UID:
kobvindex_JMB00020270
Format:
231 Seiten
ISBN:
3854524447
Content:
"Mörder bauten den zu Ermordenden ein Mausoleum", schrieb Egon Erwin Kisch 1946, nachdem er in Prag das "Jüdische Zentralmuseum" besichtigt hatte. Während des Zweiten Weltkrieges hatte die SS hier die weltweit wohl größte Sammlung an Judaica zusammengetragen und in den Räumlichkeiten des alten, bereits bestehenden Prager "Jüdischen Museums" sowie in den umliegenden Synagogen untergebracht. Unter ihrer Aufsicht wurden jüdische Wissenschaftler dazu gezwungen, in Kooperation mit den entsprechenden deutschen Stellen rund zweihunderttausend Objekte, die zumeist aus dem Raum Böhmen und Mähren stammten, zu archivieren sowie Ausstellungen zu organisieren. Mit jedem Deportationszug aus Böhmen und Mähren Richtung Polen schwoll der Besitzstand des Museums an. Kultgegenstände, Bücher und vieles andere waren "nutzlos" geworden, denn ihre Eigentümer lebten nicht mehr. Sie hatten jetzt nur noch "Museumswert". Selbst als die SS angesichts der sich abzeichnenden Niederlage des Dritten Reiches anderswo damit beschäftigt war, die Spuren ihres Mordens zu beseitigen - Massengräber wurden wieder geöffnet, Leichen verbrannt und die Todesfabriken zerstört - wurde in Prag weiter munter gesammelt, archiviert und Ausstellungen geplant. Viele Mythen und Gerüchte kursieren seither über die Geschichte einer der touristischen Hauptattraktionen der heutigen tschechischen Metropole. Grund genug für den Historiker Dirk Rupnow, einmal die Genese des "Jüdischen Zentralmuseum" näher unter die Lupe zu nehmen. Ziel des absurd erscheinenden Projektes war, so Rupnow: "Das Museum hätte nach dem 'Endsieg' gewissermaßen als eine Schule nationalsozialistischer Erziehung dienen sollen." Mittels Puppen, Dioramen und Installationen sollte das Leben der Juden vor ihrer gesellschaftlichen Assimilation folkloristisch, aber wenig schmeichelhaft szenisch dargestellt werden. "Die Nase gefällt mir nicht, sie muß um zwei, nein, um drei Zentimeter verlängert werden", wird ein Obersturmbannführer zitiert, als es um die Gestaltung einer Pessach-Szene durch einige Puppen ging. Rupnow vermittelt ein äußerst eindrucksvolles Bild dessen, was heute gern "Erinnerungskultur" genannt wird. Er beschäftigt sich ausführlich mit Kontinuitäten und Brüchen im jüdischen Gedächtnis und nationalsozialistischer Museumspolitik. Sein Fazit: "Das Jüdische Zentralmuseum bleibt scheinbar ein Paradox, das Paradox einer ausschließlich unter jüdischer Mitarbeit betriebenen, gleichzeitig aber antisemitisch funktionalisierten Einrichtung als Medium der Endlösung." Medium der Endlösung in der Tat: Die meisten jüdischen Mitarbeiter des Museums überlebten die Schoa nicht. (Ralf Balke)
Language:
German
Author information:
Rupnow, Dirk
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