propaganda: The Fourteenth-Century Denigration of Dominicans“ (S. 171-191), die Verunglimpfung der Domikaner als Krähen und Raben. In „The Shadow of Antenor. On the Relationship between the Defensor Pacis and the Institutions of the City of Padua“ (S. 193-207) gelangt Gregorio Piaia zu der These, dass Marsilius von Padua sich bei der Ausarbeitung des theoretischen Konzepts des Defensor Pacis von dem Vorbild weniger der guelfischen Kommune Padua als vielmehr der ghibellinischen Signorie der Scaligeri in Verona, der Visconti in Mailand, der Bonaccolsi in Mantua und der Este in Ferrara habe leiten lassen. Ferner müsse angenommen werden, dass eine erste Fassung des Werkes nicht für Ludwig den Bayern, dem es letztlich gewidmet wurde, sondern für Cangrande della Scala, Signore von Verona und Reichsvikar Heinrichs VII., konzipiert worden sei. Diese Beobachtungen könnten von weitreichender Bedeutung für die Interpretation des Textes – auch und vor allem im Hinblick auf die aus ihm herausgelesene „Volkssouveränität“ – sein. William J. Courtenay nimmt in seinem Beitrag „University Masters and Political Power: The Parisian Years of Marsilius of Padua“ (S. 209-223) hingegen an, dass Marsilius von Padua bei der ersten Niederschrift den französischen König Karl IV. als Adressaten vor Augen hatte. Es schließen sich Christoph Flüelers Aufsatz „Acht Fragen über die Herrschaft des Papstes. Lupold von Bebenburg und Wilhelm von Ockham im Kontext“ (S. 225-246), dem die Edition der in einer Bremer Handschrift enthaltenen, von einem anonymen Autor verfassten Questiones circa eandem materiam. De iurisdictione imperii beigefügt ist, sowie die Ausführungen von Eva Luise Wittneben über „Bonagratia von Bergamo († 1340). Eine intellektuelle Biographie in der politischen Diskussion des 14. Jahrhunderts“ (S. 247-267), Matthias Nuding über „Mobilität und Migration von Gelehrten im Großen Schisma“ (S. 269-285), Susanne Lepsius über „Juristische Theoriebildung und philosophische Kategorien. Bemerkungen zur Arbeitsweise des Bartolus von Sassoferrato“ (S. 287-304) und Kurt-Victor Selge über „Luthers Zurückweisung eines politisch-ethischen Argumentes von Duns Scotus 1517“ (S. 321-336) an. Die Frage „Was Baldus an Absolutist? The Evidence of his Consilia“ (S. 305-319) beantwortet Kenneth Pennington unter Verweis auf eine Selbstäußerung des Juristen mit einem „Nein“. In den Gutachten, die Baldus für Gian Galeazzo Visconti über die ihm vom römisch-deutschen König Wenzel verbrieften Rechte als Lehnsherr erstellte, hatte er den Handlungsspielraum des Mailänder Herzogs gegenüber seinen Vasallen zu beurteilen. Mit Bezugnahme auf den Aspekt der herrscherlichen Autorität diskutierte er, ob Gian Galeazzo Visconti natürliches und göttliches Recht dadurch verletzen dürfe, dass er Eigentum – als ein solches wurden die Lehen verstanden – konfisziere, und ob er befugt sei, ohne einen Rechtsgrund zu handeln. Die Antwort konnte nicht klar im Sinne des Auftraggebers ausfallen. Das ius commune schützte die Rechte der Vasallen.

Die Abschiedsvorlesung von Jürgen Miethke über „Wissenschaftliche Politikberatung im Spätmittelalter – die Praxis der scholastischen Theorie“ (S. 337-357), in der er „den Rahmenbedingungen der politischen Theorie der scholastischen Universität“ (S. 338) nachging und die langsame Übermittlung von Informationen, die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Manuskripten, die wachsende Bedeutung der universitären Bildung – auch und vor allem in der Regierung und Verwaltung – sowie die Beschäftigung der unterschiedlichen Fakultäten mit der Politik, die noch nicht als eine eigenständige Wissenschaft galt, skizzierte, rundet den gelungenen Band ab. In ihm findet sich auch ein Verzeichnis der Publikationen Jürgen Miethkes.

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