K.-H. Spieß (Hrsg.): Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters

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Titel
Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters.


Herausgeber
Spieß, Karl-Heinz
Reihe
Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte: Vorträge und Forschungen 71
Erschienen
Ostfildern 2009: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Moddelmog, Historisches Seminar, Universität Zürich

Der auf eine Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte von 2005 zurückgehende Sammelband über die mittelalterliche Familie ist gespannt erwartet worden. Besonderes Interesse sichert ihm nicht nur die gesellschaftliche Aktualität des Themas „Familie“, sondern auch die innerfachliche Situation. Denn obwohl Karl-Heinz Spieß, der Herausgeber der Bandes, in seiner Einführung konstatiert, dass im Bereich der mediävistischen Forschung nur wenige Überblicksdarstellungen, Monographien und Sammelbände vorliegen, die das Wort „Familie“ im Titel führen, ist doch die Literatur umso reichhaltiger, wenn man diese Engführung aufgibt und im weiteren Sinne Verwandtschaft als Forschungsfeld begreift. Genau diese Öffnung allerdings führt direkt hinein in eine Debatte, die bereits auf der Reichenauer Tagung geführt wurde und die in der Publikation nicht verdeckt, sondern explizit gemacht ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob die Kernfamilie mit Karl Heinz Spieß „im Sinne eines besonderen emotionalen Bezugssystems […] als eine anthropologische Konstante“ (S. 14) zu sehen ist und der fehlenden quellensprachlichen Entsprechung zum Trotz als geeigneter Forschungsbegriff und -zugriff gelten kann oder nicht. Der Band fordert damit zu einer Grundlagenklärung heraus.

Zudem und teils abseits davon geht es um eine Bestandsaufnahme der Forschung, um Übertragungen, Ambivalenzen und Medialisierung familiärer Konzepte sowie um Einbettung und Ausgreifen der Verwandtschaftsbeziehungen in andere soziale Felder. Weil der Band selbst über eine hervorragende Zusammenfassung verfügt und die konzeptionellen Fragen von besonderem Interesse sein müssen, seien über die unten angeführte Inhaltübersicht hinaus hier die meisten Beiträge nur in Stichworten behandelt.

Um die bildliche Repräsentation von (zumeist gleichzeitig lebenden) Familienangehörigkeiten in der Nähe von Heiligen geht es bei Matthias Müller, während Christian Kiening die verchristlichende Modellierung spezifischer familiärer Relationen (der Haushaltsfamilie) im Medium des „Familienromans“ verfolgt. Im Anschluss geben Cordula Nolte (aspektreich) und Hans Werner Rösener (in breiter Einbettung) einen Überblick über Familienstrukturen und Haushaltskonstellationen im (hohen) Adel und im bäuerlichen Bereich, während Gerhard Fouquet, „bloßes Handbuchwissen“ und Typenbildung verweigernd, an Nürnberger Beispielen die Durchdringung ökonomischer und verwandtschaftlicher Netzwerke, die variable Ausgestaltung von Haushalten und die Modi der Eheanbahnung erörtert. Seine im Grundsatz schon bekannte Beschreibung von Patenschaft als spezifisch europäischem Bestandteil des Verwandtschaftssystems erweitert Michael Mitterauer um einen kontrastierenden Vergleich mit dem Phänomen der Milchgeschwisterschaft. Klaus van Eickels nimmt mit „Brüderlichkeit“ ein sozial integratives Konzept genau in den Blick, kontrastiert gegebene und gemachte Bruderbeziehungen und kommt zu einer Begriffsbestimmung von fraternitas als adhortativ-legitimierend (statt deskriptiv) und performativ: Als Bruder habe man sich immer erst zu erweisen. Eine multiperspektivische Darstellung zum Ineinander verwandtschaftlicher Strategien und geistlicher Institutionen anhand des Klostereintritts von adligen Töchtern im späten Mittelalter bietet Eva Schlotheuber. Christian Lübke kontrastiert zwei theokratisch überhöhte Darstellungen der Rjurikiden aus dem 11. Jahrhundert als generationen- und geschlechterübergreifend einträchtige Familie mit einem gänzlich anderen Befund der zeitgleichen schriftlichen Quellen, die allein um gespannte Bruderbeziehungen, dann auch das „Vatererbe“ von Brüdern kreisen.

Nun zu den konzeptionellen Beiträgen: Bernhard Jussen skizziert in zuspitzender Rückschau Ausrichtungen und Ergebnisse der westeuropäischen Forschungen, die seit Jack Goodys Thesen über die „Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“ entstanden sind (Adoption, Eheverbote, Scheidung und geistliche Verwandtschaft, Konkubinat, Polygynie, Bastarde, kinderlose Erblasser).1 Seine Bilanz: Verwandtschaft im mittelalterlichen Europa verfüge kaum über Korrekturtechniken biologischen Zufalls, sei weitgehend bilateral und kontraktuell (Prämierung der Ehe statt patrilinearer Abstammung), zudem ein dreigliedriges System (Abstammungs-, Heirats- und geistliche Verwandtschaft) – er folgt hier oft der 2003 erschienen Synthese Michael Mitterauers.2 Im Unterschied dazu hält er jedoch die These vom agnatischen Wandel der (adligen) Familie im hohen Mittelalter für „zunehmend bestritten“ (S. 302), weshalb die spätmittelalterliche Tendenz zu agnatischer Repräsentation neu zu deuten sei – Diskussionen hierzu werden nicht ausbleiben.3 Eine sehr bedenkenswerte Neubewertung schlägt er als Arbeitshypothese vor: Das europäische sei ein Verwandtschaftssystem ohne Memorialfunktion (Gedenken stattdessen durch geistliche Experten).

Abschließend skizziert Jussen den Entwurf eines Forschungsprogramms, das es ermöglichen soll, verschiedene Verwandtschaftssysteme vergleichend in den Blick zu nehmen. Wie und von wem, so die Leitfrage dabei, werden nachrückende Mitglieder in verschiedenen Gesellschaften gezeugt, gebildet, mit Besitz, Status und Herrschaft ausgestattet und so fort – was also sind die Mechanismen „intergenerationeller Übertragung“ (S. 320)? Wie sind die entsprechenden Funktionen verteilt, welches Aufgabenbündel übernehmen dabei Verwandte? Welche Mechanismen stehen für die Delegation solcher Aufgaben etwa in Krisensituationen zur Verfügung? Und wie werden die entsprechenden Übertragungstechniken modelliert?

Das Bestechende dieses Entwurfs liegt auf der Hand: Hier steht die Erstellung eines Tableaus in Aussicht, das für feine Differenzierungen ebenso Raum lässt wie für kühne Kontrastierungen und jedenfalls enormes heuristisches Potential haben dürfte. Das Programm ist nicht um die Kern- oder auch Haushaltsfamilie zentriert, steht aber der Erforschung nahverwandtschaftlicher Beziehungen nicht im Weg. Allerdings blendet die Orientierung an intergenerationeller Übertragung auch eine ganze Reihe von (etwa inner-generationellen) Phänomenen aus, zudem wird die funktionalistische Ausrichtung nicht auf ungeteilte Zustimmung treffen. Wie integrativ das Konzept wirklich sein kann, ist also in verschiedener Hinsicht fraglich.

Ludolf Kuchenbuch benennt zusammenfassend als wichtigste Erträge der Tagung: Erweis der Unfestigkeit ‚kernfamilialer‘ Konstellationen (1.), der Gewalt des „Vater-Herrn“ und Ambivalenz von erborenen Primärbeziehungen sowie der konstitutiven Funktion externer Umstände für die Gestalt der Primärgruppe (3.) und der Tendenz zur klerikalen Schwächung oder Umprägung von Verwandtschaftsbeziehungen (4.). Er unterstreicht das Fehlen eines auf das verwandtschaftliche Ganze gerichteten Denkens und mahnt an, mit größerer Variabilität von Familienformen in den unterschiedlichen sozialen Milieus zu rechnen. Dies konsequent weiterführend, macht er sich in mehreren gedankenreichen und inspirierenden Exkursen (zugleich teils Forschungsberichten) zum „Anwalt einer gezielten Skepsis“ (S. 339) hinsichtlich des kernfamilialen Modells. Fundament seiner Argumente ist immer wieder die Semantik. Er bringt den späten Wandel zur heute geläufigen Bedeutung „Familie“ erst im 19. Jahrhundert in Erinnerung und arbeitet heraus, dass das mittellateinische familia Herrschaftsensembles bezeichne, denen der “familiale oder domestische Kern“ gerade fehle (S. 375). Insbesondere für den bäuerlichen Bereich bezweifelt er die frühe Durchsetzung normkirchlich verstandener Ehe und Monogamie; er sieht den Hof, nicht das (mobile!) Haus als herrschaftlich verordnetes Zentrum der zum Bleiben gezwungenen Abhängigen und vermutet eine weit größere Verwiesenheit bäuerlicher Nachbarn aufeinander, als das kernfamilial-gattenzentrierte Modell beschreibt. Seine Alternative zur Verwendung von Begriffen wie Kern-, Haushalts- oder Verwandtschaftsfamilie ist die auf den Mann ausgerichtete Formulierung „mit Weib und Kind und …“. Der durch die Paarbeziehung gestiftete Konnex bleibe also zentral, der Typ dieser Verbindung jedoch, die Durchsetzung der (kirchlichen) Ehe und damit verbundener Wirkungen müsse verstärkt erforscht werden.

Im Hinblick auf die Debatte um Kernfamilie und Verwandtschaft ragen im vorliegenden Band mithin skeptische Wortmeldungen hervor, wobei sich nur in einer Minderheit der Beiträge so klare Stellungnahmen finden. Kaum diskutiert wird insbesondere die von Karl Heinz Spieß vorgenommene nähere Bestimmung der Kernfamilie als emotionales Bezugssystem, wozu der Herausgeber selbst allerdings auch keinerlei weitere Hinweise gibt. Wie Familie und Verwandtschaft übergreifend zu erforschen sein könnten, dafür sind nun teils stark differierende Vorschläge gemacht, die in den nächsten Jahren Wellen schlagen dürften.

Anmerkungen:
1 Jack Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin 1986.
2 Michael Mitterauer / Andreas Gestrich / Jens-Uwe Krause, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003.
3 Vgl. etwa die anders gelagerten Charakterisierungen in: Jon Mathieu / David Warren Sabean / Simon Teuscher (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to long-term development (1300–1900), New York 2007.