J. Dummer: Leitbild Wissenschaft?

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Titel
Leitbild Wissenschaft?.


Herausgeber
Dummer, Jürgen; Vielberg, Meinolf
Reihe
Altertumswissenschaftliches Kolloquium 8
Erschienen
Stuttgart 2003: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad Vössing, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der vorliegende Band geht, wie drei andere dieser Reihe mit dem Begriff 'Leitbild' im Titel, aus dem Graduiertenkolleg der Universität Jena hervor. Die Herkunft aus einer Ringvorlesung (1998/1999) wird dabei schon durch die alphabetische Ordnung des Inhaltsverzeichnisses deutlich. Die eher lockere Problemstellung, die in der Einleitung von den Herausgebern umrissen wird (S. 8), zielt auf die Frage, ob es in der Antike Leitwissenschaften gab, die "bei der Begegnung mit anderen Wissenschaften und zugleich anderen Zielkulturen [...] in der Lage [waren], leitbildhaft zu wirken und so die ihnen inhärenten Wertvorstellungen zu vermitteln". Als herausragende Beispiele für solche 'Leitwissenschaften' werden Philosophie und Theologie genannt.

Dieses interessante Thema enthält definitorische Schwierigkeiten, über die man nicht hinweggehen sollte. Zunächst einmal ist die Differenz zwischen den Wirkungen einer 'Leitwissenschaft' auf die sie umgebende Kultur einerseits und auf spätere, von dieser klar getrennte Epochen (etwa auf die islamische Welt oder auf das Europa der Renaissance) andererseits zu betonen. Die Art der Wertvermittlung ist dabei so verschieden, dass die Subsumierung unter einem Begriff wenig glücklich erscheint. Der einzige abgedruckte Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, die inhaltsreiche Darstellung der hellenistischen Wissenschaften im Umfeld der arabisch-islamischen Kultur durch Hans Hinrich Biesterfeldt (S. 9-37), fällt deshalb etwas aus dem Rahmen. Ferner ist in diesem Zusammenhang der Wissenschaftsbegriff problematisch. Nicht dass er prinzipiell für die Antike unbrauchbar wäre, die Frage ist aber, ob er im Zusammenhang mit einer breiten Wertevermittlung angemessen ist. Es müsste dann ja gezeigt werden, wie die einzelnen Wissenschaften (etwa die Jurisprudenz im Gegensatz zur Philosophie) mit ihren spezifischen Methoden und Ergebnissen weit über den eigenen Bereich hinaus prägend wurden. Unabhängig davon, ob dies überhaupt möglich ist: die Beiträge des vorliegenden Bandes bewegen sich jedenfalls auf einer anderen Ebene. Schon die Herausgeber sprechen vom "kulturellen Konsens, wie ihn der Lektürekanon der spätantiken Schule spiegelt" (S. 8), als der Basis der Leitbildfunktionen, womit der fachwissenschaftliche Raum verlassen wird. Sinnvoller ist es deshalb, hier nicht von Wissenschaften, sondern von Wissenskulturen zu sprechen; ihre Prägekraft beruhte auf der Übernahme von Bildungstraditionen, die dann das Selbstbild definierten.

Drei derartige Wissenskulturen werden in diesem Band untersucht (wobei das Konzept des Leitbildes leider kaum diskutiert wird): die juristische, die religiöse und die literarische. Das eigentlich Interessante sind dabei die Mischungen, namentlich zwischen den religiösen und den literarischen Traditionen. Die Leitbildfunktion des römischen Rechts, der Wolfgang Schuller nachgeht (S. 191-204), ist dagegen klar umgrenzt und leicht zu erkennen. Der Autor verweist besonders auf die so genannten Leges Barbarorum, lateinische Kodifikationen, mit denen die auf Reichsboden siedelnden Germanen Rechtssicherheit auch für sich selbst schaffen wollten; damit erkannten sie die Überlegenheit des römischen Rechts an und unterwarfen sich seiner Begrifflichkeit. Bezeichnend ist auch, wie gering der Einfluss des Christentums auf Sprache und Inhalt der zivilrechtlichen Gesetze war (S. 198ff.). Noch das spätrömische Vulgarrecht hatte also genügend Prestige, um aus der eigenen Tradition heraus das Zusammenleben der Menschen zu regeln, seien sie nun Römer oder Barbaren. Es waren aber ganz praktische Bedürfnisse, die dadurch erfüllt wurden, und man muss bezweifeln, dass das römische Recht jemals für Personen außerhalb des engen Umkreises der Rechtsschulen ein Leitbild war, das den geistigen Habitus umfassend bestimmte.

Anders war es mit religiösen und literarischen Wissenskulturen. Dass hier, wenn man näher tritt, der unbestimmte Artikel angemessen ist, zeigen für den religiösen Bereich Stephen Mitchells 'Überlegungen zu den Grenzen zwischen Heiden, Juden und Christen' (S. 149-172). In Fortführung seiner Studien zu den Gottesfürchtigen und zum theos hypsistos1 begründet er hier seine These, dass der jüdische Glaube bis zum großen Krieg (66-70 n.Chr.) in der Reichselite nicht nur weitgehend akzeptiert war, sondern dort laut Mitchell sogar regelrechte Anhänger hatte, die das religiöse Vakuum im System der polytheistischen Staatskulte füllen wollten. Der Autor kann dabei interessante und unkonventionelle Argumente präsentieren. Überzeugend ist seine These, dass die Trennschärfe zwischen Christen und Juden auch auf der Definitionshoheit der römischen Autoritäten beruhte (S. 158). In ländlichen Gebieten (etwa Kleinasiens), wo diese sich kaum zeigten, waren Mischformen leichter möglich als in Gegenden intensiver römischer Präsenz, die die religiöse Identifizierung förderte. Dass allerdings Claudius' 'Judenedikt' (Suet. Claud. 25,4) erstmals zwischen Christen und Juden unterschieden haben soll (S. 157), überrascht. Auch wenn man die 'christliche' Interpretation von impulsore Chresto akzeptiert2, war das Edikt doch gegen Unruhe stiftende Juden gerichtet, nicht gegen Christen, die von den Behörden eben (noch) nicht als solche identifiziert wurden.

Generell hat man den Eindruck, dass Mitchell mit seinen Modellen der religiösen Kultur der Antike zu sehr verallgemeinert. Namentlich die sechs Grafiken, mit denen er die Überschneidungen und Verschmelzungen veranschaulicht, lassen die regionale und soziale Beschränkung seines Theos-Hypsistos-Dossiers in den Hintergrund treten. Wenn dann das letzte Modell (S. 160) aus drei sich jeweils tangierenden Kreisen (für 'Heiden', 'Christen' und 'Juden') besteht, in deren gemeinsame Mitte ein vierter Kreis gezeichnet ist (für die 'Gottesfürchtigen'), der Schnittmengen mit allen dreien aufweist, könnte tatsächlich der Eindruck entstehen, dieser synkretistische Monotheismus sei das allgemein akzeptierte Zentrum der kaiserzeitlichen Religiosität gewesen (vgl. auch S. 172). Aber diese Tendenz ist wohl taktisch zu verstehen, insofern der Autor nämlich angesichts der etablierten Vorstellungen die Notwendigkeit betont, unsere "Aufmerksamkeit eher auf die Übergangsgebiete als auf feste Grenzen und getrennte Zonen" zu richten (S. 160).

Die restlichen vier Beiträge bewegen sich im Spannungsfeld zwischen religiöser und literarischer Bildung. Philippe Bruggisser beschäftigt sich (S. 39-76) mit der von ihm 1987 schon einmal monografisch behandelten Romulus-Legende bei dem Vergil-Kommentator Servius.3 Dabei geht es ihm um die Kontraposition heidnischer und christlicher Darstellungen des Romulus-Asyls, die auf eine Konkurrenz zwischen den göttlichen 'Gründern' Romulus und Christus hinausläuft. Schon hier wird (unausgesprochen) deutlich, worin das Einzigartige der Leitbildfunktion antiker literarischer Bildung liegt: Sie war durch die Schulbildung derartig grundlegend, dass auch ihre Kritiker sie nicht 'von außerhalb' in Frage stellen konnten, sondern nur, indem sie sie gewissermaßen gegen den Strich bürsteten. Augustinus, ein ehemaliger Rhetor, ist hier das beste Beispiel.4 Zu diesem Komplex gehört Raban von Haehlings Studie über das "Verhältnis frühchristlicher Theologen zu den Naturwissenschaften" (S. 77-103). Der Titel ist insofern irreführend, als er ein spezielles Verhältnis zu N a t u rwissenschaften impliziert; tatsächlich ist davon jedoch nicht die Rede, es geht vielmehr um den Kanon der artes liberales, zu dem eben auch Fächer wie Geometrie und Arithmetik gehörten. Die interessante Frage, ob man dem mathematischen Teil der 'Enkyklios Paideia' (der übrigens in der normalen Schulbildung vernachlässigt wurde) aus christlicher Sicht eine andere Bedeutung beimaß als dem sprachlich-literarischen, wird nicht gestellt. Von Haehling bietet vielmehr einen tour d'horizon zum Thema 'die christlichen Schriftsteller und die Bildungsfächer'. Seine spezielle These, dass es die zunehmende zeitliche Distanz zum Ursprung des Christentum war, die den Wissenschaften ein besseres 'Standing' in diesem Umfeld verschaffte (S. 102), lässt den Leser etwas unbefriedigt. Impliziert sie doch eine in Ost und West gleichförmige Entwicklung, die nicht gegeben war (s.u.).

Richard Klein behandelt in seinem umsichtig argumentierenden und gründlich dokumentierten Beitrag (S. 105-147) das Erziehungsdenken der kappadokischen Kirchenväter und ihre (zwar nicht kritiklose, aber doch sehr aufgeschlossene) Haltung gegenüber der antiken Bildungstradition. Dabei geht es ebenso um inhaltliche wie um institutionelle Fragen, besonders um den klosterinternen Unterricht als Alternative zur weltlichen Schulbildung. Namentlich die Wirkung der Klosterregeln des Basilius schätzt Klein hier sehr hoch ein: "Damit legte er (sc. Basilius) den Grund für eine christliche Elementarschule, wie sie in den mittelalterlichen Dom- und Klosterschulen auf Jahrhunderte hin zur Regel wurde." (S. 136) Tatsächlich gibt es aber fast zeitgleich auch schon für den Westen Hinweise auf monastische Elementarbildung (Aug. epist. 209,3; 20,32,1). Basilius' Regeln aus den 370er-Jahren waren dafür sicher nicht richtungweisend, sondern generell die Tradition des zönobitischen Mönchtums des 4. Jahrhunderts, ausgehend wohl von Ägypten; Basilius hat diese Tradition 'nur' gestaltet.

Ulrich Schindel schließlich beschäftigt sich mit dem Beruf des grammaticus in der Spätantike (S. 173-189), wobei er noch einmal seine These von 1975 aufnimmt, dass der spätere Anhang zu Donats Ars maior ein anonymes grammatisches Lehrbuch darstellt, entstanden zwischen 450 und 550 n.Chr.5 Das Besondere sind hier die vielen Beispiele aus Bibel und christlichem Schrifttum. Dennoch sollte man die Schrift nicht (wie Schindel, S. 181, 189, es vorschlägt) zum Kronzeugen gegen die_communis opinio_ machen, derzufolge der christliche Westen viel zurückhaltender gegenüber der weltlichen Bildung war als der Osten; dazu ist sie zu spät. Die Positionen eines Augustinus oder eines Hieronymus konnte sie nicht konterkarieren. Zu fragen wäre also vielmehr, wie einerseits diese unterschiedliche Sicht in Ost und West und andererseits der späte Wandel im Westen zu erklären sind.

Man möchte dem interessanten Thema dieses Bandes (der durch Indizes erschlossen ist) also eine etwas tiefer gehende Behandlung wünschen, als sie in dem gegebenen Rahmen offenbar möglich war.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. seine Aufsätze: Wer waren die Gottesfürchtigen?, Chiron 28 (1998), S. 55-64; The Cult of Theos Hypsistos between Pagans, Jews, and Christians, in: Athanassiadi, Polymnia; Frede, Michael (Hgg.), Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999, S. 81-148.
2 Mitchell folgt hier der überzeugenden Darlegung von Botermann, Helga, Das Judenedikt des Kaisers Claudius, Stuttgart 1996.
3 Bruggisser, Philippe, Romulus Seruianus, Bonn 1987.
4 Vgl. Vössing, Konrad, Saint Augustin et la culture antique – traditions et ruptures; in: Fux, Pierre-Yves u.a. (Hgg.), Augustinus Afer. Saint Augustin, africanité et universalité. Actes du colloque international, Alger-Annaba (2001), Bd. 1, Fribourg 2003, S. 153-166.
5 Vgl. Schindel, Ulrich, Die lateinischen Figurenlehren des 5. bis 7. Jahrhunderts und Donats Vergil-Kommentar (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse 3.91), Göttingen 1975.

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