UID:
kobvindex_JMB00013193
Umfang:
200 Seiten
ISBN:
3854524587
Serie:
Österreichische Exilbibliothek
Inhalt:
Zum Teil liegt der Lesegenuß bei Elbogen, wie bei Segal, an dem überraschenden, selten sarkastischen, meist erhellenden Esprit und Witz. Der Autor ist ein Vertreter eines literarischen Genres, das es fast nur in Wien gab, der Illustration der Weltkulturgeschichte durch die Anekdote. Elbogen vermag in nur wenigen Worten die Beschreibung eines Menschen derart auf den Punkt zu bringen, daß sich daneben andere, weitschweifige Beschreibungen ausnehmen wie die gestreckte Suppe angesichts des kleinen Brühwürfels, aus dem sie gewonnen wurde. "Dehydrieren" nannte Arno Schmidt diese Kunst. Peter Altenberg zum Beispiel beschreibt er als "Wiener Diogenes, dessen Tonne ein vom Boden bis zur Decke mit Fotos und Ansichtskarten seiner 'absoluten und einzige Ideale' tapeziertes Hotelzimmer" war. Und über Karl Kraus und seine Jünger (zu denen auch der Autor zählte) ist zu lesen: "Jedes Komma der von uns hochgehaltenen - etwas zu hoch gehaltenen - 'Fackel' wurde zum Evangelium." So beschreibt Elbogen seine Umwelt, macht sie oft wie fast nebenbei kenntlich, indem er wesentliche Züge der Leute (oder seines Umgangs mit ihnen) nur wenig übertreibt und eben deswegen exakt bleibt. Paul Elbogen war der Sohn eines berühmten Wiener Rechtsanwalts, so berühmt, daß ihn sogar Karl Kraus in seiner Fackel oft erwähnte, besonders seinen spektakulärsten Fall, die Verteidigung des wegen angeblichen 'Ritualmords' an zwei Mädchen verurteilten jüdischen Landstreichers Leopold Hilsner. Bekannt war der Vater auch für seine Affären, besonders mit der Schauspielerin Adele Sandrock, die nach ihm mit Schnitzler und Salten liiert war. Elbogen junior wurde am 11. November 1894 in Wien geboren und schnell getauft, um ihm die "Karriere zu erleichtern", wie der Vater sagte. Im Ersten Weltkrieg war er, wie er etwas beschämt schreibt, "leicht patriotisch desorientiert", schrieb danach Erzählungen, arbeitete als Journalist, gab (wie auch Walter Benjamin) bei Rowohlt erfolgreiche Briefanthologien heraus und schrieb erfolgreiche Porträtessays und Unterhaltungsromane. Nachdem die Nazis 1933 ihm Publikationsverbot erteilten, verließ er Deutschland und ging mit seiner Frau nach Italien, dann nach England, 1937 nach Wien, von dort wieder nach Italien, Frankreich und schließlich in die USA. Hier arbeitete er für den Film, traf alte Freunde wie Billy Wilder und Paul Kohner wieder, erst in den fünfziger Jahren mußte er sich andere Jobs suchen. 1987 starben er und seine Frau bei einem Verkehrsunfall in Kanada. Das Buch, das jetzt aus Elbogens Nachlaß vorgelegt wird, ist keine Autobiographie stricto senso, sondern, wie der Titel besagt, ein "Fleckerlteppich", in dem der Autor mal diese, mal jene Stelle betrachtet, hier und da einen Flecken zufügt, ganz wie es ihm gefällt. Nur ganz grob hält er sich an die Chronologie, beginnt mit einer Szene, in der er als matrosenanzugbewehrter Knabe neben dem Kaiser Franz Joseph stand, eines der ersten Aeroplane bewunderte und nebenbei den Kaiser bestaunte, der die Fliegerei schlichtweg für "unstatthaft" hielt. Diesen kleinen Jungen erklärt Elbogen für "angeblich identisch" mit dem alten Memoirenschreiber, und mit diesem ironischen Abstand betrachtet er seine eigene Geschichte, auch seine Leiden, ohne daß er sie irgendwie beschönigen würde. Elbogen hatte Umgang mit vielen Berühmtheiten seiner Zeit: Alban Berg, Korngold, Thomas Mann, Robert Neumann, Soyka, Schönberg, Altenberg - er kannte sie alle und lieferte auch selbst Anekdotenstoff zu dieser Kulturgeschichte Wiens, das von Musil (den er ebenfalls kannte) einmal als "Versuchsstation des Weltuntergangs" bezeichnet wurde. Vieles von dieser aufgeregten Zeit von 1900 bis in die dreißiger Jahre vermittelt der Autor durch Anekdoten, die auch nur zu deutlich die Überspanntheiten und die Gefahr des Absturzes erahnen lassen. "Man verzeihe mir diese Seitenfleckchen", schreibt er einmal. Von wegen verzeihen, viel zu wenig erzählt er. Ernster, aber trotzdem mit stilistischer Leichtigkeit und ohne Pathos beschreibt Elbogen auch die Zeit, als er in Frankreich festsaß, in einem Lager eingesperrt; er erzählt, wie er mit und ohne Paß auf die Ämter fährt, um Stempel, Visa, Bescheinigungen zu bekommen, die er für die Ausreise braucht. Man erkennt die Existenznot, erfährt auch von Menschen, die es nicht geschafft haben. Er erzählt von den vielen Zufällen, die ihn immer wieder gerettet haben, von den französischen Schlampereien, die auch hilfreich waren, von den kleinen Tyrannen, die es ihm schwer gemacht haben. Als er in Amerika eintrifft, hebt auch die Freiheitsstatue den Arm: "Es war nicht der Hitlergruß." Aus Hollywood berichtet Elbogen über die seltsamen Filmleute, von Buster Keaton bis Marilyn Monroe (deren ungekünstelten Charme er sehr bewunderte). So werden Elbogens Erinnerungen zu einer von Gedankenfracht und Gefühlsüberschwang unbehinderten Lektüre. Zu bemängeln ist nur, daß der Verlag versäumt hat, die vielen hübschen altmodischen Wörter und vor allem Austriazismen wie "fassadiert", "inkrustiert" , oder "konfiniert" zu erläutern, man außerdem das bißchen Französisch nicht übersetzt hat. Schlimmer wiegt, daß es zwar ein Namensregister gibt, aber nicht alle Namen auch aufgenommen wurden. Georg Patzer
Sprache:
Deutsch
Bookmarklink