J. Jung u.a. (Hrsg.): Die zweigeteilte Geschichte der Grundschule

Titel
Die zweigeteilte Geschichte der Grundschule 1945 bis 1990. Ausgewählte und kommentierte Quellentexte zur Entwicklung in Ost- und Westdeutschland


Herausgeber
Johannes, Jung; König, Bettina; Krenig, Katharina; Stöcker, Katrin; Stürmer, Verena; Vogt, Michaela
Reihe
Grundschulpädagogik interdisziplinär 4
Erschienen
Berlin 2011: LIT Verlag
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Veronika Wabnitz, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Entmilitarisierung, Entnazifizierung und Demokratisierung (Umerziehung) – auf diese kurze Formel lassen sich die allen vier Alliierten gemeinsamen Forderungen bringen, die unmittelbar auch die Neuordnung des Bildungswesens im Nachkriegsdeutschland betrafen. Doch schon sehr bald zeigte sich, dass aus diesen Grundsätzen kein für alle deutschen Besatzungszonen einheitlicher Umbau des traditionell gegliederten deutschen Bildungssystems erfolgen würde. In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde bereits im Juni 1946 das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule verabschiedet, das die Einführung einer achtklassigen Einheitsschule für alle Schüler vorsah. Demgegenüber gelang es den deutschen (Schul-)Politikern in den westlichen Besatzungszonen, insbesondere im amerikanisch verwalteten katholischen Bayern, eine grundlegende Umstrukturierung des Schulsystems zunächst herauszuzögern. Und als die Westalliierten im Zuge des heraufziehenden Kalten Krieges andere politische Schwerpunkte setzten, war es den westdeutschen Bildungspolitikern wieder möglich, ihre eigenen schulpolitischen Vorstellungen umzusetzen bzw. die geforderten Reformen auszusetzen.1 Schon vor der Gründung der beiden deutschen Staaten war damit die Schaffung zweier sehr unterschiedlicher Bildungssysteme vorgezeichnet.

An diesem Punkt setzt der schmale Dokumentenband zur zweigeteilten Geschichte der Grundschule zwischen 1945 und 1990 an. Er versammelt ausgewählte Dokumente zur Geschichte der Grundschule in DDR und BRD, um so einen ersten Beitrag zu einer integralen deutsch-deutschen Grundschulgeschichte zu liefern.

In ihren einleitenden Bemerkungen stellen Johannes Jung und Andreas Nießeler die „Bildungstheoretische Rahmung“ des Themas vor. Sie geben einen Überblick über die Entwicklung der Schulgeschichte zwischen 1945 und 1990 und nennen in paradigmatischer Verkürzung die zentralen gesellschaftspolitischen Weichenstellungen, die diese Entwicklung mitbestimmt haben.

Die verbleibenden Seiten des Buches teilen sich in vier Themenbereiche: Bildungspolitik und -statistik, institutionelle Entwicklung, Lehrplangeschichte und disziplinäre Geschichte. Die einzelnen Kapitel sind in sich wiederum in vier Abschnitte gegliedert: zwei Dokumentensammlungen, wovon jeweils die erste die westliche und die zweite die östliche Entwicklung abdecken soll, und zwei dazugehörige Kommentare.

Die ersten beiden Abschnitte zu Bildungspolitik und institutioneller Entwicklung enthalten vorwiegend Gesetzestexte und andere amtliche Dokumente wie beispielsweise Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates für Westdeutschland bzw. Artikel aus einschlägigen pädagogischen Zeitschriften aus Ostdeutschland. Zwei wesentliche Entscheidungen der Westalliierten aus den Jahren vor der Gründung der beiden deutschen Staaten sind nach Ansicht von Bernd Zymek (der den Kommentar zu Bildungspolitik in Westdeutschland verfasst hat) bis heute für die schulpolitische Entwicklung wesentlich mitverantwortlich: die Wiedereinführung der föderalen Struktur Deutschlands und die Bildungs- und Kulturhoheit der Länder. Den westdeutschen Bundesländern ermöglichte die Föderalität der Schulgesetzgebung die Einführung unterschiedlich langer Grundschulzeiten (sechsjährige Grundschule in West-Berlin, Hamburg, Bremen) oder auch eine unterschiedliche Haltung in Bezug auf die Konfessionalität der Schule. Während in Bremen und Hamburg der konfessionelle Charakter der Grundschule nach 1945 abgeschafft wurde, blieb er in Bayern und auch dem neuen Bundesland Nordrhein-Westfalen in den jeweiligen Landesverfassungen verankert (S. 45). Im Osten wurde demgegenüber bereits 1946 ein für die gesamte sowjetische Besatzungszone verbindliches Schulgesetz verabschiedet, das unter strenger Ägide der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) erarbeitet und gegen nicht geringen Widerstand der Deutschen durchgesetzt wurde (S. 72).

Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit der Lehrplangeschichte der Fächer Deutsch bzw. Heimat- und Sachkunde (Westdeutschland) und Unterricht in der Muttersprache bzw. Heimatkundlicher Deutschunterricht (Ostdeutschland) und hätte sich besonders gut für eine direkt vergleichende Perspektive angeboten. Denn die zunehmende „Wissenschaftsorientierung“ (S. 169) auch des Grundschul-Unterrichts (die durch die ausgewählten Quellen verdeutlicht werden soll) war ein Phänomen, das sowohl Ost- wie Westdeutschland betraf. Anhand der direkten Gegenüberstellung einzelner Lehrpläne und Stundentafeln ließen sich die Entwicklung der einzelnen Fächer und die je spezifische Schwerpunktsetzung im Unterricht vergleichend analysieren.

Auch dass sich die ostdeutschen Lehrpläne „in doppelter Hinsicht durch eine beachtenswerte Dichte aus[zeichneten], eine zeitliche Dichte der Erarbeitung und Revisionen wie auch eine zunehmende Dichte der Regelungen“ (S. 196), könnte durch einen vergleichenden Blick auf die größere Freiheit bei der Unterrichtsgestaltung in Westdeutschland grundlegende Unterschiede zwischen beiden Bildungssystemen veranschaulichen. Bei der „Bildung des sozialistischen Bewusstseins zum Wohle des Volkes und der Nation“ (S. 185) – das neben der Vermittlung von Lesen und Schreiben zu den wichtigsten Unterrichtszielen gehörte – sollte möglichst wenig dem Zufall bzw. der Willkür des Lehrers überlassen werden.

Der letzte Abschnitt der Dokumentensammlung beschäftigt sich mit der disziplinären Geschichte. Für Westdeutschland lassen sich aus den Quellen als wichtigste Trends in der Reform der Lehrerbildung seit den 1960er-Jahren eine veränderte gesellschaftspolitische Rolle des Lehrers und die anhaltende Diskussion des Hierarchisierungsproblems der Lehrerbildung ablesen. Die Lehrer sollten demnach nicht länger „abhängiges Vollzugsorgan des Staates“ (S. 225) sein, sondern autonom pädagogische Entscheidungen treffen können und so eine aktivere Rolle bei „Systemkritik“ (ebd.) und „Systemveränderung“ (ebd.) übernehmen.

Aus den wenigen Quellen für den Ostteil Deutschlands geht hervor, dass die dortige Elementarschulpädagogik den „Status einer halbakademischen Protodisziplin“ (S. 258) bis 1990 nicht überwinden konnte. Wie im Westen wuchsen auch hier seit Ende der 1950er-Jahre die wissenschaftlichen Anforderungen an den Unterricht, ansonsten blieben insbesondere die Grundschullehrer ‚Vollzugsorgane‘ von Partei und Staat.

Die selbst gestellte Aufgabe der Herausgeber des Bandes lautet, „die Geschichte der Grundschule einerseits als eine doppelte, andererseits als eine geteilte Geschichte wahrzunehmen. Doppelt im Sinne verwandter Zielsetzungen und Aufgaben, mitunter auch in dialogischer oder konkurrierender Verfasstheit, geteilt im Sinne je eigener Schwerpunkte bei Inhalten und Aufgaben“ (S. 9). Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass hier erstmals Dokumente zum Thema Grundschule in Ost- und Westdeutschland in einem gemeinsamen Band herausgegeben wurden, hätte man sich an der einen oder anderen Stelle in den Kommentaren einen Hinweis auf erste Befunde in dieser Richtung erhofft. Doch leider verzichten die AutorInnen in ihren Texten weitestgehend auf eine direkte Bezugnahme auf den jeweils anderen deutschen Staat. Die Lehrplanarbeit und die Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft bzw. die stetig wachsende Forderung nach Verwissenschaftlichung des Unterrichts wurden bereits als besonders lohnende Felder für vergleichende Untersuchungen erwähnt. Demgegenüber lässt die institutionelle Entwicklung der Grundschule in Ost und West schon sehr früh eine starke „Eigendynamik“ und damit eine wachsende Auseinanderentwicklung der beiden deutschen Staaten erkennen.2 Trotz dieser Einwände gibt der vorliegende Band erste Impulse für eine deutsch-deutsche Vergleichs-, Verflechtungs- oder Transfergeschichte auf dem Gebiet von Bildung und Schule. Dabei soll es nicht darum gehen, die bisher eher gängige Teilungs- in eine gemeinsame deutsche Bildungsgeschichte nach 1945 zu verkehren, sondern es gilt auch hier, die spezifisch deutsch-deutsche Wechselwirkung von Abgrenzung und Verflechtung herauszuarbeiten.3

Anmerkungen:
1 Heinz-Elmar Tenorth, Geschichte der Erziehung. Einführung in ihre neuzeitliche Entwicklung, 5. Auflage, Weinheim / München 2010, S. 274.
2 Konrad Jarausch, „Die Teile als Ganzes erkennen“. Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeithistorische Forschungen, 1 (2004), S. 10-30, hier S. 18.
3 vgl. dazu etwa Christoph Kleßmann, Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990, in: Christoph Kleßmann / Peter Lautzas (Hrsg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Bonn 2005, S. 20–37.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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