S. Samerski (Hrsg.): Die Renaissance der Nationalpatrone

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Titel
Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert


Herausgeber
Samerski, Stefan
Erschienen
Köln u.a. 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
221 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Telesko, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Das Thema des vorliegenden Sammelbandes, der auf einem – um einige Beiträge ergänzten – Symposium des VII. ICCEES World Congress in Berlin (Juli 2005) beruht, ist die interdisziplinäre Analyse nationaler Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa – inzwischen ein zentrales Anliegen der Historiographie.1 Seit 1989 kann in fast allen ostmittel- und südosteuropäischen Ländern eine Intensivierung in der Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit beobachtet werden. Diesem Trend folgt auch der von Stefan Samerski herausgegebene Band, der mit dem „Revival“ des Heiligenkultes im 20./21. Jahrhundert ein Thema in den Blickpunkt nimmt, das in besonderer Weise mit frühneuzeitlichen Traditionen und der bereits dort zu beobachtenden „Konjunktur“ von Staats- und Landespatronen 2 in Verbindung steht. Nicht ohne Grund bezeichnen Stefan Samerski und Krista Zach in ihrer Einleitung Heilige und Geschichtshelden als – das Selbstbewusstsein von Gemeinwesen repräsentierende – „höchst anschauliche Kristallisationspunkte staatlicher und gesellschaftlicher Identität“ (S. 2). „Politische Heilige“ (S. 3), denen die Funktion von „Nationalpatronen“ zukommt, besitzen demnach in der Zeit nach der „Wende“ als ent- oder resakralisierte Symbolfiguren für die Konstruktionen nationaler Geschichte(n) eine fundamentale Bedeutung.

Die im vorliegenden Sammelband vereinigten Beiträge gehen von der Leitidee einer Wiederbelebung und Neudefinition der „Institution der politischen Heiligen bzw. Landespatrone nach 1990“ (S. 5) aus, wobei zum notwendigen historischen Gesamtbild die frühneuzeitlichen Bedeutungsebenen der „Landespatrone“ immer implizit mitgedacht werden müssen, zum Teil in den Ausführungen auch mitgeliefert werden (S. 7f.). Es ist ohne Zweifel ein Verdienst vorliegender Publikation, nicht nur allgemein bekannte Heiligenfiguren wie Adalbert, Alexsander Newskij, Wenzel, Kyrill und Method sowie Stephan den Heiligen in den Mittelpunkt von Einzeluntersuchungen gestellt zu haben, sondern diese um weniger prominente Persönlichkeiten wie (den erst 1992 kanonisierten) Stefan den Großen von Rumänien (analysiert von Krista Zach, S. 152–180) sowie Sava, Ivan von Rila und Kliment von Ohrid (bearbeitet von Stefan Rohdwald, S. 181–216) ergänzt und so das Panorama – auch in komparatistischer Hinsicht – beträchtlich erweitert zu haben. Die Präsentation und Repräsentation der genannten Heiligen wird im Kontext „Ostmitteleuropas“ behandelt, einer im Gefolge der Arbeiten von Arno Strohmeyer und Holm Sundhaussen als „Geschichtsregion“ bezeichneten Kategorie, die es ermöglicht, „Strukturmerkmalen langer Dauer“ (S. 11) [so Stefan Troebst in seinem Beitrag „Ostmitteleuropa – Region und Epoche“] nachzugehen.

Der auf diesen Beitrag folgende Artikel von Hans-Jürgen Becker („Heilige Landespatrone. Entstehung und Funktion einer kirchenrechtlichen Institution in der Neuzeit“) versucht der historischen Vorbedingung des Sammelbandes, der Funktion von Landespatronen in der Konstitution der „Einheit der Landesherrschaft“ (S. 31), nachzuspüren. Die darauf folgenden Fallbeispiele setzen hier zeitlich ein, doch gelingt es nicht immer, den Wandel des Heiligenbildes von der frühneuzeitlichen Funktionsvielfalt über die wiederholten Bruchstellen der Revolutionen und Reaktionen des 19. und 20. Jahrhunderts zu erklären. Nachteilig wirkt sich hier die Beschränkung auf einen hinsichtlich der Quellen textzentrierten Zugang aus, welcher den Notwendigkeiten der Medienvielfalt (bildende und darstellende Kunst, Libretti, Film etc.) nicht gerecht wird. Ein Blick auf die Denkmalproduktion hätte zum einen das Faktum unterstrichen, dass hier nur eine geringe Variationsbreite in den Typenbildungen existierte, zum anderen aber auch die ikonographische Auffächerung des Heiligenbildes in anderen Medien (Ikonen, Druckgraphik) umso schärfer hervortreten lassen. Die Veranschaulichung der Heiligengestalten im gesellschaftlichen Diskurs ist durchgehend ein Gegenstand der Auseinandersetzung aller Schichten mit zum Teil stark differierenden Vorstellungen. Frithjof Benjamin Schenk macht diesen Sachverhalt der „Pluralisierung der Erinnerung“ (S. 49) am Beispiel Aleksandr Newskijs deutlich, dessen Person im Laufe der Zeit verschiedenen Codierungen der Resakralisierung und Profanierung unterworfen wurde. Pluralisierung kann wie im Beispiel des hl. Adalbert von Prag auch bedeuten, dass sich – für verschiedene Territorien „zuständige“ – Heilige (Adalbert, Stanislaus und Hedwig) ab einem gewissen Zeitpunkt in einer Konkurrenzsituation befanden.

In diese komplexe Situation einer Heiligenkultur im Umbruch ist auch Maria einzubeziehen, deren Stellung Agnieszka Gąsior in ihrem Beitrag „Die Gottesmutter. Marias Stellung in der religiösen und politischen Kultur Polens“ (S. 77–98), der bis zu den aktuellen Fragen in Zusammenhang mit „Radio Maryja“ reicht, theologisch unscharf als „multivalente Symbolgestalt“ (S. 77) bezeichnet. Gerade am Beispiel der Integrationsgestalt Maria und ihrer Vereinnahmung durch unterschiedliche Länder, Herrscher (z.B. Stephan) und soziale Schichten seit der Gegenreformation wird die Problematik der inhaltlichen Codierung bestimmter Personen deutlich. Dieses Faktum tritt besonders bei Persönlichkeiten auf, die, wie etwa der hl. Wenzel von Böhmen, einerseits aufgrund ihrer Biographie ein multifunktionales „Image“ aufweisen, sich aber andererseits in ständiger Konkurrenz mit anderen nationalen Identifikationsgestalten (z.B. Jan Hus) befanden. Die mittelalterliche Förderung des Wenzelkultes geschah vor dem Hintergrund der Funktionen des Heiligen als Reichs- und Nationalheiliger. Aus dieser spezifischen Konstellation entwickelte sich – bereits ab dem 16. Jahrhundert – eine äußerst vielschichtige Ikonographie im Spannungsfeld von Herrscher („Königsheiliger“), Krieger, Märtyrer und Förderer der Evangelisierung 3, die ihr Pendant im „vieldeutigen Patronat“ (S. 101f.) Wenzels besitzt, wie Samerski in seinem Beitrag „Wenzel. Altes und neues Staatssymbol der Böhmischen Länder“ (S. 99–115) ausführt. Hussiten, Lutheraner und die Jesuiten förderten das Andenken an den hl. Wenzel, das sowohl im Zeichen der habsburgischen Gegenreformation als auch des böhmischen Landespatriotismus stand, gleichermaßen. Die außerordentliche inhaltliche Ausdehnung des „Images“ eines Heiligen (dies ist in ähnlicher Weise beim hl. Stephan zu beobachten, dessen Heiligen- und Königsfunktion bzw. habsburgische und antihabsburgische Bedeutungsfacetten in Juliane Brandts Beitrag „Stephan der Heilige. Eine Rockoper und ihre Lesarten“ [S. 128–151] beleuchtet werden) konnte einerseits dazu führen, dass das Gedächtnis an den hl. Wenzel in vielen Teilen der Bevölkerung gleichermaßen – zum Teil bis zur Beliebigkeit (S. 115) – präsent blieb, hatte andererseits aber zur Folge, dass die dem Heiligen inhärente Vielschichtigkeit von unterschiedlichen Parteien beansprucht werden konnte. Dieser „multifunktionale“ Typus eines Heiligenbildes befindet sich in deutlichem Gegensatz zu jenen Persönlichkeiten, die von Beginn an mit einer fest umrissenen Funktion ausgestattet waren, welche, wie etwa bei den Heiligen Kyrill und Method, deren Tradition in Politik und Geisteswelt sowie Instrumentalisierung in der Slowakei Eva Kowalská untersucht (S. 116–127), mit kultureller Missionsarbeit verbunden war.

Der vorliegende Sammelband entwickelt vor dem Hintergrund der jüngeren historischen Umbrüche in Ostmitteleuropa ein breites historisches Panorama. Eine wesentliche Aussage der Beiträge besteht in einer Veranschaulichung der Ausdifferenzierungen des modernen Kultes der „Nationalpatrone“, die generalisierend mit den Leitbegriffen Sakralisierung und Profanisierung beschrieben werden können. Wenn Personalisierung als eine bestimmende Funktion der Reduktion von Komplexität im Spannungsfeld von Staat, Herrschaft und Volk angesehen werden kann, so fungiert der vorliegende Sammelband zugleich als instruktive Grundlage, um einer allzu vereinfachenden Sicht der Dinge entgegenzuwirken.

Anmerkungen:
1 So beschäftigte sich erst jüngst das neunte Treffen des schweizerischen „Forums Ostmittel- und Südosteuropa“ (FOSE) unter dem Titel „Umkämpfte Vergangenheit“ mit „Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik in Ostmittel- und Südosteuropa“ (St. Gallen, 3. November 2007).
2 Diesen Aspekt der österreichischen Frömmigkeitspraxis untersuchte Samerski in seinem jüngst erschienenen Beitrag „Hausheilige statt Staatspatrone. Der mißlungene Absolutismus in Österreichs Heiligenhimmel“, in: Mat’a, Petr; Winkelbauer, Thomas (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 24), Stuttgart 2006, S. 251–278.
3 Vgl. Telesko, Werner, Zur Ikonographie des hl. Wenzel von Böhmen, in: Seipel, Wilfried (Hrsg.), Rom in Wien – Angelo Carosellis Bilder im Kunsthistorischen Museum (Kunsthistorisches Museum Wien), Wien 2007, S. 10f.

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