W. Oesterreicher u.a.: Autorität der Form

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Titel
Autorität der Form – Autorisierung – institutionelle Autorität.


Herausgeber
Oesterreicher, Wulf; Regn, Gerhard; Schulze, Winfried
Reihe
Pluralisierung und Autorität 1
Erschienen
Münster 2003: LIT Verlag
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Pickert, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Seit 2001 untersucht ein an der Ludwigs-Maximilians-Universität München angesiedelter Sonderforschungsbereich „Pluralisierung und Autorität“ die Epoche der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von Traditionsvorgaben des Mittelalters und der Moderne. Miteinander konkurrierende Teilwirklichkeiten innerhalb aller Lebensbereiche erforderten und stimulierten die Auseinandersetzung mit Hergebrachtem und Neuem. Der vorliegende Sammelband referiert die Ergebnisse eines Kolloquiums, das den Autoritätsbegriff in drei Bereichen verortete: Form, Autorschaft und Institution. In den Beiträgen wird aufgezeigt, wie die normierende Kraft der Autorität die Pluralisierung der Meinungen zu zähmen versuchte.

Nach den Bedingungen der Durchsetzungskraft einer „Autorität der Form“ unterschiedlicher Informationsträger wird im ersten Sammelbandabschnitt gesucht. Für das Medium Bild verweist Frank Büttner auf die Schlüsselrolle der „Etablierung der Perspektive als unabdingbare Grundlage und geometrisch beweisbares Regelwerk der Wirklichkeitswidergabe“ (S. 17). Nachdem mit der "Allsichtigkeit" (S. 20) spätmittelalterlicher Bilder erstmals Betrachter direkt angesprochen worden waren, entstanden seit dem 15. Jahrhundert künstlerische Konstruktionsstrategien, die durch die Festlegung eines „richtigen“ Standpunkts nicht nur den Blick, sondern auch den Betrachter selbst bewusst zu lenken vermochten. Leider geht Büttner in seinem interessanten Aufsatz der Rolle des Künstlers bei der Entwicklung der Wirklichkeitsdarstellung oder der Frage nach einer sich verändernden Wahrheitsauffassung nicht weiter nach. 1 Hier kann man gespannt sein auf weitere Ergebnisse aus dem Bereich B2 des Sonderforschungsbereichs!

Bei den von Arndt Brendecke vorgestellten listenförmigen Datensammlungen beruhte Autorität auf dem kommunikativen Rahmen schriftlich fixierter Fragelisten oder Spaltenüberschriften. Die Menge erfassbarer Informationen war dadurch von vornherein reglementiert und wurde durch die Zuordnung zu einem Oberbegriff interpretiert. 2 Ein ähnliches Verfahren nutzten frühneuzeitliche Florilegien und Enzyklopädien bei der Wissensakkumulation und -steuerung. Gilbert Heß betont allerdings die höhere Flexibilität dieser Textgattungen: Neben der bloßen Zuordnung zu einem Kapitel oder Lemma eröffneten Auswahl, Integration oder Dekontextualisierung der Zitate ebenso wie die Nennung, das Verschweigen oder die Kombination von Autorennamen diverse Möglichkeiten der Autoritätsbehauptung. Autorität war dabei nicht automatisch positiv konnotiert. Martin Schierbaum zeigt, dass antikes Wissen stets als Autorität empfunden, dabei jedoch in unterschiedlicher Weise als selbstverständlicher Bestandteil, als besonderes Vorbild oder als gefährliche Konkurrenz oder zum zeitgenössischen Wissenshorizont gedeutet werden konnte. Die unterschiedlichen formalen Strukturen frühneuzeitlicher Texte machten Hervorhebung, Bekämpfung oder Integration möglich. Die Auswahl der äußeren Form konnte dabei auch auf die Autorität der Werke zurückwirken. Roland Schmidt-Riese verweist auf das Beispiel des bewussten Rückgriffs auf die anerkannte traditionelle Form der Grammatiken. Es überrascht daher nicht, dass die Autorität des scholastisch vermittelten Sachwissens nicht unmittelbar von der humanistischen Wertschätzung der Textform abgelöst wurde (Konrad Vollmer und Vlatka Cizmic), sondern weiterhin eine autoritätslegitimierende Funktion innehatte. 3

Erfolge und Misserfolge bei der Durchsetzung auktorialer Autorität beleuchtet der zweite Abschnitt des Bandes. Sabrina Ebbersmeyer verdeutlicht am Beispiel Petrarcas die Unterschiede bei der Beurteilung von Autorität in Scholastik und Humanismus. Es kam nicht zu einer pauschalen Abwendung von traditionellen Autoritäten, vielmehr wurde nach einem neuen Autoritätsideal verlangt: Die „am Sachwissen orientierte topische“ wurde von „einer an der persönlichen Vorbildhaftigkeit ausgerichteten rhetorischen Verwendung von Autorität“ abgelöst (S. 137). Cicero schien dadurch zunächst attraktiver als Aristoteles. Auch die Neukonstruktion der auktorialen Autorität Petrarcas folgte im 16. Jahrhundert diesem Muster, das „die frühhumanistischen Vorstellungen moralphilosophischer Exemplarik“ ausblendete (S. 171) und dagegen die individuellen Züge und genuinen literarischen Leistungen des Verfassers in den Vordergrund stellte (Florian Neumann). Jörg Robert verweist allerdings auf Erasmus’ Warnungen vor bloßer Imitation: Wer Autorität beanspruchte, sollte besser sein Anliegen eigenständig und innerhalb anerkannter Kommunikationsmuster der Gegenwart (dazu zählten auch Gestik, Mimik, Kleidung) darstellen.

Florian Mühlegger führt den Leser in den Bereich fehlgeschlagener Autorisierungsversuche. Hugo Grotius bezog als Jurist und Philologe Stellung zum spezifisch theologischen Problem der Satisfaktionslehre, berief sich auf traditionelle und zeitgenössische Autoritäten, de-autorisierte gegnerische Ansichten. Er kam jedoch zu spät, da die Auseinandersetzung bereits von anderen beigelegt worden war. Der „Autorisierungsnotstand“ (S. 176), den die Pluralität der Meinungen hervorgerufen hatte, war bereitsvorüber. Aktuell blieb er dagegen für das normierende Instrument katholischer Verbotskataloge, die der überbordenden frühneuzeitlichen Bücherflut Herr zu werden versuchten. Hartmut Zedelmaier illustriert das spektakuläre Scheitern des Projekts an der schieren Masse der Publikationen, aber auch an dem unübersichtlichen bürokratischen Apparat der katholischen Kirche. Dagegen hatten die von Martin Mulsow untersuchten Anonymen- und Pseudonymen-Lexika des 17. Jahrhunderts mit einer ähnlichen Strategie für einen begrenzten Bereich Erfolg: Lexikografen und Zuarbeiter aus dem Bereich der gelehrten Öffentlichkeit stellten Autoren aus ihrer Mitte bloß und agierten damit als quasi-juristische interne Kontrollinstanz.

Aus Michael Stolbergs anschaulichem, facettenreichen Beitrag über Autorisierungsformen und -strategien der frühneuzeitlichen Medizin soll hier nur ein Punkt herausgegriffen werden, der in Bezug auf das Sammelbandthema besondere Relevanz besitzt, aber von den anderen Beiträgen nur gestreift wird: Autoritätsbehauptung war immer verbunden mit einer bestimmten Auffassung von beweisbarer Wirklichkeit. Im Fall medizinischer Publikationen verliehen perspektivisch getreue Abbildungen wissenschaftlichen Befunden eine visuelle Realität; die Schilderung von Einzelfällen im Text suggerierte Nachprüfbarkeit durch Orts- und Zeitangaben und durch die Anführung von Augenzeugen. 4

Mit Merkmalen der Autorität frühneuzeitlicher Institutionen befasst sich der abschließende Teil des Sammelbandes. Thomas Duve betont zunächst die forschungspraktische Ergiebigkeit des Frageansatzes des Sonderforschungsbereichs für die neuere Rechtsgeschichte. Die für den Bereich des Privatrechts angenommene Chronologie von Rezeptionsstufen entpuppt sich mit Blick auf die kulturhistorischen Aspekte der Autorität als Wechselspiel widerstreitender Ansichten. Stellvertretend für alle Beiträge des Sammelbands resümiert Duve: „Durch seine polare Struktur ist [der Autoritätsbegriff] in der Lage, auch gegenläufige Tendenzen zu erfassen, kann damit die Komplexität der Prozesse abbilden und vor einer linear-teleologischen Sicht schützen.“ (S. 252)

Nicht nur der Ausgang, sondern auch die Entstehung und der Verlauf von Streitfällen hing maßgeblich vom Autoritätsverständnis der beteiligten Parteien und Institutionen ab. In Petra Ehm-Schnocks Beitrag begegnen sich mit England und Frankreich während des Hundertjährigen Krieges „Erzfeinde mit weitgehend identischen Autorisierungssystemen“ (S. 261). Im Gegensatz dazu scheiterten die Verhandlungen Englands mit der Hanse bereits im Vorfeld, da sich die Gesprächspartner mit divergierenden, für den anderen unverständlichen Autoritätsauffassungen konfrontiert sahen. Unvereinbare Autoritätsansprüche mussten aufeinanderprallen – etwa im Fall des Helmstedter Theologen Daniel Hofmann, der als Individuum den Streit gegen die Durchsetzungsmacht staatlicher Institutionen aufnahm (Markus Friedrich). Wiesen die beteiligten Parteien allerdings eine gewisse normative Flexibilität auf, so konnten selbst komplizierte Situationen wie der Wiederaufbau der konfessionell zersplitterten jülich-klevischen Gebiete nach dem Dreißigjährigen Krieg gemeinsam bewältigt werden (Ralf-Peter Fuchs).

Die Autorität frühneuzeitlicher Verhandlungspartner war nicht selten von einer höhergestellten institutionellen Macht verliehen. Diese Art der Autorisierung erwies sich als besonders tragfähiges Druckmittel gegen herkömmliche, auf Tradition beruhende Autoritätsansprüche. So wurde etwa die spanische Hofhistoriografie zur Kontrollinstanz der zeitgenössischen, traditionellen Geschichtsschreibung (Robert Folger). Abschließend erinnert Alexander Schunka an den möglichen Widerspruch von Autoritätsverständnis und Autoritätsausprägung und nimmt dafür exemplarisch Bezug auf die sächsische Immigration während des 17. Jahrhunderts. Die Berufung auf die kurfürstliche Autorität als religiöse Schutzmacht wurde allmählich zum Symbol, das nicht länger von einer konfessionellen Dringlichkeit der Einwanderung abhing, aber dennoch eine bestimmte Gegenleistung von seiten der Herrschaft versprach. Schunka beschreibt das Phänomen treffend als „Pragmatisierung konfessioneller Autorität“ (S. 324).

Der vorliegende Sammelband macht die Vielfalt des frühneuzeitlichen Autoritätsbegriffs sichtbar. Viele Fragen bleiben offen, nicht zuletzt aufgrund der heterogenen Form der Beiträge. In ihnen finden sich jedoch viele faszinierende Details, Akteure und Quellen, deren Kenntnis lohnt. Gerade deshalb hätten die Leser übrigens ein sorgfältigeres Lektorat und einen Index verdient.

Anmerkungen:
1 Zur Frage nach verschiedenen, parallel existenten „Wahrheiten“ im Bild, s. Latour, Bruno, Les anges ne font pas de bons instruments scientifiques, in: Ders., Petites leçons de sociologie des sciences, Paris 1993, S. 226-251.
2 Inzwischen hat sich auch das Journal of the History of Ideas (64/1, 2003: Early Modern Information Overload) mit dem spezifisch frühneuzeitlichen Umgang mit Datenfülle befasst (vgl. v.a. die Beiträge von Jonathan Sheehan und Richard R. Yeo).
3 Detailfragen wurden kürzlich diskutiert in den Beiträgen des Bandes von Kessler, Eckhard; Mclean, Ian (Hgg.), Res et verba in der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 21), Wiesbaden 2002.
4 Zu diesem wichtigen Aspekt im 18.-20. Jahrhundert vgl. Daston, Lorraine; Galison, Peter, The Image of Objectivity, in: Representations 40, Special Issue: Seeing Science (1992), S. 81-128.

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