Die Neuroonkologie hat im letzten Jahrzehnt eine enorme wissenschaftliche Entwicklung durchlaufen. Primäre Hirntumore können zunehmend molekular klassifiziert und Läsionen für einen gezielten Therapieansatz definiert werden. Derzeit profitiert zwar erst ein Bruchteil der Patienten, doch die innovativen Behandlungskonzepte werden demnächst einer breiteren Patientengruppe zugänglich werden. Selbst das Ziel, ein Langzeitüberleben für viele Patienten zu erreichen, gilt nicht mehr als Illusion. Größte Herausforderung bleibt die primäre Heterogenität der Tumoren. Prof. Wolfgang Wick ist Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik und Leiter des Schwerpunkts Neuroonkologie des Nationalen Tumorzentrums am Universitätsklinikum Heidelberg und einer der führenden Neuroonkologen Deutschlands. Best practice sprach mit ihm über seinen persönlichen Werdegang, intelligente Netzwerke im Gehirn, unbekannte Immuncheckpoints und völlig neuartige Strategien zur Diagnostik und Therapie von Hirntumoren.

FormalPara Best Practice:

Herr Prof. Wick, wie sind Sie in die Medizin gekommen? War es von jeher Ihr Traum, Arzt zu werden?

FormalPara W.Wick:

Nein, das kann ich nicht sagen. Ich stamme aus einer Familie, in der es vor mir keine Mediziner, dafür umso mehr Architekten gab. Ich bin also familiär überhaupt nicht vorgeprägt. Ich hätte mir genauso gut vorstellen können, als Wissenschaftler an der Universität zu arbeiten, zum Beispiel im naturwissenschaftlichen, aber auch im geisteswissenschaftlichen Bereich. Die Medizin habe ich erst über meinen Zivildienst, den ich Krankenhaus abgeleistet habe, kennengelernt und habe mich dann für dieses Fach begeistert.

Ich bin über den Zivildienst zur Medizin gekommen

FormalPara Best Practice:

Wie führte Sie Ihr Weg später in die Neurologie und wie hat sich daraus ihr Spezialforschungsgebiet, die Neuroonkologie, entwickelt?

FormalPara W.Wick:

In Wirklichkeit war die Reihenfolge genau andersherum. Es begann mit der Neuroonkologie. Ich habe in diesem Bereich bereits meine Doktorarbeit gemacht. In der Neuropathologie konnte man seinerzeit in Bonn, wo ich Medizin studiert habe, gute Grundlagenforschung betreiben. Danach habe ich mein Praktisches Jahr ebenfalls in der Neuroonkologie absolviert, und zwar in Boston. Nun war meine Begeisterung für dieses Forschungsgebiet endgültig geweckt. Da mir klar war, dass ich mein wissenschaftliches Interesse nur im Rahmen der Neurologie vernünftig umsetzen kann, habe ich dieses Fach gewählt und bin in die Neurologie gewechselt. Ich bin dazu nach Tübingen gegangen, weil dort wirklich sehr gute Forschungs- und Ausbildungsbedingungen bestanden und ich ein gutes wissenschaftliches Umfeld vorgefunden habe, das bis heute diesen Bereich in Deutschland prägt. Heute bin ich Leiter einer Neurologischen Klinik und vertrete natürlich das Fach als Ganzes. Wissenschaftlich fasziniert mich aber nach wie vor die Neuroonkologie. In diesem Teilbereich der Neurologie bin ich inzwischen seit über 20 Jahren wissenschaftlich tätig.

FormalPara Best Practice:

Seit 2007 haben Sie eine Professur an der Universität Heidelberg inne und sind am National Center for Tumor Diseases (NCT) tätig? Wie beurteilen Sie die dortigen Forschungsmöglichkeiten und das Forschungsumfeld?

FormalPara W.Wick:

Ich bin konkret nach Heidelberg gekommen, weil seinerzeit eine Stiftungsprofessur von der Hertie Stiftung ausgeschrieben war. Der Standort Heidelberg hatte sich mit mir als Kandidaten für diese Professur beworben. Heidelberg bot sich an, weil dort die klinischen Disziplinen – Radioonkologie, Neuropathologie und Neuroradiologie – eine klare Fokussierung auf Hirntumore haben. Und natürlich auch, weil es in Heidelberg viele grundlagenwissenschaftlichen Gruppen gab und gibt, die sich für Hirntumore interessieren. Ich möchte die Leistungen keiner anderen Klinik klein reden, aber vermutlich gibt es im deutschsprachigen Raum keinen Standort, an dem man bessere Arbeitsbedingungen im Bereich der Hirntumore vorfindet, als in Heidelberg. Ich habe die Chance genutzt, dort mitzumachen und sicher auch meinen Anteil dazu beizutragen, dieses Gebiet weiterzuentwickeln. Aber Heidelberg war auch schon vor meinem Kommen im Hinblick auf Hirntumore ein Standort mit einer extrem interessanten wissenschaftlichen und klinischen Perspektive.

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In regelmäßigen internen Weiterbildungen werden aktuelle Fälle dargestellt und diskutiert. (Mit freundl. Genehmigung © P. Benjamin, alle Rechte vorbehalten)

FormalPara Best Practice:

Wie haben Sie im vergangenen Jahrzehnt die Entwicklung in Ihrem Fachgebiet Neuroonkologie erlebt, die sie ja selbst maßgeblich mitgestaltet haben?

FormalPara W.Wick:

In der Neuroonkologie haben wir in den letzten zehn Jahren eine enorme wissenschaftliche Entwicklung erlebt, die uns hilft, Hirntumore besser zu verstehen, aber auch Läsionen für einen Therapieansatz zu definieren. In den kommenden zehn Jahren werden wir nun hoffentlich die Phase der Umsetzung erleben. Wir können Hirntumore heute molekular in deutlich stärker abgegrenzte Subgruppen einteilen und dadurch die Prognose für betroffene Patienten wesentlich besser abschätzen. Die molekulare Klassifikation hilft und auch bei klinischen Studien, weil wir nun für definierte Entitäten klare und saubere Effekte von Therapien zeigen können. Wir haben auch Gruppen von therapierelevanten Veränderungen gefunden, die charakteristisch sind für den einzelnen Hirntumor. Ich möchte hier die IDH-Mutation als prominentes Beispiel nennen – eine genetische Veränderung, die uns wirklich großartige therapeutische Perspektiven eröffnet.

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In regelmäßigen interdisziplinären Tumorkonferenzen werden einzelne Fallbeispiele im Detail besprochen. (Mit freundl. Genehmigung © P. Benjamin, alle Rechte vorbehalten)

FormalPara Best Practice:

Kommen wir zu den aktuellen spannenden Entwicklungen in der Neuroonkologie, speziell zu den Gliomen: Man weiß heute, dass gliale Tumoren im Gehirn Netzwerke bilden …

FormalPara W.Wick:

Ja, das ist grundlagenwissenschaftlich ein völlig neues Konzept für das Tumorwachstum. Seit ein paar Jahren verfolgen wir, dass Hirntumore die Basischarakteristika des Gehirns, also dessen Netzwerkstruktur, imitieren. Das hat für einen Tumor gleich zwei Vorteile: Zum einen können therapeutische Angriffe mit Strahlen oder Medikamenten viel besser abgeschmettert werden, weil das Netzwerk sich eine Struktur schafft, mit der es die Toxizität besser verteilt. So können beispielweise Calciumsignale, die bei einzelnen Tumorzellen zum Zelltod führen würden, in einem großen Areal verteilt und damit quasi unwirksam gemacht werden. Der Tumor wird damit therapieresistent. Das Netzwerk nutzt zweitens aber auch Kommunikationsstrukturen zu gesundem Gehirngewebe, also zu Nerven- und Gliazellen, um Reparaturvorgänge nach einem erlittenen Schaden besser ausführen zu können. Seit wir diese neuen Erkenntnisse haben, entwickeln wir ein neues Verständnis für die Behandlung von Hirntumoren: Es geht wahrscheinlich weniger darum, die einzelne Tumorzelle zu betrachten, als vielmehr die Architektur der Tumorzelle im gesunden Hirngewebe.

FormalPara Best Practice:

Welche maßgeschneiderten therapeutischen Strategien versprechen Ihrer Meinung nach den größten Erfolg?

FormalPara W.Wick:

Bleiben wir zunächst bei den Netzwerken. Hier eröffnen sich völlig neue Targets, die bislang in der Onkologie überhaupt keine Rolle gespielt haben. Das sind Kanalstrukturen, Verbindungsstrukturen zwischen Zellen, also Gap Junction Proteine. Wir müssen die Frage beantworten, wie wir das Netzwerk durch Veränderungen an den Elektrolytkanälen, etwa an den Calciumkanälen, beeinflussen und damit die Signalkaskade zwischen den Zellen verändern können.

Als weitere Strategie sehe ich übergeordnete Immunangriffe. Dabei müssen wir möglicherweise akzeptieren, dass die bekannten Immuncheckpoints wie CTLA-4 oder PD-1/PD-L1 im Gehirn keine prominente Rolle spielen, sondern dass es eigene hirntypische Checkpoints gibt. Wir müssen diese dringend identifizieren, damit wir sie dann in der Folge gezielt angehen können.

FormalPara Best Practice:

Übergeordnete Immunangriffe können ja nicht nur mittels Checkpoint-Inhibitoren erfolgen. Welche Rolle spielen Tumorvakzine?

FormalPara W.Wick:

Vakzine können zukünftig eine große Bedeutung erlangen, doch gibt es auch hier ein Problem. Wir haben einige wenige Patienten mit einer klar definierten Tumorprivatmutation, etwa IDH oder H3.3K27. Diese privaten, also spezifisch im Tumor vorkommenden Antigene werden tumorzelltypisch präsentiert und lösen bereits eine schwache Immunantwort aus, die aber nicht ausreicht. Wir müssen sie deshalb mit einer Impftherapie verstärken. Ob dabei Peptide, RNA oder CAR-T-Zellen zum Einsatz kommen werden, kann derzeit noch niemand sagen, wenngleich einiges für letztere spricht. Und da, wo keine privaten Antigene bekannt sind, müssen wir sie suchen. In einem großen EU-Konsortium haben wir uns bereits auf die Suche nach solchen Antigenen gemacht und waren hier auch durchaus erfolgreich. Das bleibt sehr spannend.

FormalPara Best Practice:

Bevacizumab hat kürzlich die FDA-Zulassung für die Zweitlinienbehandlung des Glioblastoms erhalten. Welche Patienten können profitieren?

FormalPara W.Wick:

Ich glaube, dass die antiangiogene Therapie für die Mehrzahl unserer Patienten keine Rolle mehr spielen wird. Es gibt eine kleine Gruppe von Patienten, die gut und auch langfristig anspricht. Das rechtfertigt aber nicht den breiten Einsatz von Bevacizumab. Wir sollten uns vielmehr bemühen, diejenigen Patienten zu identifizieren, die profitieren. Es gibt zudem einige Patienten, die zumindest kurzfristig in hohen Maße vom palliativen Aspekt der antiangiogenen Therapie profitieren – etwa Patienten, die schon früh im Erkrankungsverlauf erheblich unter starken entzündlichen Nebenwirkungen einer Strahlentherapie. Einen allgemeinen Einsatz für die antiangiogene Therapie sehe ich nach den Studien, die wir gemacht haben, aber nicht mehr.

FormalPara Best Practice:

Sind prognostische und prädiktive Biomarker bekannt, die der Prognoseabschätzung und der Therapieentscheidung unterstützen könnten?

FormalPara W.Wick:

Ja, diese Marker gibt es und sie haben bereits Eingang in die aktuelle WHO-Klassifikation gefunden. Als prognostische Marker sind derzeit die IHD-Mutation und der 1p/19q-Status etabliert; für die nähere Zukunft werden sicher Methylierungsklassen hinzukommen. Als zukünftiger prädiktiver Marker wird die MGMT-Promotor-Hypermethylierung diskutiert, die eine Aussage über das Ansprechen auf eine alkylierende Chemotherapie erlaubt.

FormalPara Best practice:

Wie lassen sich die aktuellen Erkenntnisse in mögliche Therapien umsetzen – gibt es entsprechende klinische Studien?

FormalPara W.Wick:

Die Studienaktivität in der Neuroonkologie ist in Deutschland über die Neuroonkologische Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Krebsgesellschaft (NOA) hoch, auch was frühe Studien betrifft. So laufen derzeit zwei First-in-Man-Studien mit einem IDH Inhibitor und einer Tumorvakzine. Wir haben auch eine große europäische Studie zur personalisierten Immuntherapie mit Vakzine koordiniert und durchgeführt. Wichtige neue Erkenntnisse wird uns auch die Phase-I/II-Studie N2M2 liefern. Diese achtarmige NOA-Studie wird die Tumorzellen von Patienten mit Glioblastom molekulargenetisch charakterisieren und geeignete personalisierte Therapien im Rahmen von klinischen Studien entwickeln. Dabei kommen molekular zielgerichtete Therapien ebenso zum Einsatz wie immunmodulierende. Die Studien sollen eine schnelle Priorisierung neuer Wirksubstanzen für die klinische Anwendung ermöglichen.

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Hirntumore können heute molekular in deutlich stärker abgegrenzte Subgruppen eingeteilt werden, wodurch die Prognose für betroffene Patienten wesentlich besser abgeschätzt werden kann. (Mit freundl. Genehmigung © P. Benjamin, alle Rechte vorbehalten)

FormalPara Best practice:

Wo sehen Sie in den nächsten Jahren die größten Potenziale im Hinblick auf eine bessere Diagnostik und Therapie von Hirntumoren?

FormalPara W.Wick:

Im Bereich der Diagnostik werden Methylierungsklassen Eingang in den klinischen Alltag finden werden. In therapeutischer Hinsicht ist mein Eindruck, dass wir in den kommenden zehn Jahren für immer mehr Patientengruppen die Prognose durch adäquate Therapien deutlich verbessern werden. Wir reden dann nicht mehr von einem Überleben über ein oder zwei Jahre, sondern von einem Langzeitüberleben über mindesten zehn Jahre. Ich sehe auch deutliche Fortschritte durch die Impftherapie, vielleicht mit CAR-T-Zellen. Mein großer Wunsch ist, dass wir im nächsten Jahrzehnt einen hirnspezifischen Immuncheckpoint identifiziert und weiterentwickelt haben werden.

FormalPara Best practice:

Herr Prof. Wick, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Das Interview führte: Frau Dr. Claudia Schöllmann

Fotos: Philip Benjamin