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Das Leugnen der Tat bei der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe

Denial of the Offence and Release on Probation

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Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Kann ein Verurteilter, der seine Tat weiterhin leugnet, vorzeitig aus der Haft entlassen werden? Diese Frage haben sich Strafvollstreckungskammern immer wieder zu stellen, denn die Möglichkeit der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung ist für jeden Strafgefangenen zu prüfen, aber nicht jeder gibt zu, die im Urteil festgestellte Tat begangen zu haben. Im nachfolgenden Beitrag soll am Beispiel einer Entscheidung über die Aussetzung der zeitigen Freiheitsstrafe gemäß § 57 Abs. 1 StGB dargestellt werden, welche Bedeutung dem Leugnen bei der richterlichen Entscheidungsfindung beizumessen ist. Dabei geht es nicht allein um bestimmte Schlüsse, die sich aus der Tatsache des Leugnens für die Prognose ziehen oder auch nicht ziehen lassen. Hiermit haben sich die Vollstreckungsgerichte – häufig unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zwar eingehend auseinanderzusetzen. Ihre rechtliche Prüfung geht allerdings darüber hinaus. Bevor mit der eigentlichen Würdigung des Leugnens begonnen werden kann, muss der juristische Rahmen feststehen, in dem dieser Arbeitsschritt zu erfolgen hat. Deshalb wird auch darauf eingegangen, ob das Gesetz Vorgaben für den Umgang mit dem Leugnen enthält und welche Bedeutung dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit bei der vollstreckungsrechtlichen Prüfung zukommt.

Abstract

The article is about the question whether or not a convicted person can be released on probation even though they are denying their offence. According to German Criminal Law, release on probation must be considered (by a special chamber of the court, “Chamber of Execution”; same question for any kind of Parole Board in other countries) in every case as soon as two thirds of the sentence are served, regardless the convicted person does or does not confess their offence. Using a case example, the article will show as to how the convict’s denial becomes a meaningful fact in the decision-making process. Besides referring to certain conclusions about criminal prognosis following from denying – which of course is a main issue with the decision about release, often valued by the help of expert testimony –, the focus will be set on the judicial framework around this question: Does the law give provisions on how to deal with denial, and how does the principle “nemo tenetur” (nobody has to charge themselves, harm their defence, nor give evidence against themselves) impact the considerations?

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Notes

  1. Groß in Münchner Kommentar [4] § 57 Rn. 14.

  2. Nach Groß in Münchner Kommentar [4] § 57 Rn. 15 seien von der Erwartung zukünftiger Straffreiheit Delikte ausgenommen, die das Sicherheitsinteresse der Bevölkerung nicht tangierten (z. B. Beleidigung).

  3. Vgl. Volckart [8], S. 107.

  4. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.09.1991, 2 BvR 1327/89 zur Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe: „Bei der Prognose hat der Richter die Art der drohenden Straftaten und das Maß ihrer Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, wobei er insbesondere auch die möglichen Wirkungen von Weisungen sowie der Betreuung durch einen Bewährungshelfer außerhalb des Vollzuges (§ 57 a Abs. 3 Satz 2 i. V.m. §§ 56 c, 56 d StGB) zu berücksichtigen hat (vgl. BVerfGE 70, 297<314>).“

  5. Vgl. BGH, Beschluss vom 25.04.2003, NStZ-RR 2003, 200: „Isolierte Aussagen über die Wahrscheinlichkeit künftiger Straflosigkeit sind daher wenig hilfreich.“

  6. BGH, Beschluss vom 25.04.2003, NStZ-RR 2003, 200.

  7. Die Schwierigkeit bei der Abwägung besteht darin, dass sich nicht verbindlich festlegen lässt, bei welchem Schweregrad der Straftat welcher Wahrscheinlichkeitsgrad einer möglichen (Nicht-)Begehung gegeben sein muss, um die Prognose noch positiv werten zu können bzw. ab welchem Grad der Wahrscheinlichkeit das positive Urteil in ein negatives umschlägt. Generell wird davon ausgegangen, dass ein gewisses Restrisiko immer hinzunehmen ist, weil sich zukünftige Straffreiheit in der Regel nicht hundertprozentig vorhersagen lässt. Dieses Restrisiko kann umso größer sein, je kürzer der Strafrest ist (vgl. Groß in Münchner Kommentar [4] § 57 Rn. 16).

  8. Brettel [1] S. 245, spricht von einer Konstruktion zukünftiger Wirklichkeit als Gegenstück zur Rekonstruktion der vergangenen Wirklichkeit.

  9. Kamann/Volckart in Feest [2] § 115 Rn. 38: „Dieses [das Gesetz] rechnet die Kriminalprognose zu den Beweisthemen der Strafrechtspflege, die prinzipiell den Erfahrungswissenschaften zugänglich sind und über die man durch Sachverständigengutachten Beweis erheben kann.“ Brettel [1] S. 249: „Auch eine Straftat ist, ebenso wie die Aussage über die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens, ein Vorgang im Tatsächlichen; nur deshalb kann darüber überhaupt Beweis erhoben und ein Sachverständiger herangezogen werden.“

  10. Bayrisches Oberstes Landgericht, Beschluss vom 30.07.2002, 1 St RR 71/02: „So gesehen ist die Behauptung einer günstigen Sozialprognose eine dem Sachverständigenbeweis zugängliche Wahrscheinlichkeitsbehauptung aufgrund gegenwärtigen und vergangenen Verhaltens (vgl. auch OLG Celle JR 1985, 32/33 mit zust. Anm. J. Meyer; Tröndle/Fischer StGB 50.Aufl. § 56 Rn. 4). Der Auffassung von K. Meyer (Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5.Aufl., S.430), Beweisanträge mit einer Prognosebehauptung seien stets als unzulässig abzulehnen, folgt der Senat nicht (so auch OLG Celle aaO mit zust. Anm. J. Meyer; Tröndle/Fischer aaO). Dass Prognosen in den Zuständigkeitsbereich von Sachverständigen fallen, belegt neben § 454 Abs.2 StPO auch § 246a Satz 1 StPO, wonach in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand eines Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen ist, wenn damit zu rechnen ist, dass die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet werden wird.“

  11. § 454 Abs. 2 Ziff. 2 StPO ist gemeinsam mit § 57 Abs. 1 Satz 1, Ziffer 2 n.F. aufgrund des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten am 31.01.1998 in Kraft getreten. Seither traut das Gesetz dem Richter die erforderliche Sachkunde für die Feststellung der Legalprognose nur noch in Fällen zu, in denen es um die Aussetzung von zeitigen Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren wegen eines Verbrechens oder eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Vergehen geht. In den übrigen Fällen, in denen die Strafe mehr als zwei Jahre beträgt, muss ein Sachverständiger hinzugezogen werden, obwohl die Frage, ob das Gericht für die Feststellung der Prognose fachlich hinreichend befähigt ist, keine Frage der Strafhöhe oder der Art des Vergehens ist. So wie es prognostisch einfach gelagerte Fälle trotz Haftstrafe von über zwei Jahren geben kann, kommen prognostisch schwierige Fälle auch bei Haftstrafen unter zwei Jahren vor.

  12. Vgl. Brettel [1] S. 237 ff.

  13. Weiterhin genannt ist das Gewicht des Rechtsgutes, das bei einem Rückfall bedroht wäre. Dieses Merkmal passt logisch nicht in die Aufzählung, denn hieraus lassen sich keine Schlüsse auf das zukünftige Legalverhalten ziehen, sondern dieser Aspekt ist bei der Bewertung des Legalverhaltens als positive oder negative Prognose zu beachten. Das Merkmal „Wirkungen, die von der Aussetzung zu erwarten sind“ unterscheidet sich von den anderen (Indiztatsachen) dadurch, dass es sich hierbei wie beim zukünftigen Legalverhalten nicht um eine gegenwärtige oder vergangene Tatsache, sondern um eine zukünftige Tatsache handelt, die ihrerseits nur durch Schlussfolgerungen festgestellt werden kann.

  14. Es gibt zwar durchaus so genannte Regelvermutungen für Schlussfolgerungen bei der Prognosebildung: So soll zum Beispiel die Tatsache, dass sich der Täter erstmals im Strafvollzug befindet, in der Regel dafür sprechen, dass er sich nach einer bedingten Entlassung straffrei verhalten wird (BGH, Beschluss vom 25.04.2003, StB 4/03, 1 AR 266/03 – NStZ-RR 2003, 200 ff.). Sie sind aber nicht im Gesetz verankert.

  15. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit oder das Verbot des Selbstbezichtigungszwanges ist ein international allgemein anerkannter Grundsatz, der Kernstück eines fairen Verfahrens ist (EGMR, Urt. vom 03.05.2001, 31827/96). Er hat in unserer Rechtsordnung Verfassungsrang und wird aus der Menschenwürde hergeleitet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.07.1995, 2 BvR 326/92).

  16. Roxin [6] § 15 Rn. 25: „Wenn der Beschuldigte jede Aussage verweigert oder sich auf die Bestreitung seiner Täterschaft beschränkt (BGHSt 34, 326), so ist sein Schweigen der Beweiswürdigung überhaupt entzogen. […] Anderenfalls drohte sein Recht zum Schweigen illusorisch zu werden.“ BVerfG, Beschluss vom 07.07.1995, 2 BvR 326/92: „Steht dem Beschuldigten nach der Verfassung ein Schweigerecht zu, so folgt daraus nicht nur ein Verwertungsverbot hinsichtlich erzwungener Aussagen (vgl. BVerfGE 56, 37 <51>), vielmehr darf das Schweigen des Beschuldigten als solches im Strafverfahren jedenfalls dann nicht als belastendes Indiz gegen ihn verwendet werden, wenn er die Einlassung zur Sache vollständig verweigert hat. Das aus der Menschenwürde des Beschuldigten hergeleitete Schweigerecht wäre illusorisch, müsste er befürchten, dass sein Schweigen später bei der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil verwendet wird (vgl. auch BGHSt 38, 302 <305>); eine Verwertung des Schweigens zum Schuldnachweis setzte den Beschuldigten mittelbar einem unzulässigen psychischen Aussagezwang aus (vgl. Stürner, NJW 1981, S. 1757 <1758>).“

  17. Vgl. BGH, Beschluss vom 23.04.2002, StV 2003, 17: „Diese Erwägungen verstoßen gegen den auch bei der Prüfung der besonderen Schuldschwere geltenden Grundsatz, dass einem Angeklagten ein zulässiges Verteidigungsverhalten nicht als schulderhöhender Umstand angerechnet werden darf. Ebenso ist es nicht zulässig, dem – jedenfalls in der Hauptverhandlung – einen Tötungsvorsatz bestreitenden Angeklagten fehlende Reue anzulasten.“

  18. BGH, Beschluss vom 14.05.1987 – 4 StR 213/87; Beschluss vom 20.12.1988 – 1 StR 664/88; Beschluss vom 06.05.1992 – 3 StR 149/92; Beschluss vom 22.07.1992 – 2 StR 293/92; Beschluss vom 16.09.1992 – 2 StR 277/92; Beschluss vom 13.11.2007 – 3 StR 341/07.

  19. BGH, Beschluss vom 16.09.1992 – 2 StR 277/92.

  20. Gegebenenfalls können die Ausführungen des Kammergerichts Berlin im Beschluss vom 07.08.2000, 1 AR 862/00 – 5 Ws 552/00, 1 AR 862/00, 5 Ws 552/00 und des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts, im Beschluss vom 13.07.2007, 2 Ws 267/07 (147/07) so verstanden werden, dass eine negative Würdigung des Leugnens im Hinblick auf die Selbstbelastungsfreiheit untersagt sei. So heißt es z. B. im Beschluss des Kammergerichts, dem Täter könne „das Leugnen der Taten selbst nicht zum Vorwurf gemacht werden, weil zu seinem Verteidigungsverhalten in der Hauptverhandlung ihr Bestreiten gehört hatte.“ Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht hatte ähnlich ausgeführt: „Es kann aber einem Verurteilten, der durch ein fünfjähriges Strafverfahren hindurch eine Beteiligung an den angeklagten Taten überhaupt oder zumindest in dem ihm vorgeworfenen Umfang geleugnet hat, im Strafvollstreckungsverfahren nicht angelastet werden, wenn er dies auch weiterhin tut (so auch BVerfG NJW 1998, 2202). […]“ Andererseits kann damit aber auch nur gemeint sein, dass von einem ursprünglich leugnenden Angeklagten nach der Verurteilung nicht eine 180-Grad-Umkehr hin zum alles einräumenden Verurteilten erwartet werden kann.

  21. 2 StR 277/92.

  22. So die stark vereinfachte Herleitung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit. Näher hierzu Brettel [1] S. 269 ff.

  23. Zur Begründung vgl. Ausführungen unter B.4.d).

  24. § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO betrifft die erste richterliche Vernehmung, § 163a Abs. 3 StPO die Vernehmung durch die StA und § 163a Abs. 4 StPO die Vernehmung durch die Polizei.

  25. Die mündliche Anhörung des Verurteilten ist zwar gemäß § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend vorgeschrieben. Der Verurteilte kann aber ausdrücklich darauf verzichten, so dass die Anhörung in diesen Fällen nicht durchgeführt werden und er sich nicht äußern muss (vgl. Meyer-Goßner [5] § 454 Rn. 30).

  26. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.03.1998, 2 BvR 77/97: „Ein ärztlicher Erfahrungssatz, wonach aus dem Leugnen der Tat auf den Fortbestand der Gefährlichkeit geschlossen werden dürfe, ist nicht dargetan.“ Vgl. auch Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 17.08.1998, 1 Ws 155/98.

  27. 2 BvR 578/02, 2 BvR796/02.

  28. Beschluss vom 03.12.2007, 1 Ws 230/07.

  29. Beschluss vom 07.07.1988, 1 Ws (L) 8/88.

  30. Vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 26.05.1998 – 3 Ws 224/98: „Eine andere Bewertung [als die, dass das Leugnen nicht für eine negative Entlassungsentscheidung reicht] würde allerdings dann eingreifen, wenn sich aus dem steten Leugnen des Verurteilten – was ggf. mit sachverständiger Hilfe aufzuklären ist – Rückschlüsse auf seine nach wie vor bestehende Gefährlichkeit im Hinblick auf die Begehung gleichartiger oder anderer schwerer Straftaten ergeben sollten.“ Im Anschluss daran hat der Senat ausgeführt, dass dies bei Sexualstraftätern in der Regel der Fall sein werde.

  31. Beschluss vom 06.03.2000, 3 Ws 114/00.

  32. 1 AR 513/95 – 5 Ws 154/95, 1 AR 513/95, 5 Ws 154/95.

  33. Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren war erfolgt wegen fortgesetzten sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexueller Nötigung und mit Vergewaltigung.

  34. 2 Ws 26/88.

  35. Aus den Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg ist ein Fall zu erwähnen, in dem das leugnende Verhalten ebenfalls als verständlich und nicht schädlich für die Prognose angesehen wurde. Der Betreffende war wegen schweren Raubes in 18 Fällen neben einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren zur Sicherheitsverwahrung verurteilt worden. Er hatte die Freiheitsstrafe voll verbüßt und anschließend einen Teil der Sicherungsverwahrung, bevor diese 1994 zur Bewährung ausgesetzt wurde. Kurze Zeit nach seiner Entlassung beging er weitere drei Banküberfälle. Das Urteil lautete auf Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten sowie auf Sicherungsverwahrung. Die zur Bewährung ausgesetzte Sicherungsverwahrung aus dem ersten Urteil wurde zudem widerrufen. Momentan wird diese Sicherungsverwahrung vollstreckt. Mit der Vollstreckung der zweiten Sicherungsverwahrung ist noch nicht begonnen worden. Der Verurteilte hat die Begehung der drei Banküberfälle von Anfang an geleugnet und aus dem Vollzug heraus ein Wiederaufnahmeverfahren angestrebt. In Anbetracht der zwei verhängten Sicherungsverwahrungen war das für ihn die naheliegendste Hoffnung, in absehbarer Zeit seine Freiheit wieder zu erlangen. Wegen dieses nachvollziehbaren Motivs wurden aus dem Leugnen keine nachteiligen Schlüsse für die Prognose gezogen. Im Unterschied zu den zitierten Fällen des KG Berlin und des OLG Hamm gab es allerdings neben dem Leugnen nicht ausreichende positive, sondern eine hinreichende Anzahl negativer Tatsachen, die ein hohes Risiko weiterer erheblicher Straftaten vermuten ließen. Deshalb konnte die Sicherungsverwahrung nicht zur Bewährung ausgesetzt werden.

  36. Beschluss vom 11.03.1999, 3 Ws 218/99.

  37. So auch BVerfG, Beschluss vom 23.09.1991, 2 BvR 1327/89: „Bestehen Anhaltspunkte für eine Gefahr, dass der Verurteilte ein neues schweres Verbrechen begehen wird, so kommt eine Aussetzung nicht in Betracht. Insoweit geht der Zweifel an einer günstigen Prognose zu Lasten des Verurteilten.“ Vgl. weiter BGH, Beschluss vom 28.02.1990 – 3 StR 28/90, BGHR Strafsachen StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose: „Für die Annahme einer günstigen Prognose im Sinne des § 56 StGB genügt es nicht, dass diese sich nur nicht ausschließen lässt oder dass die Möglichkeit, der Angeklagte werde in Zukunft keine Straftaten mehr begehen, nicht verneint werden kann. Zweifel gehen zu Lasten des Angeklagten. Zwar darf die Bejahung einer günstigen Prognose auch nicht vom Vorhandensein eines hohen Wahrscheinlichkeitsgrads abhängig gemacht werden. Vielmehr reicht es aus, dass die Begehung weiterer Straftaten nicht wahrscheinlich ist, weil die Resozialisierung des Täters auch ohne Vollstreckung der Freiheitsstrafe aussichtsreich ist (vgl. BGH NStZ 1986, 27 m.w.N.). Dass die Strafkammer eine ihr zweifelhafte günstige Sozialprognose nicht ausschließen will, genügt dagegen nicht.“

  38. BVerfG, Beschluss vom 06.11.1974, 2 BvR 407/74; BGH, Beschluss vom 10.05.2000, 1 StR 617/99.

  39. Roxin [6] § 15 Rn. 41 mit Verweis auf BGHSt 14, 73. Vgl. auch Meyer-Goßner [5] § 261 Rn. 30 hinsichtlich der Schuldfähigkeit nach § 20 StGB

  40. So Stree in Schönke/Schröder [7] § 56 Rn. 16 bezogen auf die Prognose gem. § 56 StGB: „Eine günstige Prognose setzt voraus, dass ein künftiges (über Bewährungszeit hinaus; Bay VRS 62 37) straffreies Leben des Verurteilten zu erwarten ist. Erwartung bedeutet nicht Gewissheit oder sichere Gewähr (vgl. BGH 7 10). Sie lässt ein gewisses Risiko der Fehlprognose zu. Der Richter muss aber von der Wahrscheinlichkeit eines straffreien Lebens fest überzeugt sein (vgl. BGH NStZ 86, 27, NStZ-RR 05, 38, NStE 18: ausreichend die Überzeugung, dass weitere Straftaten nicht wahrscheinlich sind, NStZ 97, 594: Wahrscheinlichkeit straffreien Lebens größer als diejenige neuer Straftaten). Zweifel gehen zu Lasten des Verurteilten.“ Beck’scher Online-Kommentar [3] § 56 Rn. 3: „Die Wahrscheinlichkeit künftig straffreien Verhaltens muss zur Überzeugung des Gerichts feststehen, der Zweifelssatz gilt insoweit nicht (BGH StV 1992, 106; OLG Oldenburg NStZ-RR 2007, 197), …“ Brettel [1] S. 244: „Von der Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit kann der Richter also ebenfalls eine volle Überzeugung im Sinne des § 261 StPO erlangt haben. Auch hier trifft der Zweifelssatz auf nichts anderes als bei einer Tatsachenfeststellung.“

  41. Warum das so ist, wird meistens nicht näher begründet. Brettel [1] hat sich der Frage eingehend angenommen und führt dazu auf S. 249 aus: „Der in-dubio-Satz ist Teil der Unschuldsvermutung, die für den Bürger spricht, der verdächtig, aber nicht überführt erscheint. […] Die Unschuldsvermutung gilt aber nicht mehr für jene, deren Taten bereits rechtskräftig festgestellt sind. Im Gegenteil wird mit dem Urteil die Unschuldsvermutung zur Schuldvermutung, denn bis zur Rechtskraft des Urteils duldet der Staatsbürger, danach der Straftäter. Für jene lässt sich sogar eine Umkehrung des Zweifelssatzes denken, indem jeder auf die Gefährlichkeit bezogene Zweifel zu Gunsten der Bürger in Ansatz gebracht wird.“

  42. So offenbar Meyer-Goßner [5] § 261 Rn. 27: „Prognoseentscheidungen beruhen auf Wahrscheinlichkeitsfeststellungen. Daher gilt für sie der Satz in dubio pro reo nicht […]. Die gleichen Grundsätze gelten für die dem Urteil vorgelagerten Entscheidungen, bei denen eine Wahrscheinlichkeit genügt.“

Literatur

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Der Beitrag gibt den Inhalt eines Vortrages wieder, den die Verfasserin am 17.07.2009 beim 12. Tübinger forensisch-psychiatrischen Gespräch gehalten hat.

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Schneider, H. Das Leugnen der Tat bei der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4, 23–31 (2010). https://doi.org/10.1007/s11757-009-0028-9

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